Politik Archive - Schaffhauser AZ https://www.shaz.ch/tag/politik/ Die lokale Wochenzeitung Wed, 24 Sep 2025 16:06:51 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.4.7 https://www.shaz.ch/wp-content/uploads/2018/11/cropped-AZ_logo_kompakt.icon_-1-32x32.jpg Politik Archive - Schaffhauser AZ https://www.shaz.ch/tag/politik/ 32 32 Erich Schlatter ist frei https://www.shaz.ch/2025/09/25/erich-schlatter-ist-frei/ Thu, 25 Sep 2025 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10127 Überraschung am Obergericht: Nach Jahren hinter Panzerglas wird der Systemsprenger per sofort entlassen. Wie soll es nun weitergehen?

The post Erich Schlatter ist frei appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Überraschung am Obergericht: Nach Jahren hinter Panzerglas wird der Systemsprenger per sofort entlassen. Wie soll es nun weitergehen?

Eva Bengtsson spricht, als hielte sie eine Grabrede. Gerade hat das Obergericht über die Zukunft des Schaffhauser Systemsprengers Erich Schlatter beraten. Nun verliest Richterin Bengtsson das Urteil und kann nicht verhehlen, dass sie gern etwas anderes verkündet hätte. Sie sagt zu Schlatter: «Sie sind jetzt ein freier Mann.»

An diesem Dienstag im Herbst 2025 siegen die nackten Paragrafen.

Der 76-jährige Erich Schlatter ist ein Systemsprenger. Schon 1964 wurde er erstmals als schizophren diagnostiziert. Seither füllt sein Leben ganze Aktenregale in den Büros von Psychiatriekliniken, Strafverfolgungsbehörden, Fürsorgeeinrichtungen und Gerichten. Der Staat glaubt, der hochintelligente Rohköstler sei eine akute Gefahr für die Gesellschaft, deshalb haben Gerichte schon vor Jahren eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet. Sie haben Schlatter bis auf Weiteres weggesperrt und erlaubt, dass man ihn gegen seinen Willen mit Neuroleptika behandelt. (Die AZ hat immer wieder über Schlatter berichtet, zuletzt in der Ausgabe vom 19. Dezember 2024).

Doch die sogenannte «kleine Verwahrung» war juristisch stets umstritten. Eine solche Massnahme darf nur angeordnet werden, wenn ein psychisch kranker Straftäter grundsätzlich als «therapierbar» gilt – wenn er in der Massnahme also so weit resozialisiert werden kann, dass er nicht mehr als Gefahr gilt. 

Die Zwickmühle im Fall Schlatter: Im Grunde ist klar, dass er sich nicht mehr gross verändern wird. Schlatter ist überzeugt davon, dass er nicht krank ist; er verweigert jegliche Therapieversuche und ist fest entschlossen, seine antipsychotischen Medikamente abzusetzen, sobald man ihn freilässt.

Das ist nun geschehen. Seit Dienstag ist Erich Schlatter zurück in der Freiheit. Wie schnell die Lage dort eskalieren kann, zeigte sich vor zwölf Jahren.

Wenn das System kollabiert

2013 lebte Schlatter wegen verschiedener Gewaltdelikte offiziell im Rahmen einer «kleinen Verwahrung» in einer geschlossenen Psychiatrieklinik in der Schweiz. Jedoch war er ein paar Jahre zuvor nach Spanien geflüchtet, wo nach einiger Zeit wegen Mordverdachts gegen ihn ermittelt wurde. Aus Mangel an Beweisen stellte die Staatsanwaltschaft in Valencia das Verfahren jedoch ein und Schlatter wurde in die Schweiz ausgeliefert.

Nun also, 2013, musste das Schaffhauser Kantonsgericht entscheiden, ob die «kleine Verwahrung» immer noch verhältnismässig ist. Und das Gericht kam zum Schluss, Schlatter sei «nicht therapierbar»; also müsse die stationäre therapeutische Massnahme per sofort beendet und Schlatter entlassen werden.

Das Urteil war eine Sensation. Und der Richter war sich bewusst, dass der Entscheid Konsequenzen haben würde: «Es ist anzunehmen, dass Erich Schlatter in Situationen kommt, in denen er sich zu etwas hinreissen lässt.» Wie schnell das System unter diesem Systemsprenger kollabieren würde, hatte jedoch kaum jemand vermutet.

Schlatter setzte sofort die Medikamente ab und zog wie ein Berserker durch die Schweiz, lieferte sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, beging ein Delikt nach dem anderen. Als man ihn notfallmässig in die Psychiatrieklinik einweisen wollte, schlug er mit blossen Händen die Sicherheitstür einer Isolierzelle kaputt. Im Gefängnis verschmierte er die Wände seiner Zelle mit Kot. Selbst im Hochsicherheitstrakt der Klinik Rheinau war er bald nicht mehr willkommen. Ein Sondersetting bei einem Trafohaus am Schaffhauser Stadtrand, das die Stadt für ihn bereitstelle, verwüstete er innert Tagen und zündete es an.

Ruhe kehrte erst ein, als man in der Klinik Breitenau eine ganze Station für Schlatters Bedürfnisse umbaute, ihn wieder mit Neuroleptika ruhigstellte – und das Kantonsgericht 2015 schliesslich doch wieder eine «kleine Verwahrung» anordnete.

Erich Schlatter 2023 in Bauma. Foto: Robin Kohler

Diesmal argumentierte das Gericht, dass «therapierbar» nicht bedeuten müsse, dass eine Heilung der psychischen Krankheit möglich sei – Erich Schlatter gelte auch dann als therapierbar, wenn sich durch die Massnahme lediglich seine Gefährlichkeit reduziere. 

Es war eine juristisch fragwürdige Argumentation. Aber offenbar einigte sich der Staat stillschweigend darauf, dass es keine bessere Lösung gibt, als Schlatter wieder wegzusperren.

«Die Massnahme ist aussichtslos»

Schlatters Anwalt Martin Schnyder jedoch war anderer Meinung. Und er ist es heute noch. Schnyder ist der Ansicht, sein Mandant müsse ohne Auflagen entlassen werden, und zwar sofort. Dass Schlatter eingesperrt ist, verstosse gegen die Menschenrechte. Deshalb veranlasste Schnyder in den vergangenen Jahren immer neue Gerichtsverhandlungen, bei denen stets dieselbe Frage verhandelt wurde: Muss man Schlatter freilassen?

Bisher entschied das Gericht jeweils, die «kleine Verwahrung» um ein paar Jahre zu verlängern. Erst im Dezember 2024 argumentierte das Schaffhauser Kantonsgericht, durch die Massnahme und die Medikamente sei «eine wesentliche Entdynamisierung» der Schizophrenie möglich, deshalb müsse Erich Schlatter eingesperrt bleiben. 

Nun aber, an diesem Dienstag im Herbst 2025, entscheidet das Obergericht anders. 

Grund dafür ist ein neues, 127-seitiges Gutachten, das der AZ vorliegt. Der forensische Psychiater Stefan Lanquillon geht darin zwar – im Falle einer Entlassung – von einem ähnlich hohen Rückfallrisiko für Delikte aus wie frühere Gutachter:innen. Er sieht vor allem ein «relevantes Risiko» dafür, dass Erich Schlatter im Winter Brände legt, um sich zu wärmen. (Nach seiner Entlassung 2013 war Schlatter in Keller in der Schaffhauser Altstadt eingestiegen, hatte dort Feuer entfacht und ganze Häuser ausgeräuchert). Gutachter Lanquillon macht aber auch unmissverständlich klar, dass die therapeutischen Möglichkeiten in der stationären Massnahme «sowohl in psychopharmakologischer, psychiatrischer als auch psychotherapeutischer Hinsicht ausgeschöpft» seien.

Das Verdikt ist so klar, dass sogar der leitende Staatsanwalt Peter Sticher, der bis anhin stets für eine Verlängerung von Schlatters Massnahme argumentiert hatte, nun gegenüber der AZ sagt: «Nach dem neusten Gutachten gibt es keine zwei Meinungen mehr. Die Massnahme ist aussichtslos.» So bleibt ihm an diesem Dienstag vor dem Obergericht denn auch nichts anderes übrig, als Schlatters Entlassung zu beantragen.

Die drei Richter:innen um Eva Bengtsson hatten keine Wahl. Ihnen blieb nur, Schlatter zu ermahnen: «Wir hoffen, dass Sie mit dieser Freiheit umzugehen wissen.»

Eine Zukunft in Frankreich?

Wie es nun weitergehen soll, ist unklar.

Erich Schlatter selbst hat einen Plan: Er will zu einem Mann namens Bernard Mercier ziehen, der in einer französischen Kleinstadt westlich von Genf lebt. Mercier und Schlatter lernten sich in den 1980er-Jahren auf einem Schloss in Frankreich kennen, wo der schillernde Rohkostguru Guy-Claude Burger mit seinen Jünger:innen lebte und eine eigentümliche Ernährungstherapie praktizierte. Die Gemeinschaft wurde später vom französischen Staat offiziell als Sekte taxiert, mehrere Menschen verloren auf dem Schloss wegen dubioser Heilsversprechen ihr Leben, und Guy-Claude Burger selbst wurde wegen verschiedener schwerer Gewaltverbrechen zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Bernard Mercier jedoch führt Burgers Erbe bis heute weiter.

Medizinische Fachleute, die regelmässig mit Erich Schlatter zu tun haben, zweifeln jedoch daran, dass das Zusammenleben von Bernard Mercier und einem Erich Schlatter ohne Neuroleptika funktionieren kann. Sie sind sich seit Jahren einig, dass Schlatter völlig unrealistische Vorstellungen seiner eigenen Fähigkeiten habe. Im hoch spezialisierten geschlossenen Pflegezentrum Bauma, in dem er bis zu diesem Dienstag lebte, war der Alltag trotz der gut eingestellten Neuroleptika, die ihm alle zwei Wochen gespritzt werden, ein steter Kampf wie mit einem Kleinkind. 

Und jetzt soll Erich Schlatter also wieder ohne Medikamente und ohne Betreuung von seiner AHV-Rente in Freiheit leben – ähnlich wie damals nach seiner Entlassung 2013. 

Vermutlich wird man in Schaffhausen noch von ihm hören.

Der Journalist Marlon Rusch hat über das Leben von Erich Schlatter ein Buch geschrieben. «Gegenterror» ist im Verlag am Platz erschienen und im Buchhandel erhältlich.

Wir schenken Dir diesen Artikel. Aber Journalismus kostet. Für nur 40 Franken gibt es die AZ probeweise für drei Monate: Hier geht es zum Probe-Abo. Oder zahl uns via Twint einen Kafi:

The post Erich Schlatter ist frei appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Angst vor Kahlschlag https://www.shaz.ch/2025/08/07/angst-vor-kahlschlag/ Thu, 07 Aug 2025 09:27:22 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9912 Auf dem Geissberg regt sich Unmut. Bewohner:innen fühlen sich zu wenig über die Baupläne beim Spital informiert – und fürchten um ihren Wald. Vier Pensionierte stehen im waldigen Pärkli des Kantonsspitals und machen ihrem Ärger Luft. «Das sind doch Buebetrickli», sagt jemand, ein andermal ist von «Behördenformalismus» die Rede. Immer wieder kommt es zu Kopfschütteln, […]

The post Angst vor Kahlschlag appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Auf dem Geissberg regt sich Unmut. Bewohner:innen fühlen sich zu wenig über die Baupläne beim Spital informiert – und fürchten um ihren Wald.

Vier Pensionierte stehen im waldigen Pärkli des Kantonsspitals und machen ihrem Ärger Luft. «Das sind doch Buebetrickli», sagt jemand, ein andermal ist von «Behördenformalismus» die Rede. Immer wieder kommt es zu Kopfschütteln, Kartenauszüge werden auf den runden Holztisch in ihrer Mitte gelegt. Die vier Pensionierten sind vom Quartierverein Geissberg und es geht um das Spitalareal.

Der Unmut der Quartierbewohner:innen hat sich über längere Zeit aufgebaut. Seit weit mehr als zehn Jahren läuft das Hin und Her um den Neubau des Spitals. Durch mehrere Projektstopps, Spitalratswechsel, juristische Tauziehen und vor allem anhaltende Finanzierungsprobleme schleppte sich das Projekt dahin. Nun will der Kanton mit anpacken, der Kantonsrat hat sich geschlossen hinter eine 130 millionenschwere Finanzspritze für das Projekt (70 Mio. à fonds perdu, 60 Mio. Darlehen) gestellt. Voraussichtlich im November kann das Volk ja zu seinem neuen Spital sagen. Was lange wie ein Luftschloss über dem Geissberg und wie ein Damoklesschwert über dem Spitalrat schwebte, könnte nun endlich Realität werden. Der grosse Schritt steht bevor. Doch die Quartierbewohnerinnen fühlen sich aussen vor gelassen.

Salamitaktik am Wald

Für die Leute vom Geissberg war die jahrelange Geschichte des Spitalneubaus nicht nur unübersichtlich, sondern auch verunsichernd: Sie wissen nicht, wie sich ihr Quartier verändern wird. Denn nur eines ist klar: Die baulichen Umwälzungen werden massiv sein.

Die Vertreter:innen des Quartiervereins – Dora Dickenmann, Urs Huber-Wäspi und Hansjörg Baumann vom Vorstand und Mitglied Heinz Lacher – äussern dabei weniger Besorgnis um das, was kommt. Sondern um das, was ihnen genommen wird: Sie fürchten um ihren Wald.

Was ihr Misstrauen erregte: 2017 wurde vor dem Spitalatbau an der Grafenbuckstrasse Wald gerodet, um 85 temporäre Parkplätze zu schaffen. 2024 wurden entlang der J.J. Wepfer-Strasse Bäume gefällt und durch 63 temporäre Parkplätze ersetzt. Auch der Bau des bereits ausgesteckten Spital-Parkhauses wird Bäume kosten. Ebenso die neue Akutpsychiatrie, die auf den Geissberg verlegt werden könnte – dorthin, wo einst Aufforstungen angedacht waren. Und in der Tat beträchtlich: eine Rodungsfläche von 18513 Quadratmetern war ursprünglich für den Spitalcampus vorgesehen, so gross also wie fast drei Fussballfelder.

Heinz Lacher, Hansjörg Baumann, Dora Dickenmann und Urs Huber-Wäspi vom Quartierverein Geissberg im Spitalpark. Foto: Peter Pfister
Heinz Lacher, Hansjörg Baumann, Dora Dickenmann und Urs Huber-Wäspi vom Quartierverein Geissberg im Spitalpark. Foto: Peter Pfister

Heinz Lacher ist beim Treffen im Pärkli des Kantonsspitals der Wortführer. Der pensionierte Hochbautechniker setzt sich akribisch mit dem Areal auseinander. Bei der Stadt hat er bereits zwei Einwendungen gegen deren Zonenplan gemacht. Auch der Kantonsregierung schaut er auf die Finger: Er gelangte erfolgreich an Kantonsrat Patrick Portmann, der eine kleine Anfrage zu den Waldrodungen einreichte. Mit den Antworten der Regierung ist Heinz Lacher nur bedingt zufrieden. Seiner Meinung nach nimmt es der Kanton zu wenig genau beim Waldgesetz und treibt die Ersatzaufforstungen nicht schnell genug voran. Störend für Lacher: Die Parkplätze auf dem gerodeten Waldstück beim Spitalaltbau sollen zwar wieder rückgebaut werden – die Fläche wird laut Regierung aber «nicht wieder an Ort und Stelle aufgeforstet», sondern bleibt Bauzone. Aufgeforstet werden soll anderswo. Eine der vorgesehenen Ersatzflächen im weit entfernten Eschheimertal hat Heinz Lacher sogar auf eigene Faust überprüft – und findet persönlich, dass da bereits Wald sei, und es kaum etwas aufzuforsten gebe. Er ist ausserdem überzeugt: Für die kürzlichen Fällungen an der J.J. Wepferstrasse hätte es eine kantonale Bewilligung gebraucht, weil die Bäume älter als 20 Jahre waren.

Kantonsförster Urban Brütsch verneint dies auf Anfrage der AZ: Bei der Fläche handle es sich rechtlich nicht um Waldareal, das Alter der Bäume für sich genommen sei nicht ausschlaggebend.

Nichtsdestotrotz: Heinz Lacher wittert eine Salami-Taktik, mit welcher der Kanton den Geissbergwald abtranchiert und zerstückelt, um Bauland zu generieren und dem Waldgesetz durch Umzonung auszuweichen.

Zu wenig einbezogen

Was dabei vor allem klar wird: Bei Anwohnenden des Geissbergs herrscht Misstrauen gegenüber dem Vorgehen der Behörden. Das hat eine Vorgeschichte: Der Abriss des Pflegezentrums 2024 hat eine grosse Narbe hinterlassen. Die Quartierbewohnerinnen und andere Teile der Bevölkerung fühlten sich davon verschaukelt, wie die Stadt das Areal des ehemaligen Pflegezentrums vom Kanton übernahm – nämlich abgerissen. Was den Quartierverein an dem Abbruch besonders störte: Dass nicht nur das grosse Gebäude, sondern gleich das gesamte Areal auf Vorrat dem Erdboden gleichgemacht wurde. Auch den beliebten Park mit Pavillon, Froschteich und alten Bäumen konnten die Bewohner:innen nicht vor den Baggern retten.

Die Geschichte des Pflegezentrums
2020 sagte das Stimmvolk Ja zum Umzug der Pädagogischen Hochschule in die Kammgarn und besiegelte damit zugleich ein Tauschgeschäft: Die Stadt verkaufte ihre Kammgarn-Etagen an den Kanton und konnte ihm im Gegenzug das Pflegezentrum abkaufen – und zwar, und das war nicht allen bewusst, definitiv rückgebaut.

Das Areal liegt heute brach und dient der Stadt als Baulandreserve. Wie die Kantonsregierung nun publik machte, hat die Stadt das Areal vorübergehend an das Kantonsspital vermietet. Das Kantonsspital bestätigt auf Anfrage der AZ, dass es während der Bauarbeiten temporär als Parkplatz sowie als Aushubdeponie genutzt werden soll.

Der Kampf um das Pflegezentrum-Areal hat den Quartierverein Geissberg politisiert. Dora Dickenmann, Co-Präsidentin des Quartiervereins, sagt: «Es ist so viel passiert. Wir sehen unser Naherholungsgebiet gefährdet.» Sie und ihre drei Kollegen sagen, es gehe ihnen nicht darum, den Neubau in Frage zu stellen, im Gegenteil: «Der Neubau ist – soviel wir wissen – im Quartier unumstritten», so Dickenmann. Was sie kritisieren, ist die Informationspolitik der Behörden.

Stadt, Kanton und Spitäler würden sich die Verantwortung über die Zuständigkeit gegenseitig zuschieben, so Dora Dickenmann: «Man hat nicht wirklich das Gefühl, dass sie an einem Strang ziehen.» Vorstandskollege Hansjörg Baumann ergänzt: «Wir müssen den Behörden ständig Informationen aus der Nase ziehen und es fühlt sich an, als würden wir immer hinterherhinken. Wir sind Laien, wir wissen nicht, wann es sinnvoll ist, dass wir einbezogen werden.»

Heinz Lacher zieht einen historischen Vergleich: Als Heinrich Moser Mitte 19. Jahrhunderts seinen Damm bauen wollte, habe er die Leute mitgenommen. Er habe ihnen aufgezeigt, wieso sein monumentales Bauprojekt die Schaffhauser Industrie ankurble – und habe nicht versucht, etwas rein formalistisch durch die Hintertür umzusetzen.

Was also wollen die Leute vom Geissberg?

Heinz Lacher sagt: «Wir wollen auf Augenhöhe informiert werden. Wir wollen sehen, dass man so wenig wie möglich rodet und so viel wie möglich aufforstet. Die Spitalneubauten sollen massgeschneidert in den Wald gesetzt werden, so dass es sich weiterhin um ein Waldspital handelt.» Kein Roden auf Vorrat also und eine transparente, proaktive Information. Alles andere sorge für Zweifel daran, dass es auf dem Geissberg ein Gesamtkonzept in Einklang mit der Natur gebe, sagt Heinz Lacher.

Das Baugesuch für den Spitalneubau soll im September 2025 eingereicht werden, wie die Spitäler Schaffhausen gegenüber der AZ mitteilen. Darin enthalten müssen auch die nun geplanten Rodungen und Aufforstungen sein. Der Start der baulichen Erneuerung ist für Juni 2026 geplant.

Kantonsrat Patrick Portmann plant nun eine Volksmotion «kein Kahlschlag auf dem Geissberg». Sie ist ein Warnschuss, dass man den Zuständigen bei der Planung des Spitals genau auf die Finger schaut.

The post Angst vor Kahlschlag appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
«Es gab nichts zu entscheiden» https://www.shaz.ch/2025/07/27/es-gab-nichts-zu-entscheiden/ Sun, 27 Jul 2025 09:17:02 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9802 Schaffhausen hat als erster Kanton seine Brustkrebs-Vorsorge sistiert und sorgtedamit für Empörung. Gesundheitsdirektor Marcel Montanari nimmt Stellung. Vergangene Woche löste eine Mitteilung des Schaffhauser Departements des Innern schweizweit Schlagzeilen aus: Der Start der Brustkrebsvorsorge solle vorerst auf Eis gelegt werden. Ein kurzer Rückblick: Der Regierungsrat hat zum 1. Juli 2024 eine Leistungsvereinbarung mit der Krebsliga […]

The post «Es gab nichts zu entscheiden» appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Schaffhausen hat als erster Kanton seine Brustkrebs-Vorsorge sistiert und sorgte
damit für Empörung. Gesundheitsdirektor Marcel Montanari nimmt Stellung.

Vergangene Woche löste eine Mitteilung des Schaffhauser Departements des Innern schweizweit Schlagzeilen aus: Der Start der Brustkrebsvorsorge solle vorerst auf Eis gelegt werden. Ein kurzer Rückblick: Der Regierungsrat hat zum 1. Juli 2024 eine Leistungsvereinbarung mit der Krebsliga Ostschweiz zur Organisation eines Mammographie-Screenings abgeschlossen, so wie es bereits in den meisten Kantonen besteht. Dadurch hätten sich Frauen ab 50 Jahren neu alle zwei Jahre praktisch kostenfrei auf Anzeichen von Brustkrebs untersuchen lassen können. Denn dieser ist nach wie vor die häufigste und tödlichste Krebsart von Frauen in der Schweiz.

Der Start des Screening-Programms stand in Schaffhausen unmittelbar bevor. Demnächst wäre ein erster Teil der Frauen im Alter zwischen 50 und 74 angeschrieben und für einen Mammographie-Termin aufgeboten worden. Ab Oktober hätten sie sich untersuchen lassen können. Doch daraus wird nun nichts. Als erster Schweizer Kanton gab Schaffhausen seinen Plan auf. Das sorgte für grosse Empörung: Innert 24 Stunden unterschrieben über 5000 Personen eine Petition der SP gegen den Entscheid, mittlerweile sind es über 10 000 Unterschriften aus allen politischen Spektren bis in die SVP.

Der öffentliche Druck ist gross. Gesundheitsdirektor Marcel Montanari meldet sich aus den Ferien zurück und erklärt sich im Telefongespräch.

Marcel Montanari, Schaffhausen kommt als erster Kanton vom Start seines Brustkrebs-Früherkennungsprogramms ab. Wie kam es zum Entscheid?

Marcel Montanari Ausgangspunkt ist der Wechsel des Tarifsystems auf Bundesebene. Ab Januar 2026 werden – gemäss aktuellem Stand – die Mammographie-Screenings von den Krankenkassen reduziert vergütet. Das ist vor allem für die Krebsliga Ostschweiz, mit der wir zusammenarbeiten, ein Problem: Sie kann mit den gekürzten Beiträgen ihr Screening-Programm «donna» nicht mehr finanzieren, das wir in Schaffhausen auch einführen wollten.
Die Krebsliga hat uns und anderen Kantonen deshalb auf Ende dieses Jahres den Vertrag gekündigt. Alle beteiligten Partner – die Krebsliga Ostschweiz, der Kanton Schaffhausen und die Spitäler Schaffhausen – waren sich einig, dass es keinen Sinn macht, in den verbleibenden Monaten ein Programm aufzuziehen, dessen Finanzierung ab dem neuen Jahr nicht gesichert ist.

Haben Sie diesen Entscheid im Gesamtregierungsrat gefällt?

Nein, bis jetzt haben wir ja nur die Kündigung der Krebsliga erhalten und entgegengenommen. Wenn sich mögliche Lösungen abzeichnen, werden wir diese im Gesamtregierungsrat besprechen.

Die Kündigung der Krebsliga ist also Ende Juni beim Gesundheitsamt hereingeflattert und die Sistierung des Programmes war nur die logische Folge davon. So Ihr Standpunkt, richtig?

Genau, ja.

Hätte die Krebsliga Ihrer Meinung nach anders vorgehen müssen?

Wir bedauern sehr, dass die Krebsliga uns gekündigt hat, aber ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Sie ist konfrontiert mit dem neuen Tarifsystem und dadurch effektiv in einer anspruchsvollen Situation. Durch die sechsmonatige Kündigungsfrist kam sie unter Zeitdruck und musste uns Ende Juni kündigen, weil ihre finanzielle Situation ab dem neuen Jahr ungeklärt ist.
Wir hätten das Programm «donna» gerne mit ihr gestartet und wären auch weiterhin an einer Zusammenarbeit interessiert.

«Wir haben uns für eine transparente Kommunikation entschieden.»

Marcel Montanari

Wäre der Regierungsrat bereit, den fehlenden Betrag vorübergehend aus Kantonskasse zu finanzieren?

Laut ersten Einschätzungen des Schaffhauser Kantonsarztes fehlen mindestens 250 000 Franken.
Den Betrag kann ich noch nicht bestätigen. Wir sind offen, verschiedene Varianten zu prüfen und allenfalls einen grösseren Beitrag auf Kantonskosten zu beantragen.
Das Ziel ist, dass wir das Screening einführen können. Das haben wir auch in unserer Medienmitteilung geschrieben.

Das Problem der Vergütung hat sich schon länger abgezeichnet. Wieso konnten Sie mit der Krebsliga nicht rechtzeitig und vorausschauend in Verhandlung treten und ihr den fehlenden Betrag in Aussicht stellen?

Dafür wurden wir zu kurzfristig von der Krebsliga informiert. Es kommt auch darauf an, was die anderen Kantone machen, die mit dem Programm «donna» zusammenarbeiten und ob die Krebsliga dieses ab nächstem Jahr überhaupt weiterführen kann.

In Glarus ist der Fall gleich gelagert wie in Schaffhausen, auch dort war der Start eines Früherkennungsprogramms mit der Krebsliga Ostschweiz auf Januar 2026 geplant. Dort teilt der Kanton mit, man müsse nun über die Bücher, der definitive Entscheid über die Weiterführung des Programmes sei noch nicht gefallen.

Ich weiss nicht, in welcher Phase sich Glarus befindet.

Kantonsratsmitglieder von der SP bis zur SVP kritisieren, der Regierungsrat hätte mit der Entscheidung keinen Alleingang machen dürfen, sondern hätte die Gesundheitskommission miteinbeziehen sollen.

Sobald wir eine Vorlage haben, die wir in die Gesundheitskommission bringen können, machen wir das gerne. Doch zum jetzigen Zeitpunkt gab es noch nichts zu entscheiden.

In der Bevölkerung hat die Mitteilung des Departements des Innern Empörung ausgelöst. Es entstand der Eindruck, dass der Regierungsrat das Programm nun einfach aufgeben will wegen eines vergleichsweise läppischen fehlenden Geldbetrages.

Wir haben uns für eine frühzeitige und transparente Kommunikation entschieden. Und das bedeutet, dass man die Öffentlichkeit bereits in einer Situation informiert, in der man vielleicht noch keine Lösung präsentieren kann, sondern noch verschiedene Wege prüft. Ich finde das nach wir vor richtig.

Sie wollten also nicht suggerieren, man habe die Brustkrebsvorsorge salopp vertagt – sondern dass man im Hintergrund an Lösungen arbeite?

Ja.

Warum haben Sie das nicht deutlicher gemacht?

Wir haben in unserer Medienmitteilung klar festgehalten, dass alle beteiligten Partner sich weiter dafür einsetzen, das Mammographie-Screening im Kanton Schaffhausen etablieren zu können und dass wir verschiedene Varianten prüfen werden.

Was passiert als nächstes?

Jetzt finden auf verschiedenen Ebenen Gespräche statt. Ich hoffe, dass wir eine Lösung finden, wo die Krankenversicherer einen grösseren Teil beitragen. Wenn das nicht möglich ist, müssen wir andere Varianten prüfen. Wir sind bei der Organisation der Brustkrebsvorsorge auf Partner angewiesen und müssen schauen, welche Angebote es ab Januar noch gibt und zu welchen Bedingungen.
Auf dieser Grundlage können wir eine Vorlage an den Kantonsrat ausarbeiten. Ich gehe davon aus, dass der Betrag so hoch sein wird, dass das Parlament darüber bestimmen muss.

Das kann der Regierungsrat doch auch von sich aus mit dem Budget 2026 vorschlagen.

Wenn wir bald genug Gewissheit über eine neue Leistungsvereinbarung haben, schliesse ich das grundsätzlich nicht aus.

Sind Sie zuversichtlich, dass es in Schaffhausen bald vorsorgliche Brustkrebs-Screenings geben wird?

Dass es die Screenings geben wird, da bin ich sehr zuversichtlich. Ich kann aber nicht sagen, mit welchem Partner und wann sie starten. Ich weiss nicht, wie viele Hürden wir noch nehmen müssen.

Einen Zeithorizont können Sie also noch nicht abschätzen.

In der jetzigen Phase ist es noch zu früh dafür.

Die Schaffhauser SP und die Juso fingen die breite Empörung in der Bevölkerung nach der Sistierung des Programms mit einer Petition auf. «Für viele Leute geht es beim Brustkrebs-Screening um ein sehr persönliches und emotionales Thema», sagt Leonie Altorfer, Juso-Co-Präsidentin und Kantonsrätin. «Wieder spart man bei der Frauengesundheit. Es herrscht ein grosses Unverständnis darüber, dass man das Programm wegen eines vergleichsweise kleinen fehlenden Geldbetrags einfach sistiert, und das im reichen Kanton Schaffhausen».
Altorfer kritisiert die Reaktion und die Kommunikation des Departements des Innern: «Ich habe den Eindruck, dass man das Thema nicht ernst genug nimmt und dass es nicht oberste Priorität hat. Sonst hätte das Gesundheitsdepartement in der Mitteilung über die Sistierung des Programmes andere Worte gewählt. Es wird nichts Konkretes in Aussicht gestellt. Das Ganze wirkt eher wie eine Randnotiz.» Nicht mal der Gesamtregierungsrat habe bisher über die Angelegenheit befunden. «Ich hätte mir gewünscht, dass man kreativ wird und nicht so einen Schnellschuss macht». Schliesslich ringe die Politik schon seit Jahren um ein Brustkrebs-Früherkennungsprogramm. Die SP und die Juso haben ein Postulat aufgesetzt, um Druck in die Sache zu bringen.
Auch SVP-Kantonsrat Markus Müller ist verärgert. Er hat umgehend eine gepfefferte kleine Anfrage an den Regierungsrat eingereicht, in der er wissen will, wieso Schaffhausen mit der Sistierung des Programmes so vorprescht und dadurch Frauen einer Gefahr aussetzt. «Das ist ein totales Fehlverhalten der Verantwortlichen im Departement des Innern», sagt Markus Müller gegenüber der AZ.
Er habe die Petition der SP sofort unterschrieben und werde auch ihr Postulat unterstützen. «Das hat nichts mit Parteipolitik zu tun, jede und jeder hat eine Direktbetroffene im eigenen Umfeld.»

Die Krebsliga Ostschweiz organisiert mit ihrem Programm «donna» die Mammographie-Screenings in den meisten Ostschweizer Kantonen.
Durch die Vorsorge steigt die Chance, Brustkrebs frühzeitig zu erkennen, Chemotherapien und Brustamputationen zu vermeiden und auf eine Heilung hinzuwirken. Das zeigen die Zahlen aus den Kantonen.
Und so war es auch für Schaffhausen geplant: Die Vorbereitungen für das Programm «donna» liefen, der Start war auf Herbst dieses Jahres angesetzt. Doch mit den neuen Tarifen ab 2026 – der Krankenkassenbeitrag sinkt von rund 168 Franken pro Untersuchung auf knapp 75 Franken – sei das Programm nicht mehr durchführbar. Das sagt Rudolf Morant, Präsident der Krebsliga Ostschweiz, gegenüber der AZ. «Eine Lösung gibt es noch nicht und die Krankenkassen haben uns die alten Verträge im Juni auf Ende Jahr gekündet.» Deshalb habe man notgedrungen sofort die Leistungsvereinbarungen mit den Kantonen auflösen müssen, um die sechsmonatige Kündigungsfrist einhalten zu können. Darunter auch den Vertrag mit Schaffhausen.
Morants Meinung nach hat der Kanton Schaffhausen daraufhin alles richtig gemacht: «Schaffhausen hatte keine andere Wahl, als den Start des Programms zu verschieben, bis die Finanzierung gesichert ist», sagt er.
Die grosse mediale Aufmerksamkeit habe nun schon viel bewirkt, so Rudolf Morant: «Ende Juli finden jetzt Gespräche zwischen den Dachverbänden der Krankenkassen und den Screening-Anbietern statt. Dort geht es um die Zukunft der Screening-Programme».
Natürlich sei es willkommen, wenn die Kantone die fehlenden Beträge selbst finanzieren würden, eigentlich sehe er aber die Krankenkassen in der Pflicht.


The post «Es gab nichts zu entscheiden» appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Heiliger Hass https://www.shaz.ch/2025/07/24/heiliger-hass/ https://www.shaz.ch/2025/07/24/heiliger-hass/#comments Thu, 24 Jul 2025 04:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9770  In Diessenhofen predigt ein Pfarrer, der in Deutschland für die AfD politisiert. Gegenüber Journalisten behauptete er, kein Rechtsextremer zu sein. Recherchen der AZ zeichnen ein anderes Bild.

The post Heiliger Hass appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
In Diessenhofen predigt ein Pfarrer, der in Deutschland für die AfD politisiert. Gegenüber Journalisten behauptete er, kein Rechtsextremer zu sein. Recherchen der AZ zeichnen ein anderes Bild.

Am letzten Sonntag haben sich etwa drei Dutzend Gläubige in der evangelischen Kirche Diessenhofen eingefunden. Die Familie des Pfarrers Gottfried Spieth wird heute verabschiedet. Sie zieht schon einige Monate vor ihm in die neue Heimat an der deutsch-polnischen Grenze.

Denn dort sitzt Spieth seit den Neuwahlen 2024 in der «Stadtverordnetenversammlung», dem Stadtparlament von Frankfurt an der Oder. Er politisiert hier parallel zu seinem Pfarramt für die AfD, die «Alternative für Deutschland». Anfang Mai stufte der Bundesverfassungsschutz die AfD als «gesichert extremistische Bestrebung» ein. Dagegen hat die Partei Einsprache erhoben. Am Dienstag entschied das Bundesverfassungsgericht in einem separaten Verfahren, dass die AfD als «rechtsextremer Verdachtsfall» und «in Teilen gesichert rechtsextrem» eingestuft werden darf.

Die Thurgauer Zeitung hat im Juli als erstes Medium über die politischen Aktivitäten des Diessenhofner Pfarres berichtet. Spieth liess sich zitieren, dass er «mit Rechtsextremen nichts am Hut» habe. Die nationalen Medien folgten, der Blick nahm die Geschichte auf und das SRF besuchte Spieth in der Kirche in Diessenhofen. Dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen sagte Spieth, er selbst wolle versöhnen.

Anschliessend an den Gottesdienst zu Ehren der Familie Spieth gibt es einen Apéro vor der Kirche. Dort stehen an diesem Sonntag einige ältere Menschen beisammen. Eine Frau sagt, sie sei zuerst schockiert gewesen, als sie von Spieths AfD-Zugehörigkeit gelesen habe. Danach habe sie eigentlich nicht mehr in die Kirche kommen wollen. Aber dann habe sie die Zeitungsartikel über ihn gelesen, in denen Spieth «nicht so extrem» gewirkt habe. Nun komme sie wieder an seine Gottesdienste.

Recherchen der AZ zeigen nun, dass das verbreitete Bild des gemässigten Spieth falsch ist. Im vergangenen Jahr hat der Pfarrer auf Facebook zahlreiche antisemitische, völkische und rechtsextreme Posts abgesetzt. 

Bis vor Kurzem war der Diessenhofner Pfarrer auf Facebook als «Spieth Gottfried Gerhard» zu finden. Gerhard war Gottfried Spieths Bruder, der 2013 verstorben ist. Auf dem Profilbild waren beide Brüder zu sehen, im Gespräch mit der AZ bestätigte Gottfried Spieth aber, dass er der aktuelle Inhaber des Accounts ist. Kurze Zeit später löschte er das Konto. 

Auf Spieths Account wurde seit dem 29. März diesen Jahres nichts mehr gepostet. Zuvor war er dafür umso aktiver. Während des Sommers 2024 postete Spieth darauf häufig mehrmals täglich kurze Texte. In vielen davon ist die «Junge Freiheit» verlinkt, ein deutsches Medium, das als Sprachrohr der neuen Rechten gilt. Die Menge der Inhalte macht den Account unübersichtlich, die AZ hat sich lediglich die Posts von Mitte Juni 2024 bis März 2025 strukturiert durchgeschaut, mit einer Ausnahme stammen alle hier erwähnten Texte aus dieser Zeit. Mehrere davon sind eindeutig rechtsextrem.

An einer Stelle schreibt Spieth: «Das dritte Reich war eine komplexe Mischung und lässt sich nicht in seiner ganzen Breite auf einen kriminellen Nenner bringen (…)». In einem anderen Post wird infrage gestellt, ob die Verwendung des Worts «Massenmord» angebracht ist: «Die Alliierten konnten es sich im WK II (2. Weltkrieg, Anm. d. Red.) leisten, das dritte Reich mit solchen Maximalbegriffen zu brandmarken, weil sie aus der Position überlegener Stärke handeln konnten (…).»

Die Nationalsozialisten ermordeten schätzungsweise sechs Millionen Jüd:innen, dazu kamen Sinti, Roma, queere Menschen und politische Gegner:innen. 

An der Spitze dieses mörderischen Regimes stand Adolf Hitler. Zu dessen Ernennung zum Reichskanzler 1933 schrieb Spieth im September 2024, damals bereits seit über sieben Jahren Pfarrer in Diessenhofen: «Hindenburg könnte (sic) und wollte nicht Gott spielen, als er AH (Adolf Hitler, Anm. d. Red.) ernannte. Das war demokratischer Pragmatismus, was er tat.» Die Soldaten der nationalsozialistischen Wehrmacht, die in der Schlacht um Stalingrad zwischen 1942 und 1943 kämpften, seien «überzivilisiert und verweichlicht» gewesen. Auch heute sieht Spieth für «das Volk» nur dann eine «Chance» wenn diese zu einer «instinkthaft-leidenschaftlichen Männlichkeit» und zur «kämpferischen Priorität des Männlichen» finde. 

Auch offene Umsturzfantasien teilt der Pfarrer auf Facebook. Der Aufstieg der AfD vergleicht er mit dem Jahr 1933 – dem Jahr der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Diese sei zwar im Massstab deutlich gröber und krasser gewesen als die Wahlerfolge der AfD, aber die Parallele sei unverkennbar. «Das spürte die herrschende westdeutsche Klasse. Und deshalb ist sie – mit Recht – so aufgeregt. Sie spürt: Ihre Zeit ist abgelaufen. Sie hatte von Siegers Gnaden 80 Jahre lang Zeit, diese BRD zu prägen und nach ihrem Gusto zu gestalten. Jetzt ertönt der Schwanengesang. Und das ist gut so.» 

Mitglieder der Kirchgemeinde beschreiben Spieth im Gespräch mit der AZ als einer, der gerne geschwollen daherredet, manchmal müsse man sich anstrengen, um zu verstehen, was der Mann predigt. Ähnlich verklausuliert klang es bis vor Kurzem auf seinem Facebook-Account. Freiheit sei etwa «das Eintauchen in den grossen Strom der heimatlichen Geschichte».

Spieth äussert sich auf Facebook auch zeitpolitisch. Angela Merkel, die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin, habe zwar neue aussenwirtschaftliche Spielräume eröffnet, aber sie sei schlecht für den «Gen Pool» gewesen – eine klare Anspielung auf die grosse Anzahl aufgenommener geflüchteter Personen im Zuge des syrischen Bürgerkriegs 2015. Sogenannte «Rassentheorie» spielte auch sonst eine prominente Rolle auf Spieths Account. Zum Erfolg der deutschen Männerfussballnationalmannschaft steht: «Ethnobiologen und Rassenkundler werden hier noch bessere Antworten finden als ich. Anscheinend ist aber ein gewisser Gen Mix sogar produktiv.»

«Auch hier sieht man wieder Spieths völkisches Denken, seinen Maskulinismus und die offene Befürwortung von rechtsextremen Terrorakten.»

Natascha Strobl, Expertin für
Rechtsextremismus

Unter den vielen Posts finden sich zudem zahlreiche antisemitische Aussagen. «Philosemitisch», ein Begriff, der eine positive Einstellung zum Judentum beschreibt, wird abwertend benutzt; es wird eine «Judaisierung des Christentums» und die «dynamische jüdische Prägung und Verklammerung» der USA beklagt. Islamismus hingegen sei «eine unheilige Allianz zwischen radikalen Muslimen und ultraliberalen Europäern/Amerikanern, durch logenartige Netzwerke vorbereitet und in die Wege geleitet.» 

Am 15. September 2024 veröffentlicht Spieth auf Facebook einen Text, in dem vieles vom bisher Aufgeführten zusammenkommt – der Nationalismus, das Völkische, die Faszination mit männlicher Stärke und Umsturzfantasien. Über einen Artikel zu Geflüchteten schreibt er: «Der germanische Zorn ist nicht verschwunden, er schläft. Wehe, wenn er aufgeweckt wird! 10 bis 20 nichtassimilierte Biodeutsche, im Bunde mit moderner (Wehr-) Technik, sind zu (fast) allem in der Lage. Was Israel recht ist, sollte uns billig sein. Wenn, wenn unsere jetzt noch unterdrückten maskulinen Instinkte losgelassen werden (…).»

Die AZ hat Gottfried Spieth mit allen hier zitierten Posts konfrontiert. Im persönlichen Gespräch mit der AZ streitet er nicht ab, der Verfasser der Posts zu sein. Rassismus, Antisemitismus oder rechtsextremes Gedankengut könne er darin aber nicht erkennen (siehe Box 1). 

Das sagt Gottfried Spieth zu den Vorwürfen (Box 1)
Gottfried Spieth sagt, seine Facebook-Posts seien nicht «Meinungsabgaben im engeren Sinne», sondern «Blitzlichter und assoziative Verlautbarungen, mit denen ich die Grenzen des bürgerlich Sagbaren ausloten wollte». Er habe seine Facebook-Seite von seinem verstorbenen Bruder übernommen. «Die Posts widerspiegeln fiktive Familiengespräche im Elternhaus, Geschwister- und Verwandtschaftskreis.» Rassismus oder Antisemitismus könne er in diesen Texten nicht erkennen und Rechtsextremismus sowieso nicht. «Dieses Prädikat passt nicht zu mir, dafür sind die Posts auch zu akademisch geschrieben. Ich würde sie vielleicht rechtsintellektuell nennen. Meine friedenspolitischen Vorbilder sind Olof Palme, Bruno Kreisky und Willy Brandt.» (Sozialdemokratische Regierungschefs von Schweden, Österreich und Deutschland aus den 70er- und 80er-Jahren, Anm. d. Red.). Manches bedaure er, sagt Spieth. «Der Fokus aufs Maskuline hätte nicht sein müssen. Mein Post, in dem ich zur Vorsicht mit kriminalistischen Maximalbegriffen wie etwa «Massenmord» rate, bezieht sich nicht auf Nazi-Deutschland, sondern auf das gegenwärtige Russland», sagt Spieth. (Im fraglichen Post ist explizit vom 3. Reich die Rede, weiter unten im betreffenden Text dann auch vom «östlichen Gegenspieler» Anm. d. Red.)

Das sagt Expertin Natascha Strobl (Box 2)
Die AZ hat alle im Text zitierten Posts von Gottfried Spieth an die österreichische Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl geschickt. Strobl ist Expertin für Rechtsextremismus und die Neue Rechte und hat mehrere Bücher zum Thema geschrieben. Für die AZ hat Strobl die Posts des Diessenhofner Pfarrers angeschaut und aufgeschlüsselt, welche Kriterien eines rechtsextremen Weltbildes diese erfüllen. Als Gesamtbeurteilung schreibt sie: «Gottfried Spieth erfüllt so ziemlich alle Kriterien eines gefestigten rechtsextremen Weltbildes.» Weiter schreibt Strobl, sein Stil erinnere an jenen Björn Höckes.
Zu dem Post, in dem Gottfried Spieth die Verwendung des Wortes «Massenmord» kritisiert, schreibt sie, damit relativiere er den Holocaust. Zudem schreibt sie: «Die Aufklärung als ‹geistige Judaisierung des Christentums› zu bezeichnen, ist zutiefst antisemitisch. Auch die Ablehnung der Menschenrechte ist offen rechtsextrem». Zu weiteren Posts sagt sie: Spieth offenbare damit «sein negatives Menschenbild und seine Ablehnung der Demokratie und des Parlamentarismus» und: «Spieth denkt in traditionellen Geschlechterbildern und legt ein ultramaskulinistisches, männerbündlerisches Denken an den Tag.» Spieths Kritik, dass Merkel den «Gen Pool» verschlechtert habe, offenbare «zutiefst völkisch-rassistisches Denken». Zum Text, in dem Spieth schreibt, dass der «germanische Zorn nicht verschwunden» sei, sagt Strobl: «Auch hier sieht man wieder Spieths völkisches Denken, seinen Maskulinismus und die offene Befürwortung von rechtsextremen Terrorakten.»

In der Thurgauer Zeitung konnte man lesen, Spieth sei ein guter Pfarrer gewesen. Nach dem Gottesdienst zu Ehren der Familie Spieth erzählen allerdings mehrere Gemeindemitglieder, dass man Spieth die Kinder- und Jugendarbeit entzogen habe. Der Grund dafür war gemäss der Diessenhofer Kirchenpräsidentin Jael Mascherin, dass Spieth nicht gut mit Jugendlichen ausgekommen sei. 

Die Recherche der AZ wirft nun auch die Frage auf, ob der Pfarrer sein Gedankengut, dass er auf Facebook breitschlug, auch in die Jugendarbeit fliessen liess. Diese Frage wird von der Kirchenpräsidentin weder bejaht noch verneint. Stattdessen antwortet sie kryptisch: «Die Kirche toleriert nirgends extremistisches Gedankengut, schon gar nicht in der Jugendarbeit.» Mascherin sagt, sie habe nichts von Spieths Facebook-Account gewusst, bis die AZ sie darauf aufmerksam gemacht habe. 

Wie bereits gegenüber anderen Medien vertritt die Kirchengemeinde auch gegenüber der AZ den Standpunkt, dass eine Kündigung Spieths nicht möglich sei: «Er ist eine von den Kirchenbürgern gewählte Person und die politische Meinungsfreiheit gilt auch für ihn», so Mascherin. Die Kirchgemeinde sei aber der Ansicht, dass die Politik der AfD mit der Kirche unvereinbar sei. Mit Spieth wurde vereinbart, dass er zwei Monate früher als geplant – auf Ende Jahr hin – in Pension geht. Bis dahin steht Gottfried Spieth am Sonntag auf der Kanzel.

Journalismus kostet. Hier geht’s zum Probeao.
Dieser Text entstand mit finanzieller Unterstützung des AZ-Recherchefonds «Verein zur ­Demontage im Kaff». Der Fonds fördert kritischen, unabhängigen Lokaljournalismus in der Region Schaffhausen, insbesondere investigative Recherchen der Schaffhauser AZ. Spenden an den Recherchefonds: IBAN CH14 0839 0036 8361 1000 0 oder per Twint.

The post Heiliger Hass appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
https://www.shaz.ch/2025/07/24/heiliger-hass/feed/ 2
Im Auge des Mediensturms https://www.shaz.ch/2025/07/04/im-auge-des-mediensturms/ Fri, 04 Jul 2025 11:05:34 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9601 Auf der Theaterbühne an der Primarschule Rosenberg passiert ein Fehler.Die ganze Schweiz schreibt darüber – und verpasst festzuhalten, was wirklich passiert ist. Was zwei Schüler:innen Mitte Juni in der Aula der Primarschule Rosenberg gespielt haben, wirkt wie aus einem Albtraum. Ein Bub sticht ein Mädchen ab, weil es nicht an dessen Gott glaubt – und […]

The post Im Auge des Mediensturms appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Auf der Theaterbühne an der Primarschule Rosenberg passiert ein Fehler.
Die ganze Schweiz schreibt darüber – und verpasst festzuhalten, was wirklich passiert ist.

Was zwei Schüler:innen Mitte Juni in der Aula der Primarschule Rosenberg gespielt haben, wirkt wie aus einem Albtraum. Ein Bub sticht ein Mädchen ab, weil es nicht an dessen Gott glaubt – und ruft dabei aus: «Niemand soll je wieder schlecht über meinen Gott reden!» Dann betet der Bub zu seinem Gott, das Mädchen erwacht wieder zum Leben, und die beiden stimmen glücklich in ein «Hallelujah» ein. In der kurzen Theaterszene treffen gleich mehrere hochsensible Themen aufeinander: Religiöser Extremismus trifft auf geschlechtsspezifische Gewalt trifft auf Kinder, die einander töten – und all das in einer Gemeinde, deren Bevölkerung zu 45 Prozent aus Ausländer:innen besteht.

Wenige Tage später hat die gesamte Medienlandschaft die knapp zweiminütige Theaterszene aufgegriffen. Und so sitzt die Verunsicherung tief. Als die AZ Anfang dieser Woche an der Schule anruft, stösst sie auf eine Mauer. Der Schulleiter Christian Schenk, der noch letzte Woche gegenüber mehreren Medien Auskunft gegeben hat, verweist an den Bildungsreferenten Marcel Zürcher. Und dieser teilt mit, dass er nichts mehr zum Fall sagen wird – das hat der Gesamtgemeinderat entschieden.

Das Schuljahr endet also mit einem Knall, und von offizieller Stelle ist nichts mehr zu erfahren. Die AZ konnte trotzdem in verschiedenen Gesprächen mit Personen aus dem Schulumfeld rekonstruieren, was passiert ist. Und muss feststellen: In der Schule ist ein Fehler passiert. Aber der viel grössere Fehler unterlief den nationalen Medien.


Ein Kind und seine Jacke


Angefangen hat das Schuljahr in der Primarschule Rosenberg ursprünglich ganz anders: mit dem Jahresthema «Mitenand». Die 240 Primarschüler:innen und ihre rund 50 Lehrpersonen sollten herausfinden, welche gemeinsamen Haltungen und Werte sie teilen, und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit stärken. Der Integrationsgedanke ist stark an den Schulen Neuhausen, an denen mehr als jedes zweite Kind nicht Deutsch als Muttersprache hat. «Krönender Abschluss», so schrieb Schulleiter Christian Schenk den Eltern Anfang des Jahres, würde die Projektwoche zwischen dem 10. und 13. Juni sein.

Manche Kinder bauten dabei unter Anleitung eines Försters Nistplätze im Wald, andere erprobten sich auf der Bühne des Theaters Central, wieder andere spielten mit Senior:innen Spiele oder backten Granola. Der letzte Nachmittag dieser Projektwoche würde manche der Kinder auf die Bühne der Aula bringen: Sie zeigten einen Flashmob, ein Musikstück und ein Theaterstück, das sie am Morgen davor in altersdurchmischten Gruppen erarbeitet hatten. Darunter eben auch ein Theaterstück zum Thema Religion, das von einem streitenden Paar handelte: Sie warf ihm vor, er denke nur an Gott, und weil er sich uneinsichtig zeigte, verliess sie ihn, worauf der gekränkte Mann sie erstach. Ein Holzstab soll
dabei als Messer fungiert haben.


Im Publikum sass auch Nina Schärrer. Die Einwohnerrätin ist seit kurzem Präsidentin der FDP Neuhausen und fungierte in den vergangenen Monaten als Wahlkampfleiterin von Ständeratskandidat Severin Brüngger. Sie sei, wie auch andere Eltern, enorm irritiert gewesen – nicht nur ob der Szene selbst, sondern auch weil vor Ort keine Einordnung stattgefunden habe. Es folgte ein Mailaustausch mit Schulleiter Christian Schenk, der – für die SP – ebenfalls im Einwohnerrat sitzt. Dieser versandte kurz darauf einen Elternbrief und schrieb, dass die Szenen so nicht hätten aufgeführt werden dürfen und man bedauere, nicht rechtzeitig interveniert zu haben. «Danach war aber immer noch unklar, wie es überhaupt zu
dem Stück kommen konnte und wer das entschieden hatte», sagt Nina Schärrer gegenüber der AZ. «Es ist schlimm, dass schon Kinder zwischen Religion und Mord eine Verbindung herstellen. Die Auswirkungen davon sind nicht einfach von der Hand zu weisen, dem müssen wir uns als Gesellschaft bewusst sein.» Von welchen Auswirkungen Schärrer spricht, ist indes nicht ganz klar – in der Schule ist zwar inzwischen die Schulsozialarbeit eingeschaltet, aber in den Klassen habe es bisher keinen Gesprächsbedarf gegeben, wie die AZ hört. Dafür begann ein Medienkarussell zu drehen, das vom Boden der Fakten abhob.


Von der falschen Verknüpfung…


Nina Schärrer reichte eine kleine Anfrage im Einwohnerrat ein. Die Gemeindekanzlei verschickt diese am Dienstag letzte Woche. Tags darauf wird sie samt dem «religiös motivierten Messer-Mord» zur Titelgeschichte in der Grossauflage der Schaffhauser Nachrichten. Die anwesenden Eltern werden darin als vom Stück nicht mehr bloss irritiert, sondern als regelrecht «schockiert» bezeichnet. Die Eltern, die namentlich auftreten: Nina Schärrer und Lea Plieninger, die Präsidentin des Elternforums
– und, was in den SN unerwähnt bleibt, seit Anfang des Jahres FDP-Vertreterin in der Neuhauser Einbürgerungskommission. Ebenfalls zu Wort kommt im Text ein demütiger Schulleiter, der die Verantwortung für das Vorgefallene auf sich nimmt, und ein Bildungsreferent, der eine Aufarbeitung des Falls verspricht.

Die SN scheinen zu wissen, wo das eigentliche Problem liegt. Und stellen den Connex her: «Religiös motivierte Gewalt, namentlich islamistische Gewalt, ist in Neuhausen nicht zum ersten Mal ein Thema.» Sie stellen eine direkte Verbindung vom Fehler auf der Schultheaterbühne zu Osamah M. und der Neuhauser Moschee her sowie zu zwei Jugendlichen, die vergangenes Jahr verhaftet worden waren,
weil sie mögliche Anschläge auf Kirchen und Synagogen diskutiert haben sollen. Wie die AZ aus sicherer Quelle weiss, war die umstrittene Szene ursprünglich ganz anders geplant. Nicht zwei, sondern drei Kinder waren für das Stück vorgesehen: ein Pärchen und eine Drittperson.

Letztere sollte es sein, die das Mädchen tötete – nicht dessen Partner. Aber dann standen plötzlich statt dieser drei nur zwei Kinder auf der Bühne. Der Bub hätte zwei Rollen spielen und jene des Täters mit einer Jacke, die er trug, visuell abgrenzen sollen. Und dann fehlte auch diese Jacke auf der Bühne. Aus dem fremden Mörder wurde der Partner. Und die eigentliche Aussage des gesamten Stücks – dass Religion in schwierigen Situationen, etwa beim Verlust einer Geliebten durch eine Gewalttat, helfen kann – wurde zur scheusslichen Fratze religiösen Extremismus.

«Das hat sich ohne mein Zutun verselbständigt.»

Nina Schärrer

Dieser zentrale Kontext fehlt im Artikel der SN – und folglich auch in der sich rasant ausbreitenden Berichterstattung. Noch am selben Tag wie die SN greift 20 Minuten die Geschichte auf und verlinkt auf eine eigene Recherche, die zwar mit Neuhausen nichts zu tun hat, dafür die sich häufenden Femizide in der Schweiz und im Ausland thematisiert. Am selben Abend erscheint die SN-Recherche auch in einem rund dreieinhalbminütigen Beitrag im SRF Regionaljournal. Und sie landet im Medienspiegel von kath.ch. Das katholische Medienportal veröffentlichte im März letzten Jahres einen reisserischen Artikel über antisemitische Vorfälle an der Sek Buchthalen (unsere Einordnung dieser Vorfälle lesen Sie in der AZ vom 4. April 2024).

Tags darauf berichtet auch die NZZ über den «religiösen Femizid» im «eskalierten» Schultheater. Ihr gelingt eine Einordnung, die Lokal- und Schnellmedien bisher ausliessen: Sie beschreibt die ganze Projektwoche und verortet sie in einer Gemeinde, die in Sachen Integration als Vorbild gilt. Tatsächlich irritiert das ganz besonders an der ganzen Geschichte: Neuhausen hat seit 20 Jahren ein Primarschulmodell, das mit Teamteaching, Schulsozialarbeit, Heilpädagogik und einer hohen Partizipation der Eltern einen hervorragenden Ruf geniesst.

Die Schulorganisation funktioniert – und erst diesen Mai haben drei Viertel der Stimmbevölkerung einer Ausweitung des Modells auf Kindergarten, Real- und Sekundarschule zugestimmt. Darüber verliert das Gros des Medienkarussells hingegen kein Wort. Stattdessen nimmt die Geschichte eine Eigendynamik an, die sich zunehmend vom ursprünglich Vorgefallenen entfernt.


… bis zur Verschwörungstheorie

Nau schreibt: «Ermordung einer Ungläubigen – Wirbel um Schul-Theater!». Während 20 Minuten die Kommentarspalte geschlossen hält, um Hasskommentare zu vermeiden, lässt Nau sie offen – und editiert die islam- und ausländerfeindlichen Äusserungen der Leser:innen nicht. Sie bleiben bis zum Redaktionsschluss der AZ aufgeschaltet. Die Weltwoche wiederum zitiert die NZZ, und in einem Video findet Verleger Roger Köppel über die «Gemeinde mit hohem Ausländeranteil»: «Daran sieht man, wie die Schweiz sich verändert hat, wenn wir das Thema Femizid schon an Schulen behandeln müssen.» Wenig überraschend findet sein Publikum, das Thema gehöre nicht ins «Abendland», «Segregation» sei die Lösung, und schlägt mit der rechtsidentitären Verschwörungstheorie des grossen Austausches um sich.

Darauf angesprochen, sagt die FDP-lerin Nina Schärrer: «Mein Ziel war nicht zu sagen, dass wir schon lang ein Problem mit Islamismus haben und der Vorfall an der Schule ein Zeichen davon ist. Das hat sich ohne mein Zutun verselbständigt.» Das haben auch die SN gemerkt: Am Samstag kommentierte ein Redaktor, es sei zwar ein gröberer Fauxpas passiert, aber das «Schock-Theater» sei «glücklicherweise kein Anlass, ein systemisches Problem in den Schaffhauser Schulen zu verorten».

Bleibt die Frage: Was sollte das Ganze überhaupt? War es, wie aus dem Neuhauser Parlament zu hören ist, ein letzter Coup einer geschickten Wahlkampfleiterin, die Anschluss am rechten Rand sucht? «Ich kann nichts an den Fakten ändern, dass zu diesem Zeitpunkt Wahlkampf war und die von Schulseite Involvierten in der SP sind», sagt Nina Schärrer dazu. «Ich kann nur sagen, dass das nicht meine Motivation war.» Viele Eltern seien nach dem Stück ratlos gewesen, was zu tun sei. «Und als Politikerin ist der politische Weg am naheliegendsten.» Aus einer missglückten Szene wurde innert kürzester Zeit ein medialer Flächenbrand, ein Stück Kulturkampf und ein Symbol gesellschaftlicher Bedrohung. Zurück bleibt eine Schule, die um ihr Vertrauen kämpft.

The post Im Auge des Mediensturms appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
«Und dann tun sie so, als wäre nichts gewesen» https://www.shaz.ch/2025/06/28/und-dann-tun-sie-so-als-waere-nichts-gewesen/ https://www.shaz.ch/2025/06/28/und-dann-tun-sie-so-als-waere-nichts-gewesen/#comments Sat, 28 Jun 2025 07:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9571 Vor einem Jahr schockte die Prügelattacke auf Fabienne W. die Schweiz. Wie geht es ihr heute? Interview: Nora Leutert und Mattias Greuter Am 22. Mai 2024 wurde die Geschichte der Schaffhauserin Fabienne W. publik: In der SRF-Rundschau berichtete sie, wie sie im Dezember 2021 in der Wohnung eines Schaffhauser Anwalts von mehreren Männern brutal verprügelt […]

The post «Und dann tun sie so, als wäre nichts gewesen» appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Vor einem Jahr schockte die Prügelattacke auf Fabienne W. die Schweiz. Wie geht es ihr heute?

Interview: Nora Leutert und Mattias Greuter

Am 22. Mai 2024 wurde die Geschichte der Schaffhauserin Fabienne W. publik: In der SRF-Rundschau berichtete sie, wie sie im Dezember 2021 in der Wohnung eines Schaffhauser Anwalts von mehreren Männern brutal verprügelt wurde. ­Videos einer Überwachungskamera zeigten das Ausmass der Gewalt. Ihr Fall löste eine weit über Schaffhausen hinausreichende Protest- und Solidaritätswelle aus – und wurde in der Öffentlichkeit intensiv und teilweise verzerrt verhandelt. Nun gibt W. das erste Interview, seit sie ihre Geschichte im Fernsehen erzählte.

AZ: Fabienne W., vor dreieinhalb Jahren wurden Sie in einer Schaffhauser Anwaltswohnung brutal verprügelt, vor einem Jahr gingen Sie damit an die Öffentlichkeit. Der SRF-Rundschau-Beitrag und die Videos der Tat erschütterten die Schweiz. Wie geht es Ihnen heute?

Fabienne W.: Ambivalent. Oft muss ich mich zwingen, durch die Stadt zu gehen. Und manchmal schaffe ich es gar nicht aus dem Haus.

Was war der Auslöser dafür?

Es begann bereits kurz nach der Prügelnacht: Die Beteiligten hatten die Gewalttaten in der Anwaltswohnung gefilmt und die Videos in der Stadt herumgeschickt. Die Videos wurden zu Clips geschnitten und es hiess, ich hätte randaliert und Drogen genommen. Ich wurde schlechtgemacht und als Prostituierte, Junkie und Alkoholabhängige verleumdet. Leute aus meinem Umfeld haben sich von mir abgewandt. Der Tätowierer, bei dem ich eine Ausbildung machen wollte, hörte davon und sagte mir, ich müsse nicht mehr kommen und solle erstmal in Therapie gehen. Nachdem ich an die Öffentlichkeit ging und in der SRF-Rundschau auftrat, war dann zuerst alles gut – bis die AZ und andere Medien den Fall aufgriffen.

Die AZ suggerierte in einem Artikel unabsichtlich, dass Sie eine Mitschuld an der Ihnen zugefügten Gewalt hätten. Ähnliches geschah in anderen Medien.

Ich konnte das nicht ertragen, dass mir eine Mitschuld angelastet wurde. Ich hatte danach starke Suizidgedanken und wollte mich in einer Klinik anmelden. Ich hätte in Schaffhausen in der Breitenau behandelt werden sollen, daraus wurde aber nichts – denn dort liessen sich zur gleichen Zeit auch mehrere der Täter einweisen.

Reden hilft
Befinden Sie sich in einer Krise oder haben Sie Suizidgedanken? Die Dargebotene Hand kann helfen. Sie ist hier sowie unter der Telefonnummer 143 rund um die Uhr erreichbar. Für Kinder und Jugendliche ist das Angebot von Pro Juventute da: hier oder per Telefon unter 147.
Für Gewaltbetroffene gibt es in Schaffhausen eine kostenlose und vertrauliche Fachstelle. Hier gibt es mehr Infos sowie telefonisch unter 052 625 25 00.
Für Personen, die Gewalt ausgeübt haben, gibt es ebenfalls Unterstützung. Und zwar hier.

Die Männer, die im Video zu sehen sind, sind noch nicht verurteilt und begegnen Ihnen auch heute noch in der Stadt. Wie ist das für Sie?

Ich versuche, ihnen aus dem Weg zu gehen. Eine Begegnung ist für mich jedes Mal ein Schockmoment. Die Täter tauchen oft in meiner Nähe auf, und gerade vor wenigen Tagen hat einer der Beteiligten wieder einen Social-Media-Post veröffentlicht, in dem er sich auf mich und meinen Sohn bezieht. Er will damit wohl provozieren. (Fabienne W. zeigt den entsprechenden Post).

Welche Bewältigungsstrategien haben Sie?

Ich habe Medikamente für Momente, in denen ich Herzrasen bekomme. Ich gehe zum Ausgleich mit dem Hund spazieren, mache den Haushalt, lenke mich ab.

Und die Musik?

Da gab es lange einen Stillstand, auch wenn es viele Anfragen für eine Zusammenarbeit gab. Aber ich musste meine Musik auf Eis legen, da ich es lange fast nicht schaffte, mit manchen Leuten in einem Raum zu sein.

Was für Leute?

Männer.

Begegnen Sie Männern anders als früher?

Ja, ich bin oft abweisend – aber immer bedacht darauf, keinem nahezutreten. Ich fühle mich durch Männer manchmal getriggert und unterbewusst an den Vorfall erinnert.

Blicken wir ein Jahr zurück: Wieso haben Sie sich damals entschieden, Ihren Fall in der SRF-Rundschau publik zu machen?

Weil die Staatsanwaltschaft den Fall der Schändung einstellen wollte, welche sich 12 Tage vor der Prügelattacke ereignete. Ich befürchtete auch, dass sie ignoriert, dass die beiden Fälle zusammengehören. Auch konnten die Beteiligten unbehelligt Videos von den Gewalttaten herumschicken und die Polizei machte nichts dagegen. Stellen Sie sich vor: Leute kamen auf mich zu und erzählten mir, was für schlimme Dinge sie in diesen Aufnahmen sahen. Und ich weiss auch nicht, was sonst noch mit diesen Gewaltvideos geschah, vielleicht sind sie auch im Darknet gelandet.

Was versprachen Sie sich vom Gang an die Öffentlichkeit?

Dass man mich ernst nimmt, dass es schneller geht mit dem Fall, und dass mir geholfen wird.

Foto: Robin Kohler
Foto: Robin Kohler

Die Behörden kamen dadurch unter Druck. Was erwarten Sie von der Politik?

Ganz einfach: Dass man Gewalt an Frauen ernst nimmt. Die Istanbul-Konvention hat der Kanton bis heute nicht umgesetzt – es ist für Frauen kein wirklicher Schutz da. Und wenn dir etwas passiert, wenn dein Fall publik wird, wird er von Medien, Behörden und politischen Vertretern heruntergespielt, sie tun dann so, als wäre nichts gewesen. Ich wäre fast gestorben, und doch nimmt eine ganze Reihe von Politikerinnen und Politiker das Problem noch immer nicht ernst.

Woran machen Sie das fest?

Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter findet es etwa in Ordnung, wie zuvor die AZ öffentlich zu kommunizieren, man habe in meinem Blut Alkohol und Drogen vorgefunden. Eine JSVP-Kantonsrätin sagte öffentlich, ich hätte mich ja «selbst in diese Szene bewegt» und ein SVP-Kantonsrat fand in der Ratsdebatte, die Auseinandersetzung mit der Sache koste zu viel Steuergeld. Man versucht, mich als Drogensüchtige und Steuergeldverschwenderin darzustellen und meine Glaubwürdigkeit zu untergraben.

Sie stören sich, wie die Politik über Gewalt an Frauen spricht. Wie haben Sie nach der Nacht in der Anwaltswohnung die Arbeit der Polizei erlebt?

Der zuständige Arzt wollte mich in meinem Zustand nicht aus dem Spital entlassen, aber ich liess mich von den Polizisten überreden, trotzdem mitzugehen. Ich wollte nach Hause zu meinem Sohn. Wegen der Spurensicherung hatte ich meine Kleidung nicht, ich musste mir selber etwas zum anziehen organisieren. Auf der Polizeistelle, wo die Einvernahme stattfand, bin ich auch einem der Männer aus der Anwaltswohnung über den Weg gelaufen. Ich war in keinem guten Zustand, aber die Polizei wollte, dass ich sofort meine Aussage mache.
(Die AZ hat die Polizei konfrontiert: Sie widerspricht dieser Darstellung nicht, schreibt aber, sie dürfe sich zu laufenden Verfahren nicht äussern.)

Der Untersuchungsbericht dazu ist noch nicht veröffentlicht, stellt der Polizei aber laut Regierung ein gutes Zeugnis aus: «kein relevantes Fehlverhalten».

Man will einfach keine Fehler einräumen. Meiner Meinung nach versuchte Cornelia Stamm Hurter sich und die Polizei zu schützen.

Im Rundschau-Beitrag sagten Sie, dass Sie sich an vieles von der Nacht in der Anwaltswohnung nicht mehr erinnern können. Woran erinnern Sie sich?

Ich weiss noch, wie ich in der Wohnung des Anwalts ankam, dass es irgendwann Dessert gab. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Mit einer Ausnahme: Wie ich vor der Tür lag, einer der Männer lag auf mir, würgte mich und drückte dabei meinen Nacken gegen eine Treppenstufe. In diesem Moment habe ich mich von der Welt verabschiedet.

Das war ausserhalb des Bereichs, den die Kamera des Anwaltes filmte?

Ja, das war im Treppenhaus. Man sieht es nicht, aber man hört etwas in den Videos.

Sie konnten einen grossen Teil der Nacht erst anhand der Videos rekonstruieren?

Ja. Wir mussten Beweise sammeln und den Tathergang bestmöglich aufschreiben, Punkt für Punkt. Ich habe die Videos immer und immer wieder geschaut und versucht, alles zu verstehen und nachzuvollziehen, was die Männer an diesem Abend untereinander gesprochen haben.

Wie wichtig ist es für Sie, ob und wie schwer die Männer bestraft werden?

Das ist mir schon wichtig. Es geht nicht einfach um eine Ohrfeige. Ich wäre fast gestorben.

Ihr Fall hat Erschütterung ausgelöst, Hunderte demonstrierten vor dem Schaffhauser Polizeiposten. Aus der Solidaritäts- und Protestwelle ging das Bündnis «Gerechtigkeit Schaffhausen» hervor, das über 10 000 Unterschriften für eine Petition gesammelt hat. Am Feministischen Streik vorletzte Woche haben Sie sich in einer Rede bei den Unterstützer:innen bedankt.

Ich bin sehr froh um die Solidarität. Die enorme Reaktion war für mich zuerst etwas überwältigend, hat mir aber geholfen. Vor der Petition war mir gar nicht bewusst, dass meine Geschichte auch politisch ist. Dann begann ich, mich mehr mit dem Thema Gewalt an Frauen auseinanderzusetzen.

Hunderte demonstrierten nach der SRF-Rundschau vor dem Schaffhauser Polizeiposten. Foto: Robin Kohler
Hunderte demonstrierten nach der SRF-Rundschau vor dem Schaffhauser Polizeiposten. Foto: Robin Kohler

Aus Ihrem Fall werden von linker Seite auch politische Forderungen abgeleitet. Wie fühlt es sich an, wenn das eigene Erlebte von der Politik verhandelt wird?

Aus der SVP hiess es immer, die Linken dürften meinen Fall nicht politisieren, dabei taten sie selbst nichts anderes, wenn sie darüber sprachen. Ich finde, das Thema geht alle politischen Lager etwas an.

Sie nehmen die Politisierung ihres Falles als positiv wahr?

Ja.

Gleichzeitig können Sie die Dynamik, die der Fall entwickelt hat, nicht kontrollieren. Ist es manchmal auch unangenehm, dass Ihr Name öffentlich so intensiv verwendet wird?

Im Moment ist es okay. Ich wollte nie durch so etwas bekannt werden, das möchte wohl niemand. Ich wollte nur meine Musik machen und hie und da auftreten. Ich fühle mich aber an Gisèle Pelicot (die ihren Vergewaltigungsprozess der Öffentlichkeit zugänglich machte, Anm. d. Red.), erinnert und handle auch aus Solidarität zu ihr. Sie sagt: Die Scham muss die Seite wechseln.

Würden Sie den Schritt an die Öffentlichkeit wieder machen?

Ja, ich würde es wieder tun. Auch wenn es ein enormer Druck ist. Ich möchte vermitteln, dass man solche Erlebnisse überstehen und Lebenssinn und eine Zukunft haben kann. Ich werde auch oft auf der Strasse angesprochen. Es kommen Menschen auf mich zu, die selbst Gewalt erlebten und die sich nicht zur Opferberatung oder zur Polizei getrauen aus Angst, nicht ernst genommen zu werden. Ich will ihnen Mut machen.

Ihr Kampf bestimmt im Moment stark Ihr Leben.

Ja. Ich befasse mich auch deshalb mit meinem Fall und der politischen Dimension, um die ganze Situation persönlich verarbeiten zu können.

Denken Sie, Sie können eines Tages zur Normalität zurückkehren?

Das ist vom jetzigen Stand schwer zu beurteilen. Jetzt bin ich erst einmal mit Therapie beschäftigt. Mein Ziel war ursprünglich, mich als Künstlerin selbstständig zu machen und nebenbei weiterhin in der Gastronomie zu arbeiten. Beides geht im Moment nicht mehr. Ich bin blockiert, auch in der Musik, und mir fehlte auch lange die Stimme, um zu singen. Und ob ich in die Gastro zurückkehren kann, weiss ich nicht.

Warum?

Man hat immer wieder mit sexueller Belästigung und blöden Sprüchen zu tun und muss dies oder jenes über sich ergehen lassen. Da braucht man ein dickes Fell.

Was planen Sie für Ihre Zukunft?

Ich würde gerne mal ein Buch über meine Erfahrungen schreiben. Was ich mir sicher vorstellen kann, ist, mich auch in Zukunft gegen Gewalt an Frauen einzusetzen: Öffentlichkeitsarbeit in dem Bereich zu machen und etwa an Schulen zu sprechen. Ansonsten möchte ich etwas Ruhiges machen. Büroarbeit vielleicht, manchmal wird mir alles zu laut und zu viel. Mein Traum war immer ein Häuschen am Meer.

The post «Und dann tun sie so, als wäre nichts gewesen» appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
https://www.shaz.ch/2025/06/28/und-dann-tun-sie-so-als-waere-nichts-gewesen/feed/ 1
Tintenschmerz https://www.shaz.ch/2025/06/26/tintenschmerz/ Thu, 26 Jun 2025 15:28:05 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9566 Zum Ende des Ständerats-Wahlkampfes halten wir Rückschau auf uns selbst. Wie wurde in den drei Zeitungen Schaffhausens und dem ­zuhörer:innenstärksten Radio über die zwei Kandidaten berichtet? Schaffhausen hat eine für seine Grösse immer noch beeindruckende Vielfalt an Medien. Einer der Vorteile daran ist, dass man einander über die ungesund hängenden Schultern schauen und sich ab […]

The post Tintenschmerz appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Zum Ende des Ständerats-Wahlkampfes halten wir Rückschau auf uns selbst. Wie wurde in den drei Zeitungen Schaffhausens und dem ­zuhörer:innenstärksten Radio über die zwei Kandidaten berichtet?

Schaffhausen hat eine für seine Grösse immer noch beeindruckende Vielfalt an Medien. Einer der Vorteile daran ist, dass man einander über die ungesund hängenden Schultern schauen und sich ab und zu auf die tippenden Finger hauen kann. Diese Funktion will die AZ nicht vernachlässigen.

In den letzten zwei Monaten haben alle regionalen Medien ausführlich über zwei Politiker berichtet: Severin Brüngger und Simon Stocker. Am Sonntag wird einer von ihnen in den Ständerat gewählt. Die AZ hat sich angeschaut, wie die drei Zeitungen der Region sowie das grösste Radio der Region berichtet haben: Die Schaffhauser Nachrichten, der Bock, das Radio Munot und die AZ selbst (Methode siehe Box unten).

Schaffhauser Nachrichten

Die Schaffhauser Nachrichten sind das, man muss es neidisch eingestehen, einflussreichste Medium der Region; einzige Tageszeitung und das auflagenstärkste Bezahlmedium. Die SN nennen sich selbst «ein von Sonderinteressen» unabhängiges Medium. Dass die Schaffhauser Nachrichten dem FDP-Kandidaten politisch näher stehen, war noch nie ein Geheimnis. Im letzten Ständeratswahlkampf unterstützten sie die FDP-Kandidatin Nina Schärrer noch dann, als sich diese zurückgezogen hatte. Aber so enthusiastisch wie im diesjährigen Wahlkampf haben die SN die Flagge des Freisinns schon lange nicht mehr geschwenkt. Anders als die AZ und der Bock macht die SN offene Wahlempfehlungen – im Fall dieser Ständeratswahl ging der ausführliche Text wenig überraschend an Severin Brüngger.

Es gab zwar Formate, in denen beide Kandidaten präsentiert wurden: Im Juni veröffentlichten die SN ein Doppelinterview, geführt von Chefredaktor Robin Blanck. Und beide Kandidaten durften einem Reporter zeigen, welche Orte im Kanton ihnen wichtig sind.

Die Berichterstattung zu den zwei Kandidaten unterschieden sich insgesamt aber deutlich voneinander. Severin Brüngger wurde neben den schon erwähnten Formaten in zwei weiteren redaktionellen Artikeln auf einem Flug und beim Feldschiessen begleitet. Zudem schreibt Brüngger eine Kolumne bei den SN, sie wurde im Wahlkampf nicht ausgesetzt und ist im betrachteten Zeitraum zwei Mal erschienen. Eine Woche vor dem Wahltermin ist zudem ein Artikel erschienen, der zwar von Simon Stocker handelt, den die AZ aber als «im Interesse von» Severin Brüngger gewertet hat: In «Wiederholt sich die Causa Stocker?» wird insinuiert, dass es beim aktuellen Wohnsitz Stocker Auffälligkeiten gibt – man muss den Artikel ganz zu Ende lesen um herauszufinden, dass dem nicht so ist.

Der Platz, den die SN Stocker eingeräumt haben, ist hingegen nicht nur fast halb so gross, sondern auch qualitativ anders: Die Texte, die die AZ als Stocker-Plattform gewertet hat, sind eine Kolumne von Gianluca Looser, die dieser für eine Empfehlung genutzt hat. Und eine Auswertung von Stockers bisheriger Arbeit in Bern, welche die SN-Redaktion ohne Stockers Zutun vorgenommen hat.

Neben den Kandidaten haben die SN in ihrer Berichterstattung einen weiteren Fokus gelegt: Der «Plakat-Frage» wurden fünf Texte gewidmet, manche davon wurden ursprünglich von der Weltwoche angestossen. Die AZ hat sie der allgemeinen Wahlkampfberichterstattung zugeschlagen.

Artikel zu beiden Kandidaten und zum Wahlkampf: 11
Artikel mit Plattform für oder im Interesse von Stocker, summierte Zeichenzahl: 3 / 21 031
Artikel mit Plattform für oder im Interesse von Brüngger, summierte Zeichenzahl: 7 / 38 587
Erwähnungen insgesamt Stocker: 22
Erwähnungen insgesamt Brüngger: 29

Radio Munot

Das Radio Munot gehört zum selben Verlag wie die SN. Das Radio erhält aber Radio- und Fernsehbeiträge des Bundes, die sie zu politischer Neutralität verpflichtet, und man merkt es der Berichterstattung an. Beim Radio Munot gab es je einen «Politzmorge» mit den Kandidaten, mit 20 Sekunden Vorteil Stocker: So viel länger war dieses Format bei ihm, als die 2 Minuten 30, in denen sich Severin Brüngger alleine präsentieren durfte. Am 5. Juni widmete Munot-Journalist Jimmy Sauter den beiden einen «Stammtisch»: In einem Doppelinterview wurden die zwei eine Stunde lang zu politischen Positionen befragt. In den Kurzmeldungen wurde Severin Brüngger einige Male häufiger erwähnt – die meisten dieser Meldungen widmen sich seiner aktuellen politischen Arbeit, etwa im Kantonsrat.

Beiträge zu beiden Kandidaten und zum Wahlkampf: 3
Beiträge mit Plattform für oder im Interesse von Stocker: 1 /2:52 Minuten
Artikel mit Plattform für oder im Interesse von Brüngger: 1 / 2:29 Minuten
Erwähnungen insgesamt Stocker: 9
Erwähnungen insgesamt Brüngger: 12

Bock

Die Bock-Redaktion selbst – die Zeitung gehört mit Giorgio Behr dem reichsten Schaffhauser – hat sich den Kandidaten in einer dreiteiligen Serie gewidmet. Teil eins war ein Doppelinterview, Teil zwei eine kurze Gegenüberstellung, Teil drei eine Strassenumfrage (die, wäre sie repräsentativ, eine Wahl Stockers vorhersagen würde). In der letzten Ausgabe vor der Wahl erschien zudem ein Text, in dem Medien gemahnt wurden, ihre Macht politisch neutral zu nutzen. Im selben Text wird dann aber jenen Leserbriefschreiber:innen widersprochen, die von einer guten Vernetzung Stockers in Bern sprechen. Dieser Text wurde keiner Seite zugeschlagen. Allerdings erscheint auf der letzten Seite des Bocks jeweils auch das Publikationsorgan des Schaffhauser Bauernverbandes. Weil die Beilage schwach gekennzeichnet und nicht wirklich von redaktionellem Inhalt zu unterscheiden ist, hat die AZ sie mitgezählt. Und dort – der Schaffhauser Bauernverband hat sich offiziell für Brüngger ausgesprochen – macht der FDP-Kandidat arg Acker gut. Virginia Stoll hat Brüngger in einem Leitkommentar empfohlen und Mitte Juni konnte Brüngger in einem grossen Interview seine Vorteile für den Bauernstand darlegen. Im Bild posiert er mit einem Kalb. Für Simon Stocker schlägt hingegen im Bock nur eine Kolumne von Rainer Schmidig zu Buche, in der dieser die Leser:innenschaft auffordert, den SPler zu wählen.

Artikel zu beiden Kandidaten und zum Wahlkampf: 5
Artikel mit Plattform für oder im Interesse von Stocker, summierte Zeichenzahl: 1 / 1988
Artikel mit Plattform für oder im Interesse von Brüngger, summierte Zeichenzahl: 2 / 8489
Erwähnungen insgesamt Stocker: 8
Erwähnungen insgesamt Brüngger: 10

AZ

Zuletzt zur Nabelschau. Die AZ hat in der Redaktion vorab längere Diskussionen geführt, wie wir die zwei Kandidaten der Leser:innenschaft präsentieren sollen. Auch bei uns ist es kein Geheimnis, dass einer der Kandidaten der Gesamtredaktion politisch näher steht. Die AZ hat trotzdem den Anspruch, den Kandidaten eine ungefähr gleiche Plattform zu geben. Bei der AZ ist es üblich, dass Kandidaten für grössere politische Ämter des Kantons porträtiert werden – bisher meistens in separaten Texten. Die aktuelle Situation ist aber auch für Medienschaffende einigermassen speziell. Alle kennen Simon Stocker, die AZ hat schon vor seiner ersten Ständeratswahl ein grosses Interview mit ihm geführt.

Deshalb haben wir uns für ein Doppelporträt entschieden, das einen direkten Vergleich der zwei Kandidaten ermöglichen sollte. Die AZ hat sich bemüht, die Kandidaten gleich hart anzugehen, etwas Fett wegbekommen haben sicher beide, Severin Brüngger wohl ein, zwei Polster mehr. Auch unsere sonstige Berichterstattung hat sich meist beiden gleichzeitig gewidmet. Wir haben in dieser Zeit allerdings zwei Seiten mit einem Fokus auf Simon Stocker produziert: Einmal hat sich die AZ angeschaut, ob Stockers Abwesenheit einen Effekt auf die Abstimmungen der laufenden Session hat. Diesen Text hat die AZ als keiner Seite dienlich taxiert und der allgemeinen Wahlkampf-Berichterstattung zugeschlagen. Im zweiten dieser Texte hat die AZ über die Kritik eines Verfassungsrechtlers am Stocker-Urteil des Bundesgerichtes geschrieben. Diesen Artikel haben wir der Seite Stocker zugeschlagen.

Artikel zu beiden Kandidaten und dem Wahlkampf: 6
Artikel mit Plattform für oder im Interesse von Stocker, summierte Zeichenzahl: 1 / 5157
Artikel mit Plattform für oder im Interesse von Brüngger, summierte Zeichenzahl: 0/0
Erwähnungen insgesamt Stocker: 13
Erwähnungen insgesamt Brüngger: 15

Zur Methode
Die SN, die AZ, der Bock und das Radio Munot wurden für den Zeitraum vom 11. April – am Tag davor wurde Severin Brüngger offiziell als FDP-Ständeratskandidat nominiert – bis zum 25. Juni auf Beiträge über Simon Stocker und Severin Brüngger durchsucht. Für die AZ haben wir uns erlaubt, die Frist um einen Tag zu verlängern, um diese Ausgabe noch mitzuzählen. Reine Meldungen über die Nomination Brünggers wurden nicht mitgezählt. Für die SN und die AZ haben wir die Schweizerische Mediendatenbank genutzt, beim Bock manuell gezählt und für das Radio Munot die Suchfunktion der Website genutzt. Leserbriefe wurden nicht gezählt, Kolumnen und Meinungsbeiträge schon.
In der Kategorie «Artikel mit Plattform für oder im Interesse von» wurden nur grössere Artikel gezählt, die im Zusammenhang mit den Wahlen stehen. Nicht gezählt wurden Erwähnungen, wenn zum Beispiel Severin Brüngger einen Sportanlass besuchte oder Stocker Spitex-Leiter wurde. Diese Texte wurden aber bei den «Erwähnungen» gezählt, darunter sind alle Artikel und Kolumnen zusammengefasst, in denen der Kandidat erwähnt wurde.

The post Tintenschmerz appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Am 14. Juni ist feministischer Streik. Wo steht die Bewegung gerade? Und wohin geht die Reise? Eine Momentaufnahme in sieben Gesprächen. https://www.shaz.ch/2025/06/14/sind-wir-schon-da/ Sat, 14 Jun 2025 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9486 Rosmarie Widmer Gysel war von 2005 bis 2018 Finanzdirektorin des Kantons Schaffhausen. Foto: Robin Kohler Die Tatsache, dass wir heute nicht wirklich weiter sind in Sachen Gleichstellung, belastet mich manchmal. Ich habe sogar das Gefühl, das gewisse Rollenbilder mehr in Stein gemeisselt sind als früher. Das ist doch völlig widersinnig. Es sollte doch umgekehrt sein, […]

The post Am 14. Juni ist feministischer Streik. Wo steht die Bewegung gerade? Und wohin geht die Reise? Eine Momentaufnahme in sieben Gesprächen. appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>

Rosmarie Widmer Gysel war von 2005 bis 2018 Finanzdirektorin des Kantons Schaffhausen. Foto: Robin Kohler

Mit 21 Jahren ging ich ins Militär, der Grund war tatsächlich die Diskussion um das Frauenstimmrecht. Mein Vater war vehement dagegen (meine Mutter absolut dafür), seine Haltung dazu war: «Beweist, was ihr draufhabt, bevor ihr Forderungen stellt.» Eine Aussage, die mich seither immer begleitet hat. Ich habe mich damals also vor allem aus Trotz ausheben lassen. Nach der Grundausbildung machte ich weiter, bis zum Rang eines Obersts. In meinem ersten WK als Zugführer leitete ich einen Zug Gebirgsfüsiliere: alles Männer, alle zwei Köpfe grösser als ich, alle hatten noch nie eine Frau als Chef gesehen. Aber es ging gut, und das zeigte mir, dass es möglich ist, wenn man will. Ich hatte mein ganzes Berufsleben und auch in meiner Politkarriere vor allem mit Männern zu tun. Trotzdem gab es nur ganz wenige Momente, wo ich Ungleichheit zu spüren bekam. Vielleicht bin ich auch einfach mit einer gewissen Selbstverständlichkeit an die Sache herangegangen, ich brauchte gar nie zu diskutieren.

Ich denke, heute ist viel Unsicherheit vorhanden in der Diskussion, wie ein Mann oder eine Frau sein sollte. Konzentrieren wir uns auf Dinge, die gar nicht so wichtig wären? Jeder sollte doch so sein dürfen, wie er ist. Und wenn dir einer zu nah kommt, wehrst du dich. Natürlich gibt es Ungerechtigkeiten und Ungleichheit, trotzdem würde ich nie an einen Frauenstreik gehen. Ich kann nur immer wieder demonstrieren, dass man erreichen kann, was man will. Ich erfülle meine Pflichten, nehme mir aber auch alle Rechte aus, denn ich bin überzeugt davon, dass man sich selbst und seine Rechte nicht hinterfragen darf. Es braucht mehr Frauen, die ihre Position als selbstverständlich wahrnehmen.

*

Paula Will ist Care-Aktivistin und in Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit. Foto: Peter Pfister

Ich erlebe es in meinem Berufsalltag: Die Ansicht, dass Angehörigenpflege nicht die Aufgabe der Söhne oder Enkel, sondern der Töchter sei, ist immer noch sehr verbreitet. Im Gesundheitswesen braucht es mehr Wertschätzung, und ich rede nicht von Applaus. Der Respekt für Care-Arbeit und den Pflegeberuf an sich fehlt auch sonst. Oft auch, weil die wenigsten Patient:innen hinter die Kulissen sehen. Es ist zeitweise frustrierend, denn vieles, was wir in der Pflege leisten, ist unbezahlte Care-Arbeit. Weil wir nicht «messbare» Leistungen gar nicht abrechnen können. Ich muss jedes Mal prüfen, ob in der vorab festgelegten Pflegezeit auch noch Zeit für ein Gespräch bleibt. Es sollte andersherum sein: Gerade fürs Zuhören und Reden bleibt oft zu wenig Zeit, was aber wichtig wäre, weil die Leute auch einfach mal etwas loswerden müssen. Eigentlich wäre dies Aufgabe der sozialpsychologischen beziehungsweise Betreuungsbranche. Es gibt aber schlicht keine Angebote für Menschen, die kein soziales Umfeld mehr haben.

Oft verstehen Patient:innen nicht, warum man nicht sofort springt. Dann wiederum gibt es viele, die sich sehr bewusst sind, was wir im Pflegeberuf leisten. Das sind meistens Frauen, die wissen, was es heisst, Care-Arbeit zu leisten, und zwar altersunabhängig. Gerade ältere Frauen sagen oft, sie seien sogar froh, eine Auszeit im Spital zu haben, weil zu Hause der Mann und der Haushalt warten. Haus- und Care-Arbeit ist Frauensache – die Stigmatisierung des Themas ist immer noch hoch, es beginnt schon bei berufstätigen Müttern, die schief angeschaut werden, wenn sie stillen.

Die jüngere Generation ist sich des Problems bewusster, auch weil der Zugang zu Informationen einfacher ist. Allerdings führt dies oft zu extremen Ansichten, weil die eigene Bubble mit dem Algorithmus geformt wird. Es fehlt das Bewusstsein, dass das Ziel eben noch nicht erreicht ist. Es sollte viel selbstverständlicher darüber gesprochen werden. Gleichstellung muss Lehrstoff werden, am besten schon im Kindergarten, das ist wichtiger denn je.

Für viele Berufskolleg:innen und auch für mich ist unsere Arbeit dennoch Berufung, ich glaube wirklich, dass ich einen aktiven Teil zu einer besseren Welt beitragen kann. Das motiviert mich, weiterzumachen.

*

Martine Favero ist Gynäkologin in Feuerthalen. Foto: Peter Pfister

«Die Pille für den Mann kommt in fünf Jahren» – das ist ein Running Gag in der Medizin. Bisherige Versuche, die Pille an den Mann zu bringen, sind meistens an den Nebenwirkungen gescheitert. Dazu gehörten Stimmungsschwankungen, Haarausfall und Gewichtszunahme; auch die Angst vor der Unfruchtbarkeit oder Inkompatibilität mit Alkohol waren Hindernisse. Bei Frauen waren solche Nebenwirkungen der Pille lang akzeptierter. Ich sehe zwei Gründe dafür. Erstens müssen sich Menschen mit Uterus eher mit den Konsequenzen einer Schwangerschaft oder eines Schwangerschaftsabbruchs beschäftigen. Und dann ist da auch der Gedanke mancher Männer: Das ist nicht unser Problem, darum müssen wir uns nicht kümmern.

Ich merke aber, dass sich das allmählich ändert. Bei vielen Frauen macht sich eine Hormonmüdigkeit breit. Gleichzeitig fragen sich mehr Männer, wie sie Verantwortung übernehmen können.

Bei abgeschlossener Familienplanung ist die Unterbindung des Mannes, die Vasektomie, eine sehr gute Option. Auch da gibt es viele Vorurteile – etwa, ob man dann noch «ein richtiger Mann» ist. Da versuche ich genau zu erklären, was der Eingriff bedeutet und was nicht.

Ist die Familienplanung nicht abgeschlossen, ist das Kondom die populärste Methode, die zeitgleich auch vor sexuell übertragbaren Erkrankungen schützt. Neu – und gleichzeitig sehr alt – sind thermische Methoden, bei denen die Hoden erwärmt werden. Hoden hängen ja aus einem Grund etwas ausserhalb des Körpers: Sind sie der Körpertemperatur von 37 Grad ausgesetzt, wird die Spermienproduktion gehemmt. Früher haben Menschen darum ihre Hoden heissem Sand ausgesetzt oder in warmem Wasser gebadet. Die Pharmaindustrie hat diese Methode vernachlässigt, wohl weil kaum Gewinn damit gemacht werden kann.

In Frankreich hat eine Gruppe Männer begonnen, mit einem Ring thermisch zu verhüten. Die Idee ist, den Ring über den Penis und Hodensack zu stülpen und die Hoden damit etwas anzuheben. Als Medizinalprodukt darf dieser Ring noch nicht verkauft werden – dafür fehlt die Studienlage. Die Medizin ist enorm vorsichtig in der Zulassung neuer Produkte: Sie müssen sicher und reversibel sein und dürfen Nutzer:innen nicht schaden. Darum verkaufen die französischen Aktivisten diesen Ring jetzt als Talisman und sammeln aktuell Geld für die Zulassung.

*

Gesa Schneider ist Direktorin des Museums zu Allerheiligen. Foto: Peter Pfister

Einerseits sind Orte der Kultur an sich politisch, weil sie für etwas einstehen, das in einem kapitalistischen System nicht per se legitimiert ist. Ausstellungen und Museen müssen nicht zwingend eine bestimmte Politik vertreten, aber sie sollen Orte kreieren, die zum Nachdenken anregen. Gleichzeitig will ein Museum ein Ort sein, an dem ganz viele verschiedene Menschen zusammenkommen, nicht nur solche mit einer vorherrschenden Meinung.

Trotzdem sind Feminismus, Kunst und Kultur eng miteinander verbunden: Bereits in den 1980er-Jahren wollte eine Aktion der Kunstaktivistinnen «Guerilla Girls» aufzeigen, wie viele Frauen in Museen eine Bühne bekommen. Das Ergebnis war ernüchternd: Im Metropolitan Museum of Art stammten nur knapp fünf Prozent aller Kunstwerke von Frauen, wohingegen 85 Prozent der Aktdarstellungen Frauen abbildeten. Diese Zahlen haben sich auch heute nicht stark verändert, das frustriert. Dabei finde ich unbedingt: Wir müssen uns fragen, wen wir wie adressieren, mit wem wir zusammenarbeiten. Feminismus ist daher nur ein anderes Wort für Gleichberechtigung in der Gesellschaft – und ich denke, eben diese sollte ein Museum spiegeln. Ich bin keine Aktivistin und keine Missionarin, aber in meiner Position habe ich eine Vorbildfunktion. Ich kann Aspekte, die mir wichtig sind, aktiv einbringen – zum Beispiel die Verwendung von inklusiver Sprache.

Auch vermeintlich kleine Sachen sind wichtig, um ein Umdenken zu provozieren. Und dieses Umdenken braucht es immer noch, das erlebt wohl jede Frau. Das Aussehen wird kommentiert, das Outfit, in meinem Fall ist es meine Kurzhaarfrisur. Das machen Männer – und auch Frauen. Es kam auch in meinem Arbeitsalltag vor, dass manche nach Teamsitzungen sagten: Wenn eine Frau redet, gibt es immer mindestens drei Männer, die gerade etwas anderes besprechen und nicht mehr zuhören.

Das ist auch ein Grund, weshalb ich mein Hochdeutsch bewusst beibehalten habe, anstatt auf Schweizerdeutsch umzusteigen. Ich habe mittlerweile gemerkt: Die Sprache hilft mir dabei, eine Grundautorität aufzubauen, ernster genommen zu werden. Ich verschaffe mir Gehör.

*

Frank Windelband ist Wirt der Schäferei in der Schaffhauser Webergasse. Foto: Peter Pfister

Die Schäferei soll für alle ein möglichst sicherer Ort sein. Das merken die Leute, wenn sie hier hereinkommen, sofort. Wir hängen natürlich kein Schild über die Tür, das sagt: «Ladies, hier macht euch keiner an.» Aber man merkt zum Einen an den Klebern an den Wänden, dass es hier politisch eher in eine antifaschistische Richtung geht. Und unser Klientel tickt auch so, dass man hier aufeinander Acht gibt. Das spricht sich herum. In 17 Jahren Schäferei habe ich zwei Mal Kerle wegen ihres Verhaltens Frauen gegenüber rausgestellt: Einer hat sich auf eine Art geäussert, die mit unserem Weltbild nicht klarging. Ein anderer hat nicht verstanden, dass Nein Nein heisst. Der Herr wurde dann von mir und einem Kollegen herauskomplimentiert. Das war auch für ihn besser.

Ich kenne relativ viele Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Es ist ein garstiges Thema. Die Vergewaltigung beim Ebnatkreisel letztes Jahr und die Geschichte von Fabienne W. haben mich ziemlich erschüttert. Ich habe mich danach bei den SP-Frauen erkundet, was ich zu einem sichereren Ausgangsleben beitragen könnte. Sei es ein Sammeltopf für Geldspenden, damit Flyer finanziert werden oder Aufkleber mit QR-Codes, die Hilfsangebote aufzeigen. Keine grosse Sache also, aber es wäre ein Beitrag.

Im Ausgang spielt natürlich Alkohol eine Rolle. Der kann schon mal die eine oder andere Gehirnwindung verschlacken. Darauf sollte in der Gastro mehr Aufmerksamkeit liegen. Ich meine insbesondere Grossveranstaltungen wie das Lindlifest oder früher im Orient – Orte, an denen auch mal unkontrolliert reingeschüttet wird. Das mag ich nicht. Ich habe auch schon jemandem am Stammtisch gesagt: Du kriegst hier nichts mehr heut Nacht. Und klar kann das auch schwierig werden und verbal ausarten. Wichtig ist es trotzdem, und ich hab da als Wirt auch mehr zu sagen als vielleicht andere Gäste.

Ansonsten wünsche ich mir, dass der eine oder andere Mann einmal die Augen aufmacht und sieht, was in der Gleichstellungspolitik falsch läuft – und dass es sich nicht um Fantasiegebilde irgendwelcher Feministinnen handelt. Gleichstellung ist nicht einfach «Frauensache». Wenn man in dieser Gesellschaft den Status Quo verändern will, geht das nicht geschlechtergetrennt. Bewegen können wir uns nur zusammen.

*

Rahel Brütsch aus Thayngen ist im Vorstand des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands. Foto: Peter Pfister

Für mich ist Feminismus kein Schimpfwort, vielmehr sollte Gleichberechtigung selbstverständlich sein. Jeder sollte so leben können, wie er möchte und wie es für ihn stimmt. Aber ob das Feminismus ist oder einfach normal sein sollte? Es braucht diese Bewegung nach wie vor, auch wenn man sieht, dass sich etwas verändert.

In erster Linie finde ich es in allen Formen des Zusammenlebens wichtig, dass jeder machen kann, was er als richtig empfindet, und Wertschätzung erhalt für das, was er tut. Ich bin seit 20 Jahren Bäuerin. Heute lebe ich nicht mehr als Lebenspartnerin auf dem Hof, meiner Arbeit dort gehe ich aber nach wie vor mit Freude und Motivation nach. Ich habe schon das Gefühl, dass sich die Rolle der Frauen auf Höfen verändert hat und sie den Mut haben, ihren Weg trotz bestehender gesellschaftlicher Bilder, wie eine Bäuerin zu sein hat, weiterzugehen. Ich finde es sehr wichtig, dass Frauen sich trauen, für sich einzustehen und sich nicht von klischeebehafteten Bildern leiten oder unter Druck setzen zu lassen.

Gerade wurde die soziale Absicherung der Partnerin oder des Partners auf landwirtschaftlichen Betrieben zum ersten Mal in der Agrarpolitik verankert: Der Landwirt ist verpflichtet, seine Frau zu versichern, sonst hat dies Auswirkungen auf die Direktzahlungen. Ein wichtiger Entscheid, denn es ist noch nicht auf allen Betrieben so, dass die Partnerin entweder Teilhaberin oder Angestellte ist, weil es oft schlicht vergessen geht, dies festzulegen. Trotzdem wäre es auf vielen Betrieben ein Riesenproblem, wenn die Frau zum Beispiel unfallbedingt ausfallen würde und kein Taggeld bezogen werden könnte.

So viel zum Feminismus: Es ist nicht allein an den Männern, für die Frauen und ihre Rechte einzustehen, sondern Frauen müssen den Mut haben, Forderungen zu stellen. Es profitieren schliesslich alle davon. Und diese Rechte wären für alle Frauen wichtig, gerade für solche, die sich entscheiden, Hausfrau zu sein und nicht extern zu arbeiten. Aber dort ist es nicht sichtbar, nicht steuerbar. In meiner Verbandstätigkeit bleiben wir beharrlich dran für alle Frauen vom Land, sind offen für andere Meinungen und machen uns stark für pragmatische, tragfähige Lösungen.

*

Sind Sie heute eine andere Frau,
Sümeyra Eliçabuk?

In meiner Heimat, der Türkei, habe ich viel gearbeitet. Ich bin Ärztin – das ist meine Berufung. Ich habe viel in diese Karriere hineingegeben. Manchmal kam ich nur kurz nach Hause, um die Kinder ins Bett zu bringen, bevor ich nochmals ins Spital gefahren bin.

Seit dreieinhalb Jahren lebe ich in der Schweiz. Ich bin immer noch Ärztin, spezialisiert auf Pathologie. Aber ich bin nicht mehr nur das. Es haften neue Vorurteile an mir: Ich bin eine Frau. Ich bin Mutter. Ich bin Muslima. Ich trage Kopftuch. Und ich möchte Teilzeit arbeiten, idealerweise 70 Prozent. All das macht es doppelt und dreifach schwer.

Schon mein Mann – auch er ist Arzt – ist bei der Stellensuche auf Ablehnung gestossen, einfach weil er Türke ist. Doch bei ihm war es nicht dasselbe. Auch er hat drei Kinder, aber das scheint bei ihm kein Problem zu sein. Die Leute denken nur an mich.

Es wirkt fast so, als wollte die Politik, dass Frauen nicht arbeiten. Frauen mit Kindern müssen entweder zuhause bleiben und den Beruf aufgeben oder eine Kita oder Tagesmutter finden. All diese Optionen sind finanziell schwierig. Ein kleines Arbeitspensum lohnt sich also kaum – aber arbeite ich viel, heisst es, ich vernachlässige meine Kinder.

Ich könnte auch arbeiten, ohne Kopftuch zu tragen. Aber ich komme gar nicht so weit, das zu zeigen. Kürzlich habe ich mich auf eine Stelle als Pathologin beworben und alle Unterlagen eingereicht. Man stellte mir einen Vertrag in Aussicht, es fehlte nur noch die Kopie meines Passes. Nachdem ich diese verschickt hatte, hörte ich nichts mehr. Später kam ein Anruf: Die Stelle sei nur für Studierende. Der Arbeitgeber hat erst auf dem Pass ein Foto von mir gesehen – darauf trage ich Kopftuch. Das scheint zu irritieren.

In der Türkei sind Bewerbungsverfahren anonym. Es gibt keine Vorstellungsgespräche wie hier. Geschlecht oder Aussehen spielen also keine Rolle. Auch beim Lohn gibt es dadurch weniger Diskriminierung.

Oft höre ich auch: «Du sprichst sehr gut Deutsch!» Die Menschen sind überrascht, selbst in Bewerbungsgesprächen. Und dennoch heisst es am Ende, mein Deutsch sei nicht gut genug.

Was wir brauchen, ist Inspiration. Auch auf dem Arbeitsmarkt. Vorbilderinnen, sozusagen.

Sümeyra Eliçabuk ist aus der Türkei geflüchtet. Da sie aktuell auf Stellensuche ist, möchte sie ohne Foto sprechen.

*

Texte aufgezeichnet von Andrina Gerner, Fabienne Niederer und Sharon Saameli

The post Am 14. Juni ist feministischer Streik. Wo steht die Bewegung gerade? Und wohin geht die Reise? Eine Momentaufnahme in sieben Gesprächen. appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Abgänge – und viele Fragen https://www.shaz.ch/2025/05/29/abgaenge-und-viele-fragen/ Thu, 29 May 2025 16:51:19 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9437 Lehrer:innen am Berufsbildungszentrum protestieren gegen zwei Entlassungen und sprechen von einer Kultur der Angst. Was ist passiert? Als Marc Kummer am Donnerstagabend des 8. Mai die Kammgarnbühne betritt, gibt es Grund zu feiern. Seit 150 Jahren gibt es das Berufsbildungszentrum in Schaffhausen. Das Fest in der Kammgarn ist der Auftakt fürs Jubiläumsprogramm. In der Nacht […]

The post Abgänge – und viele Fragen appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Lehrer:innen am Berufsbildungszentrum protestieren gegen zwei Entlassungen und sprechen von einer Kultur der Angst. Was ist passiert?

Als Marc Kummer am Donnerstagabend des 8. Mai die Kammgarnbühne betritt, gibt es Grund zu feiern. Seit 150 Jahren gibt es das Berufsbildungszentrum in Schaffhausen. Das Fest in der Kammgarn ist der Auftakt fürs Jubiläumsprogramm. In der Nacht darauf wird es eine Party für die Studierenden geben, und am Slow-Up wird das «BBZ-Mobil» mit dem Volk mitfahren.

An diesem Abend in der Kammgarn also sagt Marc Kummer, seit fünf Jahren Rektor des BBZ, ins Mikrofon: «Die Berufsbildung lebt vom Miteinander.»

Es sind versöhnliche Worte. Und das BBZ hat tatsächlich eine schwierige Zeit hinter sich. Nachdem der ehemalige Regierungsrat Christian Amsler den langjährigen Schulleiter Ernst Schläpfer vor die Tür gestellt hatte, musste erst eine Interimslösung her. Dann kamen Kummer und ein fünfköpfiges Schulleitungsteam und begannen, das BBZ zu reformieren.

Im Schatten der Scheinwerfer aber brodelt es wieder. Im Kollegium ist die Stimmung schlecht. Die Rede ist von einer Angstkultur, von einem Mangel an Mitsprache, ja von Verletzungen von Fürsorgepflichten. Der Schulbetrieb funktioniere zwar weiterhin. Aber die Stimmung ist so schlecht, dass jetzt wieder eine externe Aufarbeitung im Raum steht.

Der Auslöser: Zwei Personalvertreter am BBZ haben innert kurzer Zeit ihre Stelle verloren. Dutzende Lehrpersonen – im einen Fall über 100, im anderen 70 – verlangen in Petitionen, dass die beiden an der Schule bleiben können. Das Signal, das bei ihnen ankommt: Wer Kritik äussert und sich für Kolleg:innen einsetzt, wird sanktioniert.

So muss man nach Jahren, in denen es ruhig war ums BBZ, wieder fragen: Was ist da los an dieser Schule?

Der erste Knall

«Wer aufsteht, wird abgesägt – das kann man am BBZ gerade live erleben.» Als Nicola Kohler, ein Mann mit einer Stimme wie ein professioneller Händedruck, in der Redaktion Platz nimmt, wählt er deutliche Worte. Seit bald vier Jahren unterrichtet Kohler am BBZ. Davor war er während zweier Jahrzehnte in der Industrie tätig, doch das Unterrichten gebe ihm mehr Sinnhaftigkeit. Gegenüber der AZ sagt er: Ihm gehe es um das grosse Ganze, nicht um seine Personalie. Und doch dreht sich ein guter Teil des Konflikts am BBZ um Letzteres.

Denn Kohler ist nicht nur Lehrer, sondern auch Personalvertreter am BBZ. Er präsidiert die Schaffhauser Sektion des Schweizer Dachverbandes der Berufsschullehrpersonen (BCH) und vertritt damit all seine Kolleg:innen im Kanton. Zudem nimmt er in dieser Rolle beratend Einsitz in der Aufsichtskommission des BBZ. Diese besteht neben Kohler aus Vertretern der Industrie und der Schulleitung. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, Reglemente, Studienführer und Lehrpläne zu erlassen oder die Umsetzung von Bundesvorschriften zu überwachen. Verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen für Lehrpersonen, ist es Nicola Kohlers Aufgabe, in diesem Kontext darauf hinzuweisen.

Das tut er auch, als die Regierung 2024 die Berufsschullehrerverordnung überarbeitet. «Nichts von dem, was die Schulleitung und die Lehrpersonen in der Vernehmlassung vorgeschlagen haben, hat sich in dieser Verordnung niedergeschlagen», sagt Kohler heute. Der Frust darüber entlädt sich im Sommer an einer Kommissionssitzung mit Rektor Kummer und Regierungsrat Strasser.

Am 5. Dezember versenden Patrick Strasser und das Kommissionspräsidium einen Brief an das gesamte Schulpersonal. Darin zeigen sie sich «besorgt über die Arbeitsweise» des Präsidenten und des Vorstandes von BCH Schaffhausen – es werde Misstrauen gegen die Leitung geschürt, und dies in einem Ton, der das Gefühl schwinden lasse, «es mit einem konstruktiven Gesprächspartner zu tun zu haben». Der Brief liegt der AZ vor.

Was danach geschieht, liest sich wie eine klassische Eskalation. Der Vorstand von BCH Schaffhausen reagiert schriftlich auf den offenen Brief und stellt sich hinter seinen Präsidenten. Zwei Tage später folgt Post von 55 Lehrpersonen, die ihrem Vertreter ebenfalls den Rücken stärken: Die Anschuldigungen seien «pauschalisiert und in dieser Form haltlos». Vielmehr würde der Schulalltag am BBZ nicht in so ruhigen Bahnen verlaufen wie dargestellt. Auch diese Briefe liegen der AZ vor.

Nicola Kohler, Lehrer und Lehrpersonenvertreter am BBZ.
Nicola Kohler, Lehrer und Lehrpersonenvertreter am BBZ.

Am 20. März 2025 erfährt Kohler schliesslich, dass er per Ende Schuljahr seinen Posten räumen muss.
Gekündigt wird ihm im engeren Sinn zwar nicht: Kohler befindet sich noch in der Ausbildung, weshalb er – wie es immer wieder Praxis am BBZ ist – nur einen befristeten Arbeitsvertrag hat. Kohler spricht in diesem Kontext von Kettenarbeitsverträgen. Dass die Schulleitung seinen Vertrag nun – trotz laufendem Studium und, wie er sagt, entsprechender Zusage seitens Abteilungsleitung – nicht verlängert, irritiert Kohler enorm: «Ich habe für meine Arbeit immer ausgezeichnete Beurteilungen erhalten. Im Herbst 2024 wurde ich zudem mit Zweidrittelsmehrheit als Lehrpersonenvertreter in die Aufsichtskommission gewählt.» Offiziell begründet die Schulleitung die Nichtverlängerung seiner Anstellung mit einer Formalität: Im Sommer 2026 tritt die neue Bildungsverordnung in Kraft, und die sieht vor, dass Lehrpersonen nebst der Lehrtätigkeit auch ein Teilzeitpensum in der Industrie leisten, was Kohler nicht tut. «Ich habe angeboten, eine entsprechende Stelle zu suchen. Da wurde mir aber ohne Begründung gesagt, diese Option gebe es für mich nicht», sagt Kohler.

Was im Kollegium für zusätzlichen Unmut sorgt: Nur kurze Zeit später, Anfang April, widerfährt einer Dozentin an der HF Pflege – bis Ende 2024 die zweite Personalvertreterin am BBZ – dasselbe.

«Immer wieder vertröstet»

Wir nennen die betroffene Frau in diesem Bericht Jenny Stauffer*. Sie will gegenüber der Öffentlichkeit anonym bleiben, arbeitet sie doch seit über 20 Jahren im Kanton – erst als Pflegefachfrau in einer Institution im Kanton Schaffhausen, seit mehr als fünf Jahren als Dozentin an der Höheren Fachschule Pflege, die ans BBZ angeschlossen ist. Auch sie vertrat ihren Fachbereich in der Aufsichtskommission – sogar auf Empfehlung von Schulleiter Kummer.

Stauffer fing einst als Dozentin ohne pädagogische Ausbildung am BBZ an und startete bald das berufsbegleitende Studium. «Die Schulleitung legte mir die pädagogische Ausbildung nahe und stellte mir nach Studienabschluss einen unbefristeten Vertrag in Aussicht», sagt sie am Telefon. «Darum war ich zuversichtlich. Als die Ausbildung abgeschlossen war und ich nachzufragen begann, wurde ich aber immer wieder vertröstet.»

Stauffer und Kohler haben einige Parallelen. Auch Stauffer erzählt von ausgezeichneten Leistungsbeurteilungen für ihre Arbeit und davon, dass sie als Personalvertreterin auch den Mut habe, Missstände anzusprechen. Als sie am 2. April erfährt, dass ihr befristeter Vertrag nicht verlängert wird, erhält sie aber eine andere Begründung von der Schulleitung als Kohler: eine Reorganisation aufgrund der sinkenden Studierendenzahlen der HF. «Dabei werden im gleichen Atemzug zwei neue Personen eingestellt, die meine bisherigen Unterrichtsstunden übernehmen – mindestens eine davon auch mit befristetem Vertrag», sagt Stauffer. Für sie ist klar: Die Kündigung ist persönlich.

Stauffers Personalie hat unter anderem eine kleine Anfrage im Kantonsrat ausgelöst. EVP-Kantonsrätin Regula Salathé benennt darin «erhebliche strukturelle und arbeitskulturelle Missstände» an der Höheren Fachschule: ein «problematisches Machtgefälle durch befristete Arbeitsverträge, der Verlust langjähriger Fachpersonen trotz gleichzeitiger Neueinstellungen, eine hohe Fluktuation, nicht eingehaltene Anstellungsversprechen sowie mangelnde Transparenz und Kontrolle bei internen Prozessen». Schenkt man der Kantonsrätin Glauben, geht es um mehr als um Jenny Stauffer allein.

«Angst, auszubrennen»

Die AZ hat in den vergangenen Tagen mit vier weiteren Lehrpersonen des BBZ gesprochen. Die meisten von ihnen arbeiten seit vielen Jahren an der Schule. Für alle kamen die faktischen Entlassungen von Kohler und Stauffer überraschend – und hinterlassen Spuren. Der Tenor: Der Umgang der Schulleitung mit den beiden führe zu Unbehagen, Unverständnis und grosser Verunsicherung im Kollegium. Eine Lehrerin bezeichnet die Stimmung seither als «katastrophal», ein anderer spricht von einem «bedrückenden Gefühl in der Brust» und einem schleichenden Verlust der Identifikation mit dem Arbeitgeber. Mehrere berichten, dass sich Kolleg:innen zunehmend zurückhalten – bei schulinternen Anlässen ebenso wie in der offenen Meinungsäusserung. Und einige sprechen von einer Angstkultur, die durch die beiden Abgänge weiter befeuert werde.

«Nicola und ich, wir waren der Funke im Pulverfass.»

Jenny Stauffer

Daneben äussern die Befragten auch Kritik an ihren Arbeitsbedingungen: Sie berichten von spürbar höherem Druck, von mehr Aufgaben und einer stärkeren Hierarchie zwischen Schulleitung und Lehrpersonal. In den Wochenmails – dem schulinternen Kommunikationskanal – würden seitens Schulleitung teils subtile Drohungen mitschwingen. Lehrpersonen würden darin etwa aufgefordert, sich direkt an Vorgesetzte zu wenden, statt «in den Gängen Gerüchten zu glauben oder sie weiterzuverbreiten» (Zitat von der AZ überprüft). Der Schulleiter Marc Kummer wird in diesem Kontext von einzelnen als schwierig beschrieben: als jemand, der nach aussen geschickt und professionell auftrete, intern aber aufbrausend und verletzend sein könne.

Die Sorge geht über das persönliche Wohlbefinden hinaus: Viele fürchten weitere Fluktuationen und einen Verlust von Erfahrung, der die Schulqualität gefährden könne. «Gerade wenn das BBZ mit den Löhnen interkantonal nicht mithalten kann, ist das Arbeitsumfeld entscheidend», sagt ein Lehrer. Die AZ weiss von mindestens einer Kündigung, welche in diesem Kontext eingereicht wurde: «Der Entscheid dazu fiel mir sehr schwer», berichtet die besagte Person, «aber ich kann diese Entwicklung inhaltlich und strukturell nicht mehr mittragen. Ich habe Angst, unter diesen Bedingungen auszubrennen.»

All diese Probleme seien nicht neu – bereits vor einem Jahr habe es Forderungen nach externer Supervision gegeben, sagen mehrere. Doch die Aufsichtskommission, die Schulleitung und das Erziehungsdepartement seien bisher nicht darauf eingegangen.

Im Übrigen haben sich inzwischen auch mehrere Lernende zusammengetan. In diesen Tagen erreichen die Schulleitung Briefe aus der Schüler:innenschaft, die sich sowohl hinter Nicola Kohler als auch Jenny Stauffer stellen. «Für uns ist nicht nachvollziehbar, warum zwei super Lehrpersonen trotz Fachkräftemangel die Schule verlassen müssen», sagt ein Lernender gegenüber der AZ.

Zusammengefasst ergibt sich aus Sicht der Kritiker:innen also das Bild einer bereits aufgeladenen Stimmung, in welcher zwei unbequeme Personalvertretende gehen mussten. So auch das Fazit von Jenny Stauffer: «Nicola und ich, wir waren der Funke im Pulverfass.»

«Das löst Verunsicherung aus»

Die Schulleitung des BBZ hält sich gegenüber der AZ bedeckt. Rektor Marc Kummer lehnt ein Gespräch vollständig ab und verweist auf politische und rechtliche Aspekte des Falls. «Auch für alle weiterführenden Informationen» leitet er ans Erziehungsdepartement weiter. Dieselbe Antwort kommt vom Präsidenten der Aufsichtskommission.

Erziehungsdirektor Patrick Strasser – früher selbst Berufsschullehrer – nimmt sich Anfang dieser Woche Zeit für ein Gespräch. Zur Personalfrage könne er sich aber nicht äussern. Sowohl die Petitionen als auch die kleine Anfrage von Kantonsrätin Salathé sind noch hängig. Zudem haben Kohler und Stauffer personalrechtlich beide Beschwerde eingereicht.

Er müsse ein wenig ausholen, sagt Strasser am Telefon. «Die Schulleitung des BBZ hat in den vergangenen Jahren einen tiefgreifenden Entwicklungsprozess angestossen. Ich hatte immer grosse Freude daran zu sehen, mit welch positiver Energie sich auch viele Lehrpersonen daran beteiligt haben – sei es an den Schulentwicklungstagen oder jüngst bei der Jubiläumsfeier. Der Einsatz ist enorm. Aber ich will nicht verhehlen, dass aktuell ein Konflikt im Gang ist, der auf die Stimmung drückt und Verunsicherung auslöst.»

Strasser – selber Konfliktpartei – schätzt das Ausmass jedoch anders ein. «Die Stimmung am BBZ ist nicht so schlecht, wie manche dies darstellen. Im Umfeld des BCH-Vorstandes mag das zutreffen. Aber ich bin überzeugt, dass die Mehrheit froh wäre, wenn sie ihre Arbeit so fortsetzen könnte, wie sie es jetzt schon tut.» Dies betreffe im Übrigen auch die kleine Anfrage von Regula Salathé, die «nebst den berechtigten Fragen leider Behauptungen aufgestellt hat, als wären sie Tatsachen» – eine Aussage, die Strasser schon gegenüber Radio Munot gemacht hat. Zu den Vorwürfen gegen Rektor Kummer nimmt Strasser deutlich Stellung. Dieser habe am BBZ ein sehr schweres Erbe angetreten und grosse Arbeit geleistet. Das sei ihm anzurechnen. «Mit Marc Kummer habe ich einen sehr guten Austausch und nehme ihn als offen und sehr direkt wahr.»

Dennoch müsse man den laufenden Konflikt nun angehen. Die Aufsichtskommission empfiehlt eine externe, professionelle Begleitung des Prozesses; ein Vorschlag, den Strasser unterstützt. «Das ist der einzige Vorwurf, den ich mir machen muss: Ich hätte früher reagieren sollen. Ich konnte mir angesichts der positiven Erlebnisse am BBZ nicht vorstellen, dass durch eine kleine Gruppe so viel Verunsicherung entstehen kann.»

* Name der Redaktion bekannt

The post Abgänge – und viele Fragen appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Mit Blaulicht und 40 Knoten https://www.shaz.ch/2024/11/22/mit-blaulicht-und-40-knoten/ Fri, 22 Nov 2024 07:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=8995 Polizeipatrouillen auf dem Rhein sind dank 500 PS künftig verdammt schnell unterwegs. Ihr ­neues Boot kostet fast 500 000 ­Franken. Braucht es das? Auf dem silberfarbenen Bug des in der Sonne gleissenden Bootes steht Neptun persönlich, flankiert von zwei Nixen, und gleitet über das Wasser. Er legt am Hafen von Stein am Rhein an, wo ihn eine […]

The post Mit Blaulicht und 40 Knoten appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>
Polizeipatrouillen auf dem Rhein sind dank 500 PS künftig verdammt schnell unterwegs. Ihr ­neues Boot kostet fast 500 000 ­Franken. Braucht es das?

Auf dem silberfarbenen Bug des in der Sonne gleissenden Bootes steht Neptun persönlich, flankiert von zwei Nixen, und gleitet über das Wasser. Er legt am Hafen von Stein am Rhein an, wo ihn eine überschwängliche SVP-Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter in Empfang nimmt, um das brandneue Boot der Feuerpolizei mit einer Flasche Champagner auf den Namen «Neptun» zu taufen.

Die skurrile Szene hat im Juni 2023 tatsächlich stattgefunden. Tele Top hat sie für die digitale Ewigkeit festgehalten. Zum Schluss sagte Cornelia Stamm Hurter strahlend in die Kamera: «Das ist das erste Mal, dass ich eine Bootstaufe machen durfte, das ist natürlich eine besondere Ehre. Und es wird wahrscheinlich in meiner politischen Karriere auch das einzige Mal gewesen sein.»

Die Neptun hat wenig Tiefgang und viel PS. Sie kostete rund eine Viertelmillion, also ungefähr einen Jahreslohn von Cornelia Stamm Hurter.

Doch die Finanzdirektorin irrte sich an jenem heissen Sommertag. Sie darf bereits im Mai 2025 erneut Champagner über einen glänzenden Schiffsbug fliessen lassen. Denn nach der Feuerpolizei ist die Schaffhauser Polizei dran. Ihr nahe der Eisenbahnbrücke nach Feuerthalen stationiertes Patrouillenboot (siehe Bild unten) ist 38 Jahre alt und soll ersetzt werden.

Seit 38 Jahren ist dieses Polizeiboot in Betrieb. © Robin Kohler

10 Meter und 500 PS
Budgetiert waren für die «Ersatzbeschaffung Polizeiboot» ursprünglich 400 000 Franken, sie wurde öffentlich ausgeschrieben. Den Zuschlag erhielt das renommierte Luzerner Unternehmen Shiptec, das sich gegen die Beringer Firma Steinemann durchgesetzt hatte und in deren Referenzen sich Kursschiffe, Superjachten und Polizeiboote für mehrere Kantone ebenso finden wie Patrouillenboote für die Armee.

Während der Pandemie wurde auch Material für den Bootsbau teurer, sodass Cornelia Stamm Hurter am 3. Oktober 2023, vier Monate nach der Bootstaufe in Stein am Rhein, beim Gesamtregierungsrat einen Zusatzkredit von 83 428 Franken beantragen musste.

Und an der Marathonsitzung vom Montag dieser Woche beschloss der Kantonsrat weitere gut 40 000 Franken. Der Grund dafür ist die kleine Skurrilität, dass erst nachträglich festgestellt wurde, dass das neue Boot nicht an den alten Platz passen wird und der Steg angepasst werden muss.

Etwas mehr als eine halbe Million also gibt der Kanton Schaffhausen für ein neues Polizeiboot aus – doppelt so viel wie für das Boot der Feuerpolizei. Diese erhält übrigens zusätzlich das alte Polizeiboot und wird es für 26 700 Franken umrüsten.

Warum ist das Polizeiboot so teuer? Und warum hat es zwei Motoren mit zusammen 500 PS – mehr als dreimal so viel wie das Boot der Feuerpolizei? Ist das wirklich nötig?

«Wir kennen den Rhein»
Die Suche nach Antworten führt ins Büro von Hauptmann Martin Tanner, Chef der Verkehrspolizei. Tanner ist seit Jahrzehnten in Uniform auf dem Rhein unterwegs und hat das neue Boot bestellen dürfen – und freut sich darauf. Den Eindruck, ein Luxusboot eingekauft zu haben, zerstreut er mit eloquentem Pragmatismus.

Immer wieder verwendet er die Bezeichnung «Arbeitsschiff» und sagt: «Mir müend chöne schaffe.» Ein relevanter Unterschied zum alten Boot: Das neue sei «ganzjahrestauglich». Denn heute, so Tanner, seien fast das ganze Jahr über Leute auf dem Rhein unterwegs. Das alte Boot wird aber über den Winter eingelagert und im Frühling wieder gewassert.

«Zwei Motoren zu haben, ist auch ein Sicherheitsgewinn», erklärt Martin Tanner weiter. Wer auf einem Fliessgewässer je einen Motorschaden hatte, wird ihm beipflichten. Ausserdem, so Tanner, könne bei Bedarf einfach einer der beiden Motoren ausgebaut und repariert oder ersetzt werden, was bei einem Innenborder nicht möglich sei – wenn der Motor kaputt ist, fährt das Boot nicht. Ebenfalls pragmatisch hat Tanner auf Ausrüstungsbestandteile verzichtet, die andere, vergleichbare Boote haben: «Ich sagte, wir brauchen kein Radar. Wir kennen den Rhein.»

Tanner zeigt auf den Bootsplan, den er auf dem Tisch ausgebreitet hat: «Es ist eigentlich das gleiche wie das alte, nur grösser.» Fotografieren kann man das neue Boot noch nicht, doch beim Hersteller finden wir ein Foto des Rohbaus eines sehr ähnlichen Boots, das für einen anderen Kunden gebaut wurde.

Die Schaffhauser Polizei hat ein Boot ähnlicher Bauweise wie dieser Rohbau bestellt. zVg Shiptec

Absurd hohes Tempo möglich
«Auf dem heutigen, rund 38-jährigen Boot haben wir wenig Platz. Das kann schnell auch gefährlich werden», erklärt Tanner. «Bei einem Rettungseinsatz sind vielleicht vier Polizeitaucher in Vollausrüstung auf dem Boot, plus der Bootsführer und ein zusätzlicher Polizist – plus im besten Fall die gerettete Person.» Das alte Boot misst 7,75 auf 2,5 Meter, das neue wird 9,6 Meter lang und 3,65 Meter breit gebaut.

Und was ist mit den 500 PS? Das Boot wird 40 Knoten (74km/h) schnell fahren können, auf dem Wasser eine absurd hohe Geschwindigkeit. Selbst wenn die Fliessgeschwindigkeit des Rheins abgezogen wird, fährt es theoretisch in 20 Minuten von Schaffhausen nach Stein am Rhein – das ist gleich schnell wie mit dem Polizeiauto. Kein anderes Boot kann nur ansatzweise so schnell den Rhein befahren, denn so viel PS darf niemand haben – es sei denn, man hat, wie die Polizei, eine Ausnahmebewilligung der Regierung.

Martin Tanner beschwichtigt: Es gehe nicht in erster Linie um Tempo, obwohl dieses auch ein Argument sei: Schneller am Unfallort zu sein, könne Leben retten. Wichtig sei aber die Power: «Ich denke an den hohen Wasserstand dieses Jahr: Wenn ich ein Boot oder einen 15 Meter langen Baumstamm von einer Wiffe ziehen muss, wird es mit dem alten Boot von der Leistung her knapp.»

Das Boot ist aufwändig geplant und auf höchste Qualitätsansprüche ausgelegt – das zeigt sich im Plan ebenso wie im Preis. Es stimmt aber auch, dass es ein «Arbeitsschiff» ist und – wenn auch in ziemlich gehobener Ausführung – einer grösseren Version des alten Boots gleicht. Ist eine halbe Million dafür gerechtfertigt? Ja, fanden die Geschäftsprüfungskommission und das Parlament. Kritische Fragen zur Investition gab es im Rat keine.

Das neue Boot werde voraussichtlich im Mai geliefert, sagt Martin Tanner. Er verspricht eine standesgemässe Bootstaufe. Ob sich der Gott des Meeres auch die Ehre geben wird und was der Champagner kosten darf, ist nicht bekannt.

The post Mit Blaulicht und 40 Knoten appeared first on Schaffhauser AZ.

]]>