Politik Archive - Schaffhauser AZ https://www.shaz.ch/category/politik/ Die lokale Wochenzeitung Fri, 19 Dec 2025 10:29:18 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.4.7 https://www.shaz.ch/wp-content/uploads/2018/11/cropped-AZ_logo_kompakt.icon_-1-32x32.jpg Politik Archive - Schaffhauser AZ https://www.shaz.ch/category/politik/ 32 32 Dünne Luft https://www.shaz.ch/2025/12/22/duenne-luft/ Mon, 22 Dec 2025 08:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10426 Im August berichtete die AZ über einen millionenschweren Steuerdeal zwischen dem Kanton und einem US-Unternehmen. Nun hat die OECD dieses Schlupfloch geschlossen. Was bedeutet das für Schaffhausen? «Geschätzter Kollege, Sie wollen mit Ihrer Motion die strategische Standortattraktivität steigern, explizit über Steueranreize, wie Sie es nennen würden. Wir würden es eher Steuerdumping nennen.»  -– Jacqueline Badran, […]

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Im August berichtete die AZ über einen millionenschweren Steuerdeal zwischen dem Kanton und einem US-Unternehmen. Nun hat die OECD dieses Schlupfloch geschlossen. Was bedeutet das für Schaffhausen?

«Geschätzter Kollege, Sie wollen mit Ihrer Motion die strategische Standortattraktivität steigern, explizit über Steueranreize, wie Sie es nennen würden. Wir würden es eher Steuerdumping nennen.» 

-– Jacqueline Badran, Zürcher Nationalrätin der SP

Diesen Montag debattierte der Nationalrat über neue Regeln der OECD zur globalen Mindeststeuer, die spezifisch auf die Schweiz und noch spezifischer auf den Kanton Schaffhausen abzielen. 

Die Vorgeschichte: 

Seit 2024 ist die globale Mindeststeuer in Kraft, seither müssen grosse, international tätige Unternehmen mit einem Umsatz von 750 Millionen Euro und mehr mindestens 15 Prozent Steuern auf ihren Gewinn bezahlen. Die Schweiz war nie Feuer und Flamme für die internationale Steuerrevolution. 

Schaffhausen erst recht nicht. 

Die Schweiz ist eine der grössten Profiteure des internationalen Steuerwettbewerbs. Eine Datenbank der Universitäten Kalifornien, Berkley und Kopenhagen, die regelmässig aktualisiert wird, zeigt, dass 39 Prozent der in der Schweiz eingenommenen Unternehmenssteuern von Profiten internationaler Firmen stammen, die diese zur Steuervermeidung in die Schweiz transferieren. 

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich viele internationale Unternehmen, besonders aus den Vereinigten Staaten, im Kanton Schaffhausen niedergelassen. Als es darum ging, die globale Mindeststeuer ins kantonale Gesetz zu giessen, höhlte sie die Regierung (mit Unterstützung der Linken im Kantonsrat, AZ vom 2. Oktober 2025) so weit wie möglich aus. 

Die Regeln der globalen Mindeststeuer sind auf hunderten, selbst für geschulte Geister kaum durchdringbaren Seiten festgehalten. Die kantonale Steuerverwaltung stellte deshalb bereits 2023 zwei Fachspezialisten an, die das Regelwerk durchforsteten. Doch auch im verworrensten Regelwerk verstecken sich Schlupflöcher. 

300 Millionen abgeschrieben

Als die AZ im August 2024 publik machte, dass der US-amerikanische Autozulieferer Aptiv trotz globaler Mindeststeuer von einem mehrere hundert Millionen schweren Steuergeschenk des Kantons profitiert hatte, rieben sich Steuerexpert:innen die Augen. Das Unternehmen, das inzwischen auch seinen Hauptsitz von Dublin nach Schaffhausen verlegt hat, schrieb in seinem Jahresbericht, das Unternehmen habe eine Steuererleichterung von schätzungsweise 330 Millionen Franken für den Zeitraum von zehn Jahren erhalten. 

Zum Vergleich: Das entspricht fast dem Dreifachen der gesamten Unternehmenssteuern, die der Kanton im Jahr 2023 eingenommen hat. Die AZ klopfte bei Wirtschaftsprofessoren, Treuhändern und Steuerexperten an und fragte, ob, warum und vor allem wie solche Steuergeschenke nach der Einführung der globalen Mindeststeuer überhaupt noch möglich seien. Die meisten konnten sich den Mechanismus hinter dem Schlupfloch nicht erklären. Dominik Gross von Alliance Sud hatte eine Vermutung: Hinter dem millionenschweren Steuergeschenk für Aptiv könnte ein besonders undurchsichtiger Steuertrick stecken: der «Step up». Er erlaubt es Firmen, die sich neu in der Schweiz niederlassen, bisher unversteuertes Eigenkapital (zum Beispiel Patente) aufzudecken und während maximal zehn Jahren vom steuerbaren Gewinn abzuziehen – was zu einer effektiven Steuerlast von deutlich unter den von der OECD vorgeschriebenen 15 Prozent führen kann.

Seit vergangener Woche ist nun klar: Der Steuerexperte hatte mit seiner Vermutung recht, der Kanton hatte Aptiv einen Step up gewährt. 

Doch nun verbietet eine bisher wenig beachtete Änderung im dichten OECD-Regelwerk genau diesen Steuertrick – und stellt Schaffhausen vor ein Problem.

Ende vergangene Woche berichteten die Zeitungen von CH Media, mit Verweis auf die Aptiv-Recherche der AZ, über die Verschärfung, welche die OECD im Januar 2025 auf Druck der abtretenden US-Regierung von Joe Biden beschlossen hatte. Faktisch bedeutet diese, dass Deals wie jene zwischen dem Kanton Schaffhausen und Aptiv nicht mehr erlaubt sind, und zwar rückwirkend. Darunter sollen alle Abmachungen fallen, die nach dem 30. November 2021 geschlossen wurden. 

Während die Verschärfung in der Öffentlichkeit bisher kaum registriert wurde, hat sie am Hauptsitz von Aptiv an der Spitalstrasse bereits Anfang Jahr für Kopfschmerzen gesorgt. CH Media zitiert aus dem Quartalsbericht des Autozulieferers, aus dem ersichtlich wird, dass das Unternehmen den grössten Teil (rund 300 Millionen Franken) des Schaffhauser Steuergeschenks bereits abgeschrieben hat. Das heisst: Aptiv weiss, dass es die in Schaffhausen gesparten Steuern anderswo wird zahlen müssen.

Wie viele weitere Unternehmen mit ähnlichen, nun verbotenen Deals an den Rhein gelockt wurden, möchte Finanzdirektorin Cornelia Stamm Hurter auf Anfrage mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht bekannt geben. Mindestens ein weiterer Konzern in der Region rechnet aber bereits mit höheren Steuern: die FMC Corporation, ein US-amerikanischer Chemiekonzern, der 2023 eine Tochterfirma in Neuhausen eröffnet und dafür millionenschwere Steuererleichterungen vom Kanton erhalten hat (AZ vom 25. April 2025). 

Die Beispiele Aptiv und FMC zeigen: Die Schweiz und Kantone wie Schaffhausen, die eine agressive Steuerpolitik fahren, büssen durch das angepasste Regelwerk an Attraktivität für Konzerne ein. 

Hurters in New York

Das macht die Schaffhauser Regierung nervös. Im Februar 2025 begleitete Cornelia Stamm Hurter ihren Ehemann, Nationalrat Thomas Hurter, im Rahmen des «Parliamentary Hearing at the United Nations» nach New York zu einem Lunch des Schweizer Generalkonsultats und des Swiss Buisness Hub. Der Swiss Buisness Hub ist Teil des Generalkonsulats und unter anderem dafür zuständig, bei US-Firmen Werbung für den Wirtschaftsstandort Schweiz zu machen. Am Lunch anwesend waren neben einer Delegation von Schweizer  Parlamentarier:innen ein Vertreter der Schweizerischen Botschaft sowie der stellvertretende Generalkonsul, wie Stamm Hurter auf Anfrage bestätigt. «Ich war als Begleitung meines Ehemanns, der Präsident der Schweizer Delegation der Interparlamentarischen Union ist,  in New York und habe alle Kosten selbst getragen.» Sie habe beim Lunch die Möglichkeit genutzt, die Interessen des Wirtschaftsstandorts Schaffhausens zu platzieren.

Vom Zeitpunkt der geänderten OECD-Regeln im Januar 2025 sei die Regierung überrascht gewesen, so kurz vor der Amtseinführung von Donald Trump – «obwohl bekannt war, dass seine Administration Vorbehalte gegenüber diesen Regelungen hat». «Es ist bereits deutlich erkennbar, dass die Trump-Administration alles daran setzt, die USA als Standort für international agierende US-Unternehmen wieder attraktiver zu machen. Wie erfolgreich diese «America-First»-Politik sein wird, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen.»

Dominik Gross von Alliance Sud hält wenig davon, dass die Schaffhauser Regierung nun mit dem Finger auf die Vereinigten Staaten zeigt. «Gewissen OECD-Ländern – nicht unbedingt den USA – ist die Schweizer Steuerdumping-Politik nach wie vor ein Dorn im Auge. Dass sie jede Gelegenheit nutzen, um spezifische Schweizer Schlupflöcher zu schliessen, ist völlig legitim.» 

Gross sagt, dass die Schweiz gerade beim Step up nicht auf Unterstützung anderer Steueroasen wie Irland, Singapur oder Luxemburg zählen kann, da der Steuertrick eine Schweizer Eigenheit sei und diese somit konkurrenziere. Dazu passt: Aptiv übersiedelte nicht etwa aus den Vereinigten Staaten, sondern aus Irland nach Schaffhausen.  

Die neuen Regeln brächten im Vergleich mit den Konkurrenzstandorten keinen Nachteil für die Schweiz, sie würden lediglich ein exklusives Schweizer Privileg unterbinden. «Kantone wie Schaffhausen oder Zug, die viele Firmen mit dem Step up angezogen haben, geraten jetzt unter Druck.»

Zu spät für die Steuererklärung

Das führt zurück zur Nationalratsdebatte von Anfang Woche. Als Reaktion auf die Regelverschärfung der OECD reichten die Wirtschaftskommissionen des National- und Ständerats, in letzterer sitzt SVP-Mann Hannes Germann, Mitte Oktober eine Motion ein. Darin fordern die Wirtschaftspolitiker:innen, dass die verschärften Regeln erst für Abmachungen gelten sollen, welche die Kantone ab dem 1. Januar 2025 mit Konzernen getroffen haben. 

Konzerne wie Aptiv könnten so weiter von ihren Steuergeschenken profitieren, der Kanton dürfte einfach künftig keine neuen Unternehmen mit einem Step up nach Schaffhausen locken (oder, in den Worten von Jacqueline Badran: kein Steuerdumping mehr betreiben).

Cornelia Stamm Hurter wird die Debatte am Montag im Nationalrat also mit Erleichterung verfolgt haben: Die bürgerliche Mehrheit stimmte für die Motion. Zwar hatte sich der Regierungsrat nie öffentlich für oder gegen das Geschäft geäussert, Ständerat Hannes Germann bezeichnet den Entscheid des Nationalrats in einer Mail an die AZ aber als «in unserem (SH) Sinne».

Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) argumentierte hingegen erfolglos, dass der Bundesrat den Vorstoss frühestens im Herbst 2026 umsetzen kann – zu spät für die betroffenen Unternehmen, die ihre Steuererklärung bis spätestens Mitte 2026 eingereicht haben müssen. Ein weiteres Problem: Die OECD könnte der Schweiz, sollte sie sich nun um die neuen Regeln foutieren, den sogenannten Q-Status entziehen. Dieser ist eine Art Gütesiegel und signalisiert, dass die Schweiz sich an die Regeln hält. Gleichzeitig garantiert er Unternehmen in der Schweiz, dass sie nicht zusätzlich von anderen Ländern besteuert werden können. Sollte die Schweiz durch die Umsetzung der Motion den Status verlieren, «könnten sich für viele Schweizer Unternehmen erhebliche Nachteile ergeben.» Das schreibt ausgerechnet der Wirtschaftsverband Swissholding in einer Stellungnahme zur Motion. 

Diese wird am Erscheinungstag dieser Zeitung im Ständerat diskutiert. Die Debatte dürfte interessant werden: Die meisten Kantone lehnen sie ab. Angesichts der breiten Front gegen die Motion fragte die Winterthurer SP-Nationalrätin Céline Widmer deshalb in der Debatte am Montag: «Welchem Interesse dient dieser Aktivismus, den die Wirtschaftskommissionen hier an den Tag legen?»

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Behrix und die Europäer https://www.shaz.ch/2025/11/01/behrix-und-die-europaeer/ Sat, 01 Nov 2025 07:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10271 Giorgio Behr ist einer der wenigen Wirtschaftskapitäne, die das neue Vertragspaket mit der EU ablehnen. Was sieht er, was die ­anderen nicht sehen? Und hat der reichste Schaffhauser den Regierungsrat beeinflusst? In den vergangenen Tagen hat sich einiges getan in der Schweizer Europapolitik. Nach einer langen parteiinternen Debatte sprachen sich die FDP-­Delegierten in Bern für […]

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Giorgio Behr ist einer der wenigen Wirtschaftskapitäne, die das neue Vertragspaket mit der EU ablehnen. Was sieht er, was die ­anderen nicht sehen? Und hat der reichste Schaffhauser den Regierungsrat beeinflusst?

In den vergangenen Tagen hat sich einiges getan in der Schweizer Europapolitik. Nach einer langen parteiinternen Debatte sprachen sich die FDP-­Delegierten in Bern für das neue Vertragspaket mit der EU aus. Damit sollen die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU stabilisiert und fortgeführt werden. Am selben Tag gab die Schaffhauser Regierung bekannt, dass sie ihrerseits das Vertragspaket ablehnt.

Der wohl prominenteste Schaffhauser Gegner des Vertragspakets ist Giorgio Behr – Industrieunternehmer, Handballmäzen und ehemaliger Hochschulprofessor. Wir treffen ihn am Abend, ausserhalb der Öffnungszeiten, im von ihm gegründeten Meetingpoint. Auf dem Tisch stehen Salzstängel und Wasser ohne Kohlensäure.

Herr Behr, sind Sie der letzte Gallier der Schweizer Wirtschaft?

Giorgio Behr Das finde ich ein herrliches Bild!

Alle grossen Wirtschaftsverbände wie Economiesuisse oder Swissholding sind für das neue Vertragspaket mit der EU. Sie sind dezidiert dagegen.

Und mit mir rund 900 weitere Unternehmer, die sich im Wirtschaftsverband autonomiesuisse organisiert haben (Behr ist Co-Präsident der Organisation, Anm. d. Red.). Es ist interessant, dass sich bei den Verbänden, die Sie erwähnen, kaum Unternehmer öffentlich exponieren, sondern sich vor allem Angestellte der Verbände zu Wort melden. Wir Unternehmer:innen denken über unsere Generation hinaus. Das kann man von Managern internationaler, börsenkotierter Unternehmen nicht verlangen. Dort wechselt das Spitzenpersonal heute im Turnus von drei bis sieben Jahren, das führt automatisch zu einem kurzfristigen Denken. Das liegt in der Natur der Sache, das werfe ich auch niemandem vor.

Gegenüber den Schaffhauser Nachrichten klang das kürzlich noch anders. Dem Journalisten sagten Sie nach der Delegiertenversammlung der FDP, dass sich die Freisinnigen beim neuen EU-Vertragspaket nicht an Economiesuisse orientieren sollen. Immerhin seien deren Exponenten mitverantwortlich für das Swissair-Debakel und den Untergang der Credit Suisse gewesen. In ­solchen Momenten klingen Sie wie ein Populist.

Was heisst schon Populismus? Das sind Etiketten, die einem heute schnell verliehen werden. Ich stelle einfach nüchtern fest, dass die meisten Delegierten die Verträge offensichtlich nicht gelesen haben.

Über 65 Prozent der FDP-Delegierten wollen ein Ja zum Vertragspaket, von den grossen Parteien ist einzig die SVP dagegen. Anders sieht es in Schaffhausen aus: Die kantonale FDP gibt sich kritisch, und der Schaffhauser Regierungsrat lehnt als einer von gerade einmal vier Kantonen das Vertragspaket ab. Was sehen die Schaffhauser, was der Rest der Schweiz nicht sieht?

Ich sehe die Realität. Die Schweiz importiert viel mehr von der EU, als die Schweiz in die EU exportiert. Die Wirtschaft hat zudem den Binnenmarktzugang, den der Bundesrat mit dem neuen Vertragspaket sichern will, sowieso bereits mit dem Freihandelsabkommen von 1972.

Gemäss Economiesuisse reicht das Freihandelsabkommen bei weitem nicht aus. Ohne das neue Vertragspaket ist die Personenfreizügigkeit und die Zulassung von Schweizer Produkten im EU-Raum bedroht. Macht Ihnen das keine Sorge?

Nein. Die Zulassung würde künftig in der Schweiz aufgrund der genau gleichen Regeln ausgestellt wie in der EU, dort aber kostet das meistens weniger. Was soll dieser Umweg? Falls die EU die bilateralen Verträge mit der Schweiz kündigt, gelten die bestehenden Zulassungen weiterhin. Steigt die EU aus der Personenfreizügigkeit aus, können wir weiterhin auf Grenzgänger und Einwanderer aus der EU zählen. Der Bundesrat verspricht sich vom Vertragspaket, gestützt auf Studien, einen Wohlstandsgewinn, doch die Annahmen der Studien sind völlig falsch. Sie lassen zudem die vielen Probleme und Kosten aus dem sehr hohen Wachstum ausser Acht. Ich dagegen sehe Probleme, die wir uns so einhandeln würden.

Die wären?

Wir verzichten in den vertraglich neu geregelten Bereichen auf die demokratische Mitsprache. Wir werden erhebliche Mehrkosten tragen müssen, nicht nur als Kohäsionsbeiträge, sondern durch den Ausbau der Verwaltung und der Beteiligung an den Regulierungskosten der EU. Zudem würde die Ausweitung der Personenfreizügigkeit die Einwanderung in unsere Sozialsysteme begünstigen.

Bei der Ausweitung, die Sie ansprechen, muss eine arbeitstätige Person aus der EU immer noch fünf Jahre in der Schweiz arbeiten, um Anspruch auf Sozialleistungen zu haben.

Genau, die Frist soll halbiert werden, bisher liegt die Frist bei zehn Jahren, zudem gilt im Vertragspaket die europäische Rechtssprechung. Nehmen wir ein Beispiel: Wird ein McDonalds-Angestellter, der zwölf Stunden pro Woche gearbeitet hat, entlassen, gilt die Zeit in der Arbeitslosenversicherung als Arbeitszeit; rutscht er in die Sozialhilfe und beginnt ein paar Tage vor Ablauf der sechsmonatigen Frist wieder zu arbeiten, gilt auch diese Phase als Arbeitszeit. Obwohl er so nur einen kleinen Teil der fünf Jahre arbeitet und Sozialabgaben zahlt, erhält er das Aufenthaltsrecht, hat Anspruch auf einen im Vergleich zu heute viel grosszügigeren Nachzug von Familienangehörigen, die nicht arbeiten müssen, und auf alle relevanten Sozialleistungen.

Das ist doch kein realistisches Szenario.

Lesen Sie doch die Artikel im Ausland dazu: Die Realität in der EU ist, dass die Sozialsysteme sehr gezielt ausgenutzt werden. Haben Sie das Gefühl, dass das in der Schweiz nicht machbar ist? Ich unterstelle niemandem etwas, ich stelle nur fest, dass der Bundesrat uns bei der Aushandlung der bilateralen Verträge gesagt hat, es würden allerhöchstens 10 000 Personen in die Schweiz einwandern. Heute sind wir bei 70 000 bis 100 000 Personen. Was soll ich ihm noch glauben?

Wenn Sie recht hätten, dann würde es sich beim neuen Vertragspaket um einen historisch schlechten Deal handeln. Wieso sollten der Bundesrat und seine Diplomat:innen einen solchen eingehen?

Ich habe die Schweiz in der UNO und in der OECD vertreten, ich weiss, wie diese internationalen Gremien funktionieren. Das wissen, bis auf ein paar Staatssekretäre, die meisten nicht. Zudem mussten in einem hohen Tempo tausende Seiten produziert werden. Die deutsche Fassung stimmt nicht überall mit der englischen überein. Ich frage mich einfach: Wer hat den Überblick? Den hat wahrscheinlich nicht einmal der zuständige Bundesrat.

Aber Sie haben ihn?

Nein, aber ich habe Einblick in die für mich als Unternehmer relevanten Punkte, um zu sagen: Was man uns erzählt, stimmt nicht.

Sie waren einer Annäherung an Europa gegenüber auch schon positiver eingestellt. 1992 schrieben Sie in einem Gastbeitrag zur EWR-Abstimmung, dass die Schweiz bei einem Nein «dann wirklich als Einzelgängerin isoliert dasteht».

In der Zwischenzeit haben sich die Welt und die EU stark verändert. Die grössten Probleme konnten gelöst werden. Ich bin heute immer noch derselben Meinung wie damals: Wir brauchen ein Vertragswerk mit Europa. Das haben wir. Das Freihandelsabkommen ist unantastbar. Wir haben vernünftige Lösungen mit der EU. Mehr braucht es nicht. Ich fordere keine Kündigung der Bilateralen – auch die EU wird das kaum leichthin tun, weil sie da und dort am kürzeren Hebel sässe.

Es ist doch gerade andersrum: Die Schweiz steht heute so gut da, weil sie sich nach dem EWR-Nein Europa angenähert hat. Mit einem Nein zu den neuen Verträgen gefährdet man diesen Erfolgsweg.

Die Weltwirtschaft hat sich völlig gewandelt. Wo waren China, Indien und die Golfstaaten 1992? Die Welt hat ganz anders ausgesehen. Europa war damals im Aufschwung, heute stranguliert die Überregulierung die Industrie. Die Innovationsfähigkeit Europas nimmt stetig ab, während andere Länder wie China oder die USA an Bedeutung gewonnen haben.

Trotzdem ist das Handelsvolumen der Schweiz mit China heute nicht grösser als das mit Bayern und Baden-Württemberg. Ist Schaffhausen als Grenzregion und mit einer starken Exportindustrie nicht darauf angewiesen, dass die Verhältnisse zum wichtigsten Handelspartner gut sind?

Wir sollten in der Schweiz aufhören zu meinen, dass wir Exportweltmeister sein müssen. Nehmen wir ein Beispiel aus Beringen. Wir hatten einen Steuerungsbau in Beringen für die Maschinenindustrie. Als ich die Firma übernahm, arbeiteten in jenem Bereich rund 20 Angestellte. Wir haben über längere Zeit, ohne Leute zu entlassen, die Firma in Tschechien völlig neu aufgebaut; wir sind dort heute viel grösser und setzen ein Mehrfaches um. Wir haben so keine Währungsprobleme im Euro-Markt und dem dort tieferen Lohnniveau. Wir müssen die Gnade haben, einzusehen, dass wir gewisse Sachen nicht mehr in der Schweiz fertigen sollten.

Das bedeutet aber auch: Weniger Arbeitsplätze in der Schweiz und Schaffhausen?

Das ist doch schizophren. Wir klagen ständig, dass wir keine Fachleute finden, und jammern dann bei jedem Job, den die Schweiz verliert. Es gibt heute viele Start-ups, die in die Schweiz passen – aber wenn diese erfolgreich sind, finden sie in der Schweiz oft kein Geld für den weiteren Ausbau. Wichtig sind die Industrien, die eine Zukunft haben – nicht alles muss in der Schweiz gefertigt werden.

Was sagt die Industrie- und Wirtschafts-Vereinigung Schaffhausen (IVS), die Sie 17 Jahre präsidiert haben, zu Ihrer Haltung?

Im Gegensatz zu gewissen Altbundesräten mische ich mich, sobald ich weg bin, nicht mehr ein.

Am vergangenen Samstag wurde bekannt, dass die Schaffhauser Regierung, als eine von gerade mal vier Kantonen, das Vertragspaket ablehnt. FDP-Regierungsrat Marcel Montanari hat wohl den Ausschlag gegeben. Haben Sie ihn überredet?

Null, ich habe Herrn Montanari dieses Jahr einmal kurz gesehen, an der Wahlfeier für den neuen Ständerat Severin Brüngger.

Sie haben aber einen grossen Einfluss auf die Schaffhauser FDP. Ständerat Severin Brüngger, auch Gegner des Vertragspakets, ist Ihr politischer Ziehsohn und Sie haben seinen Wahlkampf finanziell unterstützt.

Das Schöne für mich ist, dass mir viele Leute zutrauen, überall Entscheidungen zu beeinflussen, ohne dass ich damit etwas zu tun habe oder etwas dafür tun muss. Aber im Ernst: Die Leute hören mir zu, wenn ich beispielsweise Anfang Oktober auf einem Podiumsgespräch zum Vertragspaket mit der EU spreche. Da sass auch ein Regierungsrat im Publikum. Die Leute schätzen, dass ich nüchtern und sachlich argumentiere. Jemand hat neulich im Scherz zu mir gesagt, dass am Ende dieser Debatte um das Vertragspaket mit der EU herauskommen werde, dass nur drei Menschen die Verträge gelesen haben: Magdalena Martullo-Blocher, Markus Somm und Giorgio Behr.

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Gewiefte Gastgeber https://www.shaz.ch/2025/10/25/gewiefte-gastgeber/ Sat, 25 Oct 2025 06:01:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10250 Teil 2 unserer Airbnb-Recherche reicht über die Grenzen der Neustadt hinaus – und enthüllt weitere Details, die bis zur Wirtschaftsförderung führen. Vergangene Woche berichteten wir von kleinen, klobigen Schlüsselboxen, die an Haustüren in der Neustadt montiert sind, und von kühnen Kaufangeboten in Briefform, die hiesige Hausbesitzer:innen erreichten.  Die Geschäftsidee ist so altbekannt wie gewieft: Fünf […]

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Teil 2 unserer Airbnb-Recherche reicht über die Grenzen der Neustadt hinaus – und enthüllt weitere Details, die bis zur Wirtschaftsförderung führen.

Vergangene Woche berichteten wir von kleinen, klobigen Schlüsselboxen, die an Haustüren in der Neustadt montiert sind, und von kühnen Kaufangeboten in Briefform, die hiesige Hausbesitzer:innen erreichten. 

Die Geschäftsidee ist so altbekannt wie gewieft: Fünf Wohnungen der beiden Häuser, die der Immobilienmagnat Michael Steiner bereits gekauft hatte, wurden bald in uniforme, nach typischer Airbnb-Manier ausgestattete Unterkünfte umgewandelt. Preis: gut 100 bis knapp 300 Franken pro Nacht. Wie die Recherchen in der AZ von letzter Woche zeigen, mussten die meisten der vorherigen Mieter:innen nach Steiners Übernahme gehen. Das sorgte für Kritik: Das Unternehmen Steiners lasse in der Neustadt günstigen Wohnraum verschwinden, so Gianluca Looser vom Mieterinnen- und Mieterverband Schaffhausen. 

Wie aber sieht es über die Neustadt hinaus in der Altstadt aus?

Der Überblick

Wir klopften zuerst beim kantonalen Volkswirtschaftsdepartement an – dieses zieht die Kurtaxe ein, die alle Gäste bezahlen müssen. Seit rund sechs Jahren gilt eine Vereinbarung, die der Kanton mit Airbnb getroffen hat: Die Kurtaxe wird den Gästen direkt bei der Buchung abgezogen und an die Behörden weitergeleitet. Theoretisch könnten daraus Rückschlüsse auf die Anzahl Gäste gezogen werden. Laut Departementssekretär Daniel Sattler ist dem aber nicht so: Er habe nur Einsicht in die kurtaxenpflichtigen Übernachtungen insgesamt. Wie viele davon von Airbnb stammen, lasse sich nicht eruieren.

Also schauten wir uns woanders um und schliesslich stellte uns der Datenanalyse-Anbieter «AirDNA» einen Datensatz zur Verfügung. Die Zahlen zu unserem Randkanton bestätigen dabei, was wir bereits für den Rest der Schweiz wissen: Die Anzahl an Airbnbs nimmt zu. Im August 2025 kletterte die Zahl der Airbnb-Angebote im Kanton Schaffhausen auf einen neuen Höchstwert von 157 (siehe Grafik auf Seite 4).

Erwartungsgemäss befinden sich die allermeisten dieser Unterkünfte in der Stadt Schaffhausen, mit ein paar Ausreissern in Neuhausen und Stein am Rhein. Auch der Tagespreis erhöht sich stetig (siehe Grafik auf Seite 5): Kostete eine Nacht in einem Schaffhauser Airbnb vor sechs Jahren noch durchschnittlich 70 bis 89 Franken (je nach Saison), so kostet sie im Jahr 2025 bereits 128 bis 141 Franken im monatlichen Durchschnitt.

Neue Unterkünfte scheinen regelrecht aus dem Boden zu schiessen. Wer aber steckt hinter den ganzen Angeboten, den hergerichteten Ferienwohnungen und Business-Apartments?

Der Profi

Wer sich durch die hiesigen Airbnb-Angebote klickt, trifft immer wieder auf denselben Namen mit demselben freundlichen Gesicht: Airbnb-«Host» Reto. In seinem Benutzerprofil gibt er sich als privaten Gastgeber aus, den man als Besucher auf seine Interessen «Filme», «Skifahren» oder «Gastro-Szenen» ansprechen soll, um den Smalltalk anzustossen. Beim Feld «Arbeit» schreibt er nur: «Leidenschaftlich».

Laut den rechtlichen Bestimmungen der Buchungsplattform bedeutet ein privates Profil: Die Unterkünfte werden lediglich als Nebenerwerb angeboten, sind also keine Haupteinnahmequelle, und stammen nicht aus einer professionellen Verwaltung. Schnell wird jedoch klar, dass diese Rechnung kaum aufgehen kann.

Allein in der Region Schaffhausen bietet Reto zehn Unterkünfte an, die meisten davon in der Altstadt. Insgesamt findet man auf seinem Profil knapp 30 Inserate, die in der ganzen Schweiz verteilt sind. Ein Blick ins kantonale Grundbuch verrät ausserdem: Nicht eine der Wohnungen, die Reto hier anbietet, gehört ihm. Offenbar tritt er nur als Gastgeber auf. Reto ist es auch, der für die MST Real Estate AG – die Firma von Michael Steiner – in der Neustadt als Host figuriert, das heisst: Zwei der Wohnungen auf Retos Airbnb-Profil gehören zu Steiners Neustadt-Häusern. 

Reto nennt alle seine Unterkünfte passenderweise «R-Apartments». Dieses Schlagwort, gemeinsam mit dem Vornamen, führt schliesslich zum Unternehmen, das hinter den Vermietungen steckt: Die Elevate Schweiz GmbH, geführt von Reto Kurt Baumgartner. 

Die Grafik zeigt den Durchschnitt der Anzahl angebotener Unterkünfte nach Monaten; deutlich zu sehen ist der starke Anstieg nach der Pandemie. Daten: AirDNA
Die Grafik zeigt den Durchschnitt der Anzahl angebotener Unterkünfte nach Monaten; deutlich zu sehen ist der starke Anstieg nach der Pandemie. Daten: AirDNA

Die Firma aus Solothurn verspricht auf ihrer Website «the perfect blend of work and holiday». Sie hat sich auf edle Business-Apartments spezialisiert, die mit Fischgrätparkett und Stuckdecken die Geschäftsleute anziehen sollen. Wir kontaktieren Baumgartner über seine Mitarbeiterin und erhalten eine Handynummer. Auf unsere Anfrage hin zeigt er sich offen: «Wir haben verschiedene Geschäftszweige, diese Wohnungen sind einer von ihnen», erklärt er am Telefon. Als wir von ihm wissen wollen, ob das Anbieten von Geschäftswohnungen lukrativ sei, reagiert er mit Gelächter: «Wenn man es schafft, es hocheffizient zu machen, dann rentiert es sich, ja.» Je nach Personalaufwand könne sich das jedoch ändern, ausserdem gebe es starke saisonale und regionale Schwankungen. 

Die meisten seiner Gäste seien Geschäftsleute, so Baumgartner, aber auch Tourist:innen buchten die Wohnungen. Er bestätigt, die Unterkünfte für die Schaffhauser Hausbesitzer:innen zu verwalten. «Der Grund, weshalb wir in Schaffhausen so viele Wohnungen haben, ist, weil wir eine gute Zusammenarbeit mit der lokalen Wirtschaftsförderung sowie dem Tourismusbüro führen.» Die Wirtschaftsförderung erhalte regelmässig Anfragen von Geschäftsleuten, die hier arbeiten und eventuell auch langfristig nach Schaffhausen übersiedeln wollen. «Man ist sehr stark dabei, internationale Firmen anzuziehen, und da kommen die Leute oft als ersten Schritt zu uns.» Häufig entspräche ein Hotel nicht dem Bedürfnis der Mitarbeitenden, die auch mit der Familie hierherkommen. «Wir sind darum wie eine Art Partner für die Organisationen und machen den Gästen ein gutes Angebot», so Baumgartner. 

Auf die Frage, weshalb Baumgartner auf Airbnb als Privatperson «Reto» und nicht als gewerblicher Gastgeber auftaucht, gibt der Firmenchef «pragmatische Gründe» an: «Das ist historisch so gewachsen», heisst es am Telefon. «Mit der Zeit haben sich sehr viele gute Bewertungen angesammelt, es ist darum ein relevantes Profil. Wenn wir das jetzt, wo die Firma gewachsen ist, umstellen würden, würden wir all diese Bewertungen verlieren. Auf ein gewerbliches Profil umzustellen, hat bisher nicht funktioniert.» 

Der Hausbesitzer

Fast ein Dutzend Unterkünfte in derselben Stadt, alle vom gleichen Anbieter: Hier macht eine Firma Geld mit Airbnb. Aber auch private Hausbesitzer nutzen die Plattform für ihre Interessen. So ein Vermieter, der für diese Geschichte anonym bleiben möchte. Wir entdecken sein Inserat und vereinbaren ein Telefongespräch.

Er erklärt uns: Seit diesem Frühling bietet er eine seiner Wohnungen, ein kleines Studio in der Altstadt, vorübergehend als Airbnb an und wohnt selbst im obersten Stockwerk des Gebäudes. «Ich muss schon sagen: Wenn jemand nur eine oder zwei Nächte kommt, bedeutet das viel Aufwand.» Trotzdem wolle er, anders als viele andere Anbieter, keine Minimaldauer für den Aufenthalt festlegen, und biete die Unterkunft auch nicht lückenlos an. «Kurz bevor oder nachdem ein Gast kommt, blockiere ich die Wohnung, damit ich keinen Stress habe und alles wieder herrichten kann.» In den Lücken bleibe das Zimmer für Verwandte und Freunde frei, die ihn in Schaffhausen besuchen wollen. Das sei für ihn finanziell tragbar: «Ich muss nicht dieselbe Rechnung machen, wie das beispielsweise ein Hotel muss, ich habe ganz andere Ausgaben.» Ausserdem ergebe sich ein praktischer Nebeneffekt: «Ich kann dem Mietobjekt viel besser schauen, als wenn ein Langzeitmieter darin wohnen würde.»

Die Grafik zeigt den Anstieg der Übernachtungspreise in Airbnb-Unterkünften sowie des Ertrags. Der Ertrag wurde wie folgt berechnet: Totaler Ertrag aller Airbnb-Unterkünfte geteilt durch verfügbaren Übernachtungen – er ist also von der Belegung abhängig. Daten: AirDNA
Die Grafik zeigt den Anstieg der Übernachtungspreise in Airbnb-Unterkünften sowie des Ertrags. Der Ertrag wurde wie folgt berechnet: Totaler Ertrag aller Airbnb-Unterkünfte geteilt durch verfügbaren Übernachtungen – er ist also von der Belegung abhängig. Daten: AirDNA

Nachdem sein Sohn Anfang des Jahres aus dem Studio ausgezogen sei und sich zunächst keine Nachmieter gefunden hätten, führe er die Unterkunft nun vorübergehend, «solange es geht und solange die Nachfrage nicht zunimmt», als Airbnb-Wohnung.

«Mir geht es vor allem um die Leute, die ich bisher kennengelernt habe», sagt der Vermieter. «Die kommen von überall her. Und wer weiss? Vielleicht ergibt sich ja dann auch für mich mal etwas, wenn ich verreisen will.»

Der Standort Schaffhausen

Zurück zu Reto Baumgartner: Auf Nachfrage bestätigen uns sowohl Schaffhauserland-Tourismus als auch die lokale Wirtschaftsförderung, dass eine Zusammenarbeit mit Anbietern wie ihm bestehe. Bei Schaffhauserland-Tourismus ist Baumgartner als Mitglied eingetragen, deshalb könne er seine Wohnungen auf der Tourismus-Seite bewerben. Auch Christoph Schärrer, kantonaler Wirtschaftsförderer, bestätigt den Kontakt zum Immobilienverwalter Baumgartner: «Es ging um sein neues Angebot betreffend der ‹Serviced Apartments› für die Zielgruppe Geschäftsleute, die für einen befristeten Zeitraum möblierte Wohnungen im Raum Schaffhausen suchen.» Genau so, wie man auch mit anderen Anbietern für diese Zielgruppe, darunter auch Hotels, in Kontakt stehe.

Anruf beim kantonalen Mieterinnen- und Mieterverband Schaffhausen. Dessen Präsidentin, Linda De Ventura, hat als Kantonsrätin vor knapp einem Monat eine Kleine Anfrage eingereicht, um beim Kanton den aktuellen Stand des beschlossenen Aktionsplans gegen Wohnungsknappheit zu erfragen: Denn auf Geheiss des Bundesrats erarbeiteten die Kantone im Februar 2024 Massnahmen, die unter anderem günstigen Wohnraum sichern sollen. Die Antwort der Regierung steht noch aus.

De Ventura sagt: «Die Angebotsmieten sind in den letzten Jahren im Vergleich mit den anderen Kantonen überdurchschnittlich gestiegen, 2024 um 5,4 Prozent, und 2023 holte der Kanton Schaffhausen mit einem Anstieg von 12,6 Prozent sogar den unrühmlichen Spitzenplatz», so De Ventura. Die aktuelle Entwicklung der Airbnbs verfolge der Verband deshalb kritisch: «Die Stadt Schaffhausen sollte aus unserer Sicht ein Reglement für Business-Apartements und Airbnb-Wohnungen erlassen, so wie dies schon in anderen Städten gemacht wurde. Dafür müsste der Stadtrat oder der Grosse Stadtrat aktiv werden.» Wenn das nicht geschehe und sich die Situation weiter zuspitze, müsse man prüfen, ob man diese Regulierung mit einer städtischen Initiative fordern solle.

Klar ist: Bisher sind die kantonalen Regulierungen für Airbnb und Co. sehr locker gefasst.

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Mein Nachbar, der Tourist https://www.shaz.ch/2025/10/25/mein-nachbar-der-tourist/ Sat, 25 Oct 2025 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10247 In der Neustadt will eine Zürcher Immobilienfirma Häuser kaufen. Aus anderen Wohnungen hat sie bereits Airbnb-Apartments gemacht. Geht es hier um das ganz grosse Geschäft? Anfang August flatterte in mehrere Briefkästen in Schaffhausen derselbe Brief. Die Adressat:innen: Leute, denen in der Neustadt ein Haus gehört. Der Absender: Ein Michael Steiner aus Dübendorf, der schreibt, er […]

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In der Neustadt will eine Zürcher Immobilienfirma Häuser kaufen. Aus anderen Wohnungen hat sie bereits Airbnb-Apartments gemacht. Geht es hier um das ganz grosse Geschäft?

Anfang August flatterte in mehrere Briefkästen in Schaffhausen derselbe Brief. Die Adressat:innen: Leute, denen in der Neustadt ein Haus gehört. Der Absender: Ein Michael Steiner aus Dübendorf, der schreibt, er sei Teil eines «kleinen Immobilien-Familienbetriebs» mit einer «Vorliebe für schöne Altstadtbauten». Er kommt schnell zur Sache: Steiner wolle die Häuser der Angeschriebenen kaufen. Ihm würden bereits zwei Liegenschaften in der Neustadt gehören, zu den Mietern bestehe «ein sehr gutes Verhältnis» und auf die historischen Bauteile der Häuser werde «sehr viel Wert gelegt».

Wie Steiners Firma heisst, steht im Brief nicht, der Adressstempel auf der Rückseite verweist auf eine Dübendorfer Privatadresse. Erst im Handelsregister wird man fündig: Michael Steiner ist der Inhaber der MST Real Estate AG aus Dübendorf.

Seine beiden Häuser an der Neustadt 2 und 18 vermietet Michael Steiner allerdings nicht nur an Privatpersonen, wie AZ-Recherchen zeigen, sondern an Gäste aus aller Welt. Fünf der zehn Wohnungen in den zwei Altstadthäusern werden auf der Homesharing-Plattform Airbnb als Ferienunterkünfte angeboten. Als Gastgeber der uniformen, hell renovierten Apartments tritt allerdings nicht Michael Steiner, sondern eine Vermietungsfirma aus Kreuzlingen und eine Privatperson auf, die in Schaffhausen mindestens zehn und weltweit über dreissig Wohnungen und Häuser auf Airbnb vermietet.
Versucht hier also ein ruchloser Zürcher Investor gerade, die Neustadt aufzukaufen, um mit der Vermietung von Airbnbs das grosse Geld zu machen?

Anruf bei der MST Real Estate AG. Michael Steiner gibt offen und freundlich Auskunft über seine Schaffhauser Häuser und das, was darin passiert. Stellenweise wirkt er gar unbedarft, etwa wenn er sagt, er habe mit seinem Immobilienunternehmen sein Hobby zum Beruf gemacht hat. «Ich verfolge keine Strategie in der Neustadt. Meine einzige Strategie ist, Geld in Immobilien statt bei Banken anzulegen.» Und die MST Real Estate AG, so gibt Michael Steiner gegenüber der AZ zu, ist eigentlich nur er. Weil er seine Immobilien einst seinen Kindern vermachen will, nennt er sich jetzt schon Familienunternehmen.

Das mag nicht ganz zum Bild des kaltherzigen Immobilienhaien passen. Doch wie Recherchen der AZ zeigen, gibt es durchaus Fragezeichen dahinter, wie strategielos der Dübendorfer tatsächlich vorgeht. Und auch, wie gut das Verhältnis zu den Mieter:innen in seinen Häusern an der Neustadt wirklich ist.

Undurchsichtige Umbauten

Von den Pflanzentrögen, die auf den Aufnahmen der Neustadt 18 auf Google Maps noch auf den Fenstersimsen des weissen Hauses «Zum roten Kreuz» sitzen, ist heute nichts mehr zu sehen. Stattdessen stehen zwischen den Namen von Mieter:innen auf den Klingelschildern «City-Maisonette 1», «City-Maisonette 2» und «Magnolia Homes» – der Name jener Firma, die die beiden Wohnungen im weissen Haus von Steiner mietet, um darin Airbnb-Apartments anzubieten.

Die Liegenschaft mit fünf Wohnungen, einer sechsten, grösseren im Dachgeschoss und einem ebenerdigen Ladenlokal gehört Michael Steiners Firma seit fast zehn Jahren. Steiner setzte damals, 2016, eine neue Verwaltung ein, übernahm aber alle bestehenden Verträge und erhöhte die vergleichsweise tiefen Mieten der bisherigen Bewohner:innen nicht. Doch seit Kurzem ist es mit der Beständigkeit vorbei: Fünf von sechs Mietparteien im Haus hat Michael Steiner innerhalb der letzten zwei Jahre gekündigt.

Die AZ hat mit vier heutigen und ehemaligen Mieter:innen der Neustadt 18 gesprochen. Aus Angst vor Komplikationen möchten sie alle anonym bleiben. Was sie unabhängig voneinander erzählen, hinterlässt zweierlei Eindruck: Jenen einer eingeschweissten Mietergemeinschaft, die aufeinander aufpasste und nun durch Kündigungen auseinandergerissen wurde – und den eines Hauseigentümers, der die langjährigen Mieter:innen über vieles im Ungewissen liess.

Die Kündigungen begannen vor gut zwei Jahren nach einem Wasserschaden. Zwei Mieter:innen mussten gehen, weil die Steigleitung zu den Wohnungen saniert werden musste, so die Begründung, auch Feuchtigkeit sei ein Problem. Beide gekündigten Parteien hatten über zehn Jahre im Haus gewohnt, die eine erhielt eine neunmonatige Kündigungsfrist, die andere eine von drei Monaten, sagt ein ehemaliger Mieter.

Im Haus stiefelten bald Handwerker ein und aus, die Neustadt 18 wurde zur partiellen Baustelle, bis sich die verbleibenden Mieter:innen im Frühjahr 2025 in einer E-Mail bei der Verwaltung beschwerten. Die Informationen über die Sanierungsarbeiten im Haus seien unzureichend, monierten sie. Die Antwort der Verwaltung: Eine Einladung zum «Info-Anlass» zehn Tage später – allerdings nur an einen Teil der verbliebenen Mieter:innen.

An besagtem Treffen dann, zwei Verwaltungsmitarbeitende und Michael Steiner auf der einen Seite, drei Mieter:innen auf der anderen, kam die lang erwartete Information prompt: Im dritten Satz sprach Steiner den Mieter:innen die Kündigung aus. So schildern es Betroffene. Sie erinnern sich an eine «tribunalartige» Konstellation – fast als hätte man sich wappnen wollen, falls eine:r Mieter:in der Kragen platze. Auch dieses Mal war die kaputte Steigleitung der Grund für die Kündigungen; auch dieses Mal hatten zwei der Mieter:innen über zehn Jahre im Haus gewohnt. Die Kündigungsfrist dieser drei Mieter:innen aber: ein Jahr.

An der Neustadt 18 hängt der Schlüsselkasten für die Airbnbs im Eingang des Treppenhauses.
An der Neustadt 18 hängt der Schlüsselkasten für die Airbnbs im Eingang des Treppenhauses.

Neben dem unzureichenden Informationsfluss und der unvermittelten Kündigung langjähriger Mieter:innen erheben die ehemaligen Bewohner:innen der Neustadt 18 auch weniger gravierende Vorwürfe gegen den Eigentümer. Es sind solche, die man aus vielen Mietshäusern kennt: Dreck und Lärm während des Umbaus, dazu ein zehntägiger Kaltwasserunterbruch.

Mit den Vorwürfen der ehemaligen Mieter:innen konfrontiert, relativiert Steiner. Vielleicht hätte er hie und da besser informieren können. Aber er sagt auch: «Es war allen klar, dass umgebaut werden muss, das Haus wurde zuletzt vor 40 Jahren saniert. Die Alternative zu den schrittweisen Renovationen wäre eine Totalsanierung des Hauses, was mich sehr viel kosten und die Mieten stark erhöhen würde.»

Er habe auf Beschwerden der Mieter:innen schnell reagiert und die Schäden jeweils möglichst rasch zu beheben versucht. Für die Kündigungen im Frühling 2025 sei es allerdings höchste Zeit gewesen: «Wir hatten grosses Glück, dass der Wasserschaden im allgemeinen Bereich und nicht in den Wohnungen passiert war. Dann hätten die Mieter:innen ihre Wohnungen sofort verlassen und in einem Hotel unterkommen müssen.» Wie gross diese Gefahr war, habe er durch einen Sanitärfachmann in einem Gutachten attestieren lassen und den betroffenen Mieter:innen offengelegt. Diese berichten von einem komplett korridierten Rohrstück, das der Vermieter am «Info-Anlass» bei der Verwaltung vorzeigte, um den miserablen Zustand der Leitung zu unterstreichen.

Auch wenn die Mieter:innen vor den Kopf gestossen wurden – Steiner bringt gute Gründe für die Kündigungen im alten Haus an. Fakt ist aber: Innerhalb von rund zwei Jahren mussten die meisten Mieter:innen der Neustadt 18 ihre Wohnungen verlassen; zwei davon werden heute als Airbnbs vermietet, in denen Tourist:innen für gut 100 bis knapp 300 Franken pro Nacht übernachten.

Beim Mieterinnen- und Mieterverband Schaffhausen ist man über die Entwicklungen in der Neustadt informiert, sagt Gianluca Looser. «Wir kritisieren das Vorgehen scharf. Die MST Real Estate AG lässt in der Neustadt günstigen Wohnraum verschwinden.»

Niemand will eine Neustadt-Wohnung

Steckt dahinter nicht doch eine Strategie?

Nein, sagt Michael Steiner am Telefon. «Die Airbnbs sind eine Notlösung». Er hätte keine andere Wahl gehabt, weil er die zwei Wohnungen an der Neustadt 18 und die drei an der Neustadt 2 nicht «klassisch» habe vermieten können. Altstadtwohnungen mit «schwierigem» Grundriss, ohne Lift, ohne Balkon und ohne nachhaltige Heizungen seien nicht attraktiv; eine enge und instabile Treppe, wie sie in der Neustadt 2 verbaut sei, würde heute nicht einmal mehr bewilligt, sagt er.

Er habe die Wohnungen auf der Immobilienplattform Flatfox ausgeschrieben – doch die Nachfrage sei ausgeblieben. Steiner begründet dies mit den «sehr stark» angestiegenen Ansprüchen der Mietenden; in Zürich hätte er für dieselbe Wohnung innert eines Tages zwanzig Bewerbungen gehabt, sagt er. Jetzt vermiete er die fünf Wohnungen eben an die zwei Gastgeber für Airbnbs. «Ich verdiene daran nichts», behauptet Steiner.

Touristen allerdings scheinen seine Wohnungen trotz angeblicher Baumängel zu schätzen. Die Bewertungen der Gäste auf der Airbnb-Plattform sind gut: Alle fünf Apartments in seinen beiden Häusern haben über 4 von 5 Sternen, drei gar über 4,7.

Die drei Wohnungen, die in der Neustadt 18 wegen drohender Wasserschäden demnächst saniert werden, sollen Mietwohnungen bleiben, und auch die Wohnungen in jenen Häusern, die er in der Gasse neu kaufen will, sagt Steiner. Auf seinen persönlichen Brief habe er bereits positive Rückmeldungen bekommen. Er sagt: «Die Leute schätzen es, wenn sie ohne Makler verkaufen können.» Steiner stellt seine Idee als Win-Win-Modell dar: Die Verkäufer:innen erzielen einen weniger hohen Preis, dafür übernehme Steiner auf Wunsch der Vorbesitzer die bestehenden Mietverhältnisse. «Damit verdiene ich zwar weniger, ich bezahle aber auch weniger für die Liegenschaft», sagt er. Angebote aus anderen Gassen, etwa der Webergasse, interessieren ihn nicht – zu teuer.

Ob die vorherigen Mieter:innen in der Neustadt 18 aber wieder einziehen könnten, ist höchst ungewiss. Auf die Frage der AZ, ob die ehemaligen Mieter:innen kein Interesse an den sanierten Wohnungen gezeigt hätten, sagt Steiner, seines Erachtens hätte die von ihm eingesetzte Verwaltung den Ehemaligen ein Vormietrecht gewährt. Ganz genau weiss er es am Telefon allerdings nicht mehr. Ein ehemaliger Mieter bestätigt zwar, dass er von der Verwaltung eine E-Mail erhalten habe mit dem Versprechen, dass er als Erster über die Mietbedingungen in der frisch sanierten Wohnung informiert würde. Gehört habe er dann allerdings nichts.

Was aber macht die Ausbreitung von Ferienwohnungsangeboten mit der Neustadt – und der Stadt als Mietplatz im Allgemeinen?

Die Neustadt bleibt

«Airbnbs sind nur die Spitze des Eisbergs», sagt Christian Erne auf Anfrage. Erne ist Teil des Neustadt Konsortiums, dem Quartierverein der Strasse. Er sagt: «Auch in der Neustadt wird an verschiedenen Orten mit Wohnraum Profit gemacht, auch hier sind die Mieten gestiegen.» Dass sich hier auf eine Wohnung, die sich im Preissegment der Strasse befindet, niemand bewerbe, sei eine Ausrede.

Der Quartierverein wolle Airbnbs nicht per se verteufeln – es gebe viele kleine private Anbieter:innen, die ihre Wohnungen mit viel Herzblut betreiben und nicht auf Profit aus sind. «Für uns ist aber eine rote Linie überschritten, wenn Leute, die 20 Jahre in einem Haus gewohnt und brav Miete bezahlt haben, auf die Strasse gestellt werden.» Betroffene sollen sich zusammenschliessen und sich an die Quartiervereine wenden, sagt Erne.

Das Neustadt Konsortium und der Mieterinnen- und Mieterverband Schaffhausen erwägen unabhängig voneinander, politisch aktiv zu werden, sollte sich die Lage weiter zuspitzen. Andere Schweizer Städte haben strengere Regulierungen für Airbnbs wie eine Maximaldauer der Vermietung bereits implementiert. Auch in Schaffhausen werde der günstige Wohnraum immer rarer, sagt Gianluca Looser vom Mieterverband: «Schaffhausen hat schon heute mit schnell steigenden Mieten zu kämpfen, in den letzten zwei Jahren sind die Angebotsmieten über 17 Prozent gestiegen. Die Verbreitung von Airbnbs in vorher dauerhaft vermieteten und bezahlbaren Wohnungen verknappt den Wohnraum und hebt das Preisniveau.»

Die Neustadt und ihre lebendige, nachbarschaftliche Gassenkultur dürften so schnell aber keinen Schaden nehmen. Christian Erne sagt: «Für ein Quartier ist diese Entwicklung gefährlich. Aber es spricht für die gut funktionierende Community der Neustadt, dass solche Veränderungen schnell öffentlich werden.»

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Erich Schlatter ist frei https://www.shaz.ch/2025/09/25/erich-schlatter-ist-frei/ Thu, 25 Sep 2025 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10127 Überraschung am Obergericht: Nach Jahren hinter Panzerglas wird der Systemsprenger per sofort entlassen. Wie soll es nun weitergehen?

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Überraschung am Obergericht: Nach Jahren hinter Panzerglas wird der Systemsprenger per sofort entlassen. Wie soll es nun weitergehen?

Eva Bengtsson spricht, als hielte sie eine Grabrede. Gerade hat das Obergericht über die Zukunft des Schaffhauser Systemsprengers Erich Schlatter beraten. Nun verliest Richterin Bengtsson das Urteil und kann nicht verhehlen, dass sie gern etwas anderes verkündet hätte. Sie sagt zu Schlatter: «Sie sind jetzt ein freier Mann.»

An diesem Dienstag im Herbst 2025 siegen die nackten Paragrafen.

Der 76-jährige Erich Schlatter ist ein Systemsprenger. Schon 1964 wurde er erstmals als schizophren diagnostiziert. Seither füllt sein Leben ganze Aktenregale in den Büros von Psychiatriekliniken, Strafverfolgungsbehörden, Fürsorgeeinrichtungen und Gerichten. Der Staat glaubt, der hochintelligente Rohköstler sei eine akute Gefahr für die Gesellschaft, deshalb haben Gerichte schon vor Jahren eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet. Sie haben Schlatter bis auf Weiteres weggesperrt und erlaubt, dass man ihn gegen seinen Willen mit Neuroleptika behandelt. (Die AZ hat immer wieder über Schlatter berichtet, zuletzt in der Ausgabe vom 19. Dezember 2024).

Doch die sogenannte «kleine Verwahrung» war juristisch stets umstritten. Eine solche Massnahme darf nur angeordnet werden, wenn ein psychisch kranker Straftäter grundsätzlich als «therapierbar» gilt – wenn er in der Massnahme also so weit resozialisiert werden kann, dass er nicht mehr als Gefahr gilt. 

Die Zwickmühle im Fall Schlatter: Im Grunde ist klar, dass er sich nicht mehr gross verändern wird. Schlatter ist überzeugt davon, dass er nicht krank ist; er verweigert jegliche Therapieversuche und ist fest entschlossen, seine antipsychotischen Medikamente abzusetzen, sobald man ihn freilässt.

Das ist nun geschehen. Seit Dienstag ist Erich Schlatter zurück in der Freiheit. Wie schnell die Lage dort eskalieren kann, zeigte sich vor zwölf Jahren.

Wenn das System kollabiert

2013 lebte Schlatter wegen verschiedener Gewaltdelikte offiziell im Rahmen einer «kleinen Verwahrung» in einer geschlossenen Psychiatrieklinik in der Schweiz. Jedoch war er ein paar Jahre zuvor nach Spanien geflüchtet, wo nach einiger Zeit wegen Mordverdachts gegen ihn ermittelt wurde. Aus Mangel an Beweisen stellte die Staatsanwaltschaft in Valencia das Verfahren jedoch ein und Schlatter wurde in die Schweiz ausgeliefert.

Nun also, 2013, musste das Schaffhauser Kantonsgericht entscheiden, ob die «kleine Verwahrung» immer noch verhältnismässig ist. Und das Gericht kam zum Schluss, Schlatter sei «nicht therapierbar»; also müsse die stationäre therapeutische Massnahme per sofort beendet und Schlatter entlassen werden.

Das Urteil war eine Sensation. Und der Richter war sich bewusst, dass der Entscheid Konsequenzen haben würde: «Es ist anzunehmen, dass Erich Schlatter in Situationen kommt, in denen er sich zu etwas hinreissen lässt.» Wie schnell das System unter diesem Systemsprenger kollabieren würde, hatte jedoch kaum jemand vermutet.

Schlatter setzte sofort die Medikamente ab und zog wie ein Berserker durch die Schweiz, lieferte sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, beging ein Delikt nach dem anderen. Als man ihn notfallmässig in die Psychiatrieklinik einweisen wollte, schlug er mit blossen Händen die Sicherheitstür einer Isolierzelle kaputt. Im Gefängnis verschmierte er die Wände seiner Zelle mit Kot. Selbst im Hochsicherheitstrakt der Klinik Rheinau war er bald nicht mehr willkommen. Ein Sondersetting bei einem Trafohaus am Schaffhauser Stadtrand, das die Stadt für ihn bereitstelle, verwüstete er innert Tagen und zündete es an.

Ruhe kehrte erst ein, als man in der Klinik Breitenau eine ganze Station für Schlatters Bedürfnisse umbaute, ihn wieder mit Neuroleptika ruhigstellte – und das Kantonsgericht 2015 schliesslich doch wieder eine «kleine Verwahrung» anordnete.

Erich Schlatter 2023 in Bauma. Foto: Robin Kohler

Diesmal argumentierte das Gericht, dass «therapierbar» nicht bedeuten müsse, dass eine Heilung der psychischen Krankheit möglich sei – Erich Schlatter gelte auch dann als therapierbar, wenn sich durch die Massnahme lediglich seine Gefährlichkeit reduziere. 

Es war eine juristisch fragwürdige Argumentation. Aber offenbar einigte sich der Staat stillschweigend darauf, dass es keine bessere Lösung gibt, als Schlatter wieder wegzusperren.

«Die Massnahme ist aussichtslos»

Schlatters Anwalt Martin Schnyder jedoch war anderer Meinung. Und er ist es heute noch. Schnyder ist der Ansicht, sein Mandant müsse ohne Auflagen entlassen werden, und zwar sofort. Dass Schlatter eingesperrt ist, verstosse gegen die Menschenrechte. Deshalb veranlasste Schnyder in den vergangenen Jahren immer neue Gerichtsverhandlungen, bei denen stets dieselbe Frage verhandelt wurde: Muss man Schlatter freilassen?

Bisher entschied das Gericht jeweils, die «kleine Verwahrung» um ein paar Jahre zu verlängern. Erst im Dezember 2024 argumentierte das Schaffhauser Kantonsgericht, durch die Massnahme und die Medikamente sei «eine wesentliche Entdynamisierung» der Schizophrenie möglich, deshalb müsse Erich Schlatter eingesperrt bleiben. 

Nun aber, an diesem Dienstag im Herbst 2025, entscheidet das Obergericht anders. 

Grund dafür ist ein neues, 127-seitiges Gutachten, das der AZ vorliegt. Der forensische Psychiater Stefan Lanquillon geht darin zwar – im Falle einer Entlassung – von einem ähnlich hohen Rückfallrisiko für Delikte aus wie frühere Gutachter:innen. Er sieht vor allem ein «relevantes Risiko» dafür, dass Erich Schlatter im Winter Brände legt, um sich zu wärmen. (Nach seiner Entlassung 2013 war Schlatter in Keller in der Schaffhauser Altstadt eingestiegen, hatte dort Feuer entfacht und ganze Häuser ausgeräuchert). Gutachter Lanquillon macht aber auch unmissverständlich klar, dass die therapeutischen Möglichkeiten in der stationären Massnahme «sowohl in psychopharmakologischer, psychiatrischer als auch psychotherapeutischer Hinsicht ausgeschöpft» seien.

Das Verdikt ist so klar, dass sogar der leitende Staatsanwalt Peter Sticher, der bis anhin stets für eine Verlängerung von Schlatters Massnahme argumentiert hatte, nun gegenüber der AZ sagt: «Nach dem neusten Gutachten gibt es keine zwei Meinungen mehr. Die Massnahme ist aussichtslos.» So bleibt ihm an diesem Dienstag vor dem Obergericht denn auch nichts anderes übrig, als Schlatters Entlassung zu beantragen.

Die drei Richter:innen um Eva Bengtsson hatten keine Wahl. Ihnen blieb nur, Schlatter zu ermahnen: «Wir hoffen, dass Sie mit dieser Freiheit umzugehen wissen.»

Eine Zukunft in Frankreich?

Wie es nun weitergehen soll, ist unklar.

Erich Schlatter selbst hat einen Plan: Er will zu einem Mann namens Bernard Mercier ziehen, der in einer französischen Kleinstadt westlich von Genf lebt. Mercier und Schlatter lernten sich in den 1980er-Jahren auf einem Schloss in Frankreich kennen, wo der schillernde Rohkostguru Guy-Claude Burger mit seinen Jünger:innen lebte und eine eigentümliche Ernährungstherapie praktizierte. Die Gemeinschaft wurde später vom französischen Staat offiziell als Sekte taxiert, mehrere Menschen verloren auf dem Schloss wegen dubioser Heilsversprechen ihr Leben, und Guy-Claude Burger selbst wurde wegen verschiedener schwerer Gewaltverbrechen zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Bernard Mercier jedoch führt Burgers Erbe bis heute weiter.

Medizinische Fachleute, die regelmässig mit Erich Schlatter zu tun haben, zweifeln jedoch daran, dass das Zusammenleben von Bernard Mercier und einem Erich Schlatter ohne Neuroleptika funktionieren kann. Sie sind sich seit Jahren einig, dass Schlatter völlig unrealistische Vorstellungen seiner eigenen Fähigkeiten habe. Im hoch spezialisierten geschlossenen Pflegezentrum Bauma, in dem er bis zu diesem Dienstag lebte, war der Alltag trotz der gut eingestellten Neuroleptika, die ihm alle zwei Wochen gespritzt werden, ein steter Kampf wie mit einem Kleinkind. 

Und jetzt soll Erich Schlatter also wieder ohne Medikamente und ohne Betreuung von seiner AHV-Rente in Freiheit leben – ähnlich wie damals nach seiner Entlassung 2013. 

Vermutlich wird man in Schaffhausen noch von ihm hören.

Der Journalist Marlon Rusch hat über das Leben von Erich Schlatter ein Buch geschrieben. «Gegenterror» ist im Verlag am Platz erschienen und im Buchhandel erhältlich.

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Fragwürdige Verbündete https://www.shaz.ch/2025/09/22/fragwuerdige-verbuendete/ Mon, 22 Sep 2025 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10116 Der Gerichtshof für Menschenrechte drossle den Kampf gegen «kriminelle Ausländer» zu stark, findet die SVP. An vorderster Front im Kampf gegen Strassburg: Ständerat Hannes Germann. «What was once right might not be the answer of tomorrow.» Was einst richtig war, sei vielleicht nicht die Antwort von morgen: So ominös beginnt der Brief, den der Europäische […]

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Der Gerichtshof für Menschenrechte drossle den Kampf gegen «kriminelle Ausländer» zu stark, findet die SVP. An vorderster Front im Kampf gegen Strassburg: Ständerat Hannes Germann.

«What was once right might not be the answer of tomorrow.» Was einst richtig war, sei vielleicht nicht die Antwort von morgen: So ominös beginnt der Brief, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 22. Mai dieses Jahres erhalten hat. Darin findet sich eine pompöse Rede über «kriminelle Ausländer», welche die «Gastfreundschaft ausgenutzt haben» und «ein Gefühl der Unsicherheit vermitteln» würden. Der EGMR schränke die Nationen in ihrer Entscheidungsfreiheit ein – besonders bei der Ausschaffung und Überwachung von Migrant:innen. Unterzeichnet ist die Wutrede von neun europäischen Regierungschefs, und ihre Botschaft ist unmissverständlich: Der Gerichtshof soll gezügelt werden.

Man braucht nicht zweimal raten, wer hierzulande an diesem Brief Gefallen findet: Die SVP hat ihren Feldzug gegen die «fremden Richter» schon vergangenes Jahr lanciert. An vorderster Front kämpft ein bekanntes Gesicht mit: der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann. In einer Motion fordert er, dass der Bundesrat dem Beispiel der europäischen Regierungschefs folge. Am kommenden Dienstag befindet der Ständerat über den Vorstoss.

Die Grenzen «längst überschritten»

In der Motion moniert Germann, man suche die Unterschrift des Bundesrats auf dem offenen Brief vergeblich – und das «trotz der Erklärung des National- und Ständerats an die Adresse des EGMR nach dem Klimaseniorinnen-Urteil». Dabei handelte es sich um das erste Urteil eines internationalen Gerichts, das einen Staat, namentlich die Schweiz, wegen unzureichendem Klimaschutz der Menschenrechtsverletzung schuldig sprach. Als Mitgliedstaat des Europarats habe die Schweiz eine Verantwortung, sich aktiv an dieser Debatte zu beteiligen, so Germann. Der EGMR habe die Grenzen des Zulässigen «längst überschritten».

Germann reiht sich mit seiner Forderung in eine Gruppe fragwürdiger Verbündeter ein. Federführend waren Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni. Beide Länder hatte der EMGR wiederholt für ihren Umgang mit Migrant:innen verurteilt. Meloni steht an der Spitze der Partei Fratelli d’Italia, die gemäss mehreren Einschätzungen wie jener der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung als rechtsextrem gilt. Für ihre Positionen zur Migration, aber auch für den Umgang mit Minderheitsgruppen, wird sie immer wieder kritisiert.

Die AZ hätte gerne erfahren, wie der altgediente Ständerat die politische Nähe zu einer solchen Regierungschefin rechtfertigt. Germann liess sich bis Redaktionsschluss nicht zu einer Stellungnahme bewegen.

Der zweite Schaffhauser Ständerat, Severin Brüngger, sagt auf Anfrage der AZ, er stehe «voll und ganz» hinter den Menschenrechten, aber die im Brief angesprochenen Anliegen seien aus seiner Sicht berechtigt.

Der EGMR hat in den letzten Jahren mehrfach Urteile zu Asyl- und Migrationspolitik gefällt: 2020 verurteilte er die polnische Regierung, weil Schutzsuchende an der Grenze zu Belarus abgewiesen worden waren, ohne deren Fluchtgründe zu prüfen. Zwei Jahre später rügte er auch Griechenland: 2014 war ein Boot mit Flüchtenden vor der Insel Farmakonisi von den Behörden zurückgedrängt worden, elf Personen kamen dabei ums Leben. Manchen Politiker:innen gehen solche Urteile zu weit – auch in der Schweiz. Bereits im Mai winkte der Nationalrat einen Vorstoss von FDP-Ständerat Andrea Caroni durch, der das Urteil über die Klimaseniorinnen als «ausufernde und übergriffige Rechtsprechung» bezeichnete.

Mitarbeit: Sharon Saameli

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Revierkampf https://www.shaz.ch/2025/09/18/revierkampf/ Thu, 18 Sep 2025 11:32:38 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10112 Platzhirsch Samuel Gründler misst sich mit dem Staatsbetrieb SH Power. Dabei geht es auch um die Frage, wer die lauteste Röhre hat. Wer soll in Schaffhausen den Boden aufreissen, Rohre verlegen und Wärme liefern? Die öffentliche Hand oder private Unternehmer? Darüber diskutiert die Stadt gerade. Im Grunde aber steht hinter dieser Debatte ein einziger Mann: […]

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Platzhirsch Samuel Gründler misst sich mit dem Staatsbetrieb SH Power. Dabei geht es auch um die Frage, wer die lauteste Röhre hat.

Wer soll in Schaffhausen den Boden aufreissen, Rohre verlegen und Wärme liefern? Die öffentliche Hand oder private Unternehmer? Darüber diskutiert die Stadt gerade. Im Grunde aber steht hinter dieser Debatte ein einziger Mann: Samuel Gründler. Der Privatunternehmer will Wärmeverbünde bauen, und er war zuerst da.

Vielleicht haben die städtischen Werke nur wegen ihm angefangen, auf klimafreundliche Wärme umzurüsten. Jetzt wollen sie ihr Revier verteidigen und brauchen dafür Geld: Am 28. September soll die Stimmbevölkerung dem Staatsbetrieb einen 110-Millionen-Kredit für den Ausbau der Wärmeversorgung zusprechen. Und Platzhirsch Samuel Gründler, dessen Pläne durch ein Ja blockiert würden, tritt ihm entschieden entgegen: Er heizt den trägen Abstimmungskampf auf – schaltet mit seinen Geschäftspartnern teure Publireportagen in der Tageszeitung, teilt gegen die Behörden aus, samstags steht er in der Altstadt und verteilt reisserische Flyer. Was treibt ihn an?

Harter Nacken

Samuel Gründler steht an diesem Montagnachmittag vor der neuen Zentrale im Grubenquartier, die er mit seinen Partnern aufbaut. Es ist seine Schicksalsschmiede: Drinnen erhebt sich ein schwindelerregender, vierstöckiger Maschinenraum, in der Mitte die Heizkessel, in denen Feuer lodert, daneben gewaltige Wärmespeicher und selbstverständlich viele, viele Rohre. Bauarbeiter klettern auf Gerüsten herum, überall hämmert und pocht es. Diese Woche noch soll die Energiezentrale in Betrieb gehen und Wärme in hunderte, und vielleicht dereinst in bis zu 2000 Haushalte und Institutionen im Grubenquartier liefern. Gründler reicht einen Helm und führt die Stahltreppen hoch: «Jetzt machts Freude», sagt er enthusiastisch. Eineinhalb Jahre hätten sie Blut und Wasser geschwitzt, doch nun zeige sich: keine Probleme, alles laufe bisher nach Plan. Er weist auf einige technische Details hin: «Etliche Optimierungen, die über den Stand der Technik hinausgehen. Wir machens besser als das Lehrbuch.»

Gründler ist eine erstaunliche Persönlichkeit. Steht man ihm gegenüber, kann man sich vorstellen, wie er in Amtsstuben regelmässig für rote Köpfe und Schnauben sorgt. Er kämpft gerne, das sagt er auch von sich selbst. Man kann ihn herausfordern, er lässt sich nicht aus der Reserve locken. Stattdessen spricht er entwaffnend geradeheraus. Er strahlt in seinem Fachbereich eine Dominanz aus, die ihm auch als Arroganz ausgelegt wird. Dabei stützt er sich auf seine Erfahrung.

Vor gut zehn Jahren übernahm er das Ingenieurbüro seines Vaters. Das Büro war Lokalpionierin für innovative Energielösungen, schon vor über 40 Jahren baute es den ersten Wärmeverbund, als noch niemand etwas davon wissen wollte. En vogue sind sie erst seit Kurzem. Samuel Gründler erkannte vor ein paar Jahren, dass die Kund:innen auf Wärmeverbünde umsatteln wollen und sich hier ein hochprofitables Geschäftsfeld abzeichnet. Und in Schaffhausen gab es dafür eine Nische, die brach lag. Also begann Gründler zu planen, mehrheitlich zusammen mit dem Marthaler Baggerunternehmer Matthias Stutz. Beim Energieverbund in den Gruben (Schaffhausen Ost) ist zudem die Gloor AG dabei. Es ist ihr gemeinsames Grossprojekt.

Samuel Gründler ist ein Macher, das sagen alle, die ihn kennen. «Ich habe mein Leben in den letzten vier Jahren diesen Wärmeverbünden gewidmet. Ich habe im Schnitt sicher 70 Stunden die Woche gearbeitet», sagt er, der nebenbei noch diverse ehrenamtliche Ämter – und Familie – hat. Verfolgt Gründler eine Mission, schafft er Fakten.

In die Ecke gedrängte Beamte

Seit einigen Jahren treibt Gründler den Stadtrat vor sich her. Bis 2021 sass die Stadt gemütlich wiederkäuend auf ihrem Gasnetz und baute dieses sogar weiter aus, statt auf erneuerbare Energien umzusteigen. Doch dann kam als neuer Platzhirsch Samuel Gründler: Er überrumpelte den Stadtrat mit seinen Ambitionen. Aufgeschreckt rückte die Stadt bald schon mit einer eigenen Planung nach: dabei reservierte sie gewisse Gebiete für sich, um dort in Zukunft selbst einmal Wärmeverbünde zu planen. Seither und deshalb kommt sie sich mit Gründler ins Gehege. Unter Druck erteilte der Stadtrat Gründler schliesslich freihändig Konzessionen, um in gewissen Gebieten Rohre zu verlegen. Im Nachhinein stellte sich allerdings heraus, dass man diese Konzessionen für Dritte hätte ausschreiben müssen. Das wird die Stadt nach eigener Auskunft künftig auch machen. Doch Gründler gibt sich mit den Revieren, die ihm bereits zugefallen sind, nicht zufrieden. Er will mehr.

Draussen, vor der Zentrale in den Gruben. Samuel Gründler zeigt auf Wohnhäuser in der Umgebung: «Diesen Block dort oben dürfen wir anschliessen, jenen daneben nicht. Das macht doch keinen Sinn. Das hat einfach einer am Schreibtisch so eingezeichnet.»

Er meint damit die Gebiete Alpenblick/ Niklausen sowie Buchthalen, für die er unbedingt eine Konzession will. Der Stadtrat jedoch lehnte dies ab (der Stadtratsbeschluss liegt der AZ vor). Doch das will Gründler nicht akzeptieren. Er ist der Ansicht, er habe keine anfechtbare Absage bekommen, diese sei deshalb nicht rechtsgültig. Er spekuliert also einfach weiter auf diese Gebiete. Und um diese geht es ihm im Kern.

Gruben und Ungarbühl / Emmersberg (grün, blau) wurden dem Energieverbund Ost bewilligt, die orangen Gebiete würde er ebenfalls gerne von der Zentrale (rot markiert) aus beheizen. Dort plant die Stadt jedoch in grossen Teilen eigene Wärmeverbünde. Quelle: Energieverbund Ost
Gruben und Ungarbühl / Emmersberg (grün, blau) wurden dem Energieverbund Ost bewilligt, die orangen Gebiete würde er ebenfalls gerne von der Zentrale (rot markiert) aus beheizen. Dort plant die Stadt jedoch in grossen Teilen eigene Wärmeverbünde. Quelle: Energieverbund Ost

Vor ein paar Jahren noch sagte Gründler gegenüber der AZ, es gehe ihm bei seinem Kampf primär um die Energiewende (Ausgabe vom 30. Juni 2022). In der Tat: dass ihm die Ökologie am Herzen liegt, ist unbestritten. Gründler hat – vor dem Studium zum Energieingenieur – Biologie an der ETH und Fischbiologie in Schweden studiert, er kämpft im Schaffhauser Fischereiverein (und, bis vor Kurzem, im Schweizerischen Vorstand) allen Widerständen zum Trotz gegen das Fischsterben. Vor Kurzem aber ist er der FDP beigetreten, im vergangenen Wahlkampf unterstützte er Severin Brüngger – beide sind nicht für ihren Kampf fürs Klima bekannt. Gründler ist enttäuscht von der GLP. Er sieht seine Philosophie des freien Marktes, wo die beste Lösung obsiegen soll, aktuell einzig bei der FDP vertreten. Auch könne er zwischen lokalen und nationalen Themen unterscheiden: «Und sonst kann ich auch wieder austreten, da bin ich relativ emotionslos.»

Der Privatunternehmer richtet sich nach seinen persönlichen Massstäben. Er verhehlt nicht, dass es ihm bei der Abstimmung um den Rahmenkredit für SH Power um sein eigenes Geschäft geht. Um die Gebiete, die er rund ums Grubenquartier erschliessen möchte. Seine Zentrale sei darauf ausgelegt, sagt er. Nur so könnten laut ihm all seine Kund:innen von einem niedrigeren Tarif profitieren. Und um diese gehe es ihm. «Ich will in den Spiegel schauen können. Ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, dass wir uns nicht für unsere Kunden eingesetzt haben.»

Zwei Hüte

Das tut Gründler gründlich. Er wird nicht müde, Spitzen gegen die Führung von SH Power zu setzen. Im Grundsatz wirft er ihr vor: Ihr fehle strategische Weitsicht und die Erfahrung aus dem Betrieb von eigenen Wärmeverbünden. Auf einer Timeline auf seiner Website zeigt Gründler auf, wie die Konfliktlinie mit der Stadt verlief: demnach wurde sein Projekt blockiert, ausgebremst und – so kann man es verstehen – kopiert. Tatsächlich zeigen die zeitlichen Abläufe, wie die Stadt versuchte, ihre bedrohte Position als Alphatier zu stärken.

Der kritisierte Werkreferent selbst, Stadtpräsident Peter Neukomm – nach dem wortwörtlich der Platzhirsch im Munotgraben benannt ist – möchte auf Anfrage der AZ festhalten, dass SH Power auf Stadtgebiet der grösste und wichtigste Betreiber von Wärmenetzen sei. Der Rahmenkredit sei zwingend nötig für eine schnelle Erschliessung diverser Quartiere. «Wir bedauern, dass die Städtischen Werke SH Power nun im Abstimmungskampf mit unlauteren Unterstellungen angegriffen werden. Aus unserer Sicht braucht es ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander.»

Samuel Gründler indessen schiesst aus allen Rohren. Dabei hat er auch noch zwei Hüte auf: Er berät mit seinem Ingenieurbüro Gemeinden, Gewerbe und Industrie, aber auch Privatkunden und empfiehlt ihnen die beste Wärmelösung. Und wenn er einen Wärmeverbund von SH Power für teuer hält, dann sagt er das auch. 

Man kann Gründlers Frust gegenüber dem Behördenapparat nachvollziehen. Aber letztlich geht es um den öffentlichen Grund und Boden, den er aufreissen will. Gründler erwidert, er wolle dies ja nur, weil seine Wärmeverbünde einem Bedürfnis in der Bevölkerung entsprechen.
Was ihn antreibt, ist ein starker Glaube an Fairness – respektive an das, was er selbst dafür hält. Die Frage ist nur: Überschätzt er sich?

Ruf und Risiko

Denn natürlich geht es vor allem um extrem viel Geld. Gründlers verschiedene Wärmeverbund-Aktiengesellschaften, an denen er beteiligt ist, speisen sein Ingenieurbüro mit Aufträgen und zahlen dafür. Sein Büro hat 17 Angestellte, die Hälfte arbeitet laut Gründler dieses Jahr am Wärmeverbund in der Gruben mit. Als Mitbesitzer der Aktiengesellschaften werde er aber nicht reich, sagt er: «In den nächsten 15 bis 20 Jahre müssen wir die Bankschulden zurückzahlen. Erst danach unsere eingebrachten Eigenmittel. Bis der Wärmeverbund frühestens einen Gewinn ausschütten kann, wird es mindestens 30 Jahre dauern.»

Grosse Wärmeverbünde sind ein risikoreiches Unterfangen. Ja, sagt Gründler, er sei schon risikoaffin. «Ohne Risiko könntest du keine Wärmeverbünde bauen. Sonst müsste man so viel auf den Energiepreis draufschlagen, dass man keine Kunden findet. Aber durch unsere jahrzehntelange Erfahrung können wir das Risiko gut kalkulieren. Darum schlafe ich gut.»

Kritische Stimmen sagen, Gründlers Expansionsgelüste in der Gruben seien vermessen. Sie bezweifeln, dass er es baulich überhaupt stemmen könnte, auch noch ganz Alpenblick / Niklausen und insbesondere Buchthalen zu beliefern. Die Stadt ihrerseits will letzteres Quartier fernwärmetechnisch nachhaltig mit einer Rheinwasseranlage erschliessen. Gründler indessen heizt anfangs noch ausschliesslich mit weniger ökologischen Holzschnitzeln. Diese will er bald mit Wärmepumpen ergänzen, der Kanton hat ihm bereits die nötige Konzession zur thermischen Grundwassernutzung erteilt. Darüber, ob Holzschnitzel im Winter tatsächlich so unökologisch sind, lässt sich laut Gründler streiten: «Im Vergleich zum begehrten Winterstrom ist das Holz lokal verfügbar.» Er ist fest von seiner Strategie überzeugt. Und: «Wenn jemand eine bessere hat, soll dieser bauen dürfen. Die beste Lösung sollte gewinnen.»

Erstunterzeichner Martin Hongler übergibt Stadtpräsident Peter Neukomm am 23. Mai 2024 die Volksmotion «Wärmeverbünde JETZT!». Foto: Robin Kohler
Erstunterzeichner Martin Hongler übergibt Stadtpräsident Peter Neukomm am 23. Mai 2024 die Volksmotion «Wärmeverbünde JETZT!». Foto: Robin Kohler

Für Letzteres hatte sich vergangenes Jahr auch die Volksmotion «Wärmeverbünde JETZT!» eingesetzt. Ihr geistiger Vater, Martin Hongler, hatte die Trägheit und Abwehrhaltung von SH Power bei der Energiewende kritisiert. Auf Nachfrage sagt Hongler, nun auf die städtischen Werke einzudreschen und Zweifel an der Institution zu säen, halte er für schlechten Stil. Er sieht es unideologisch: «Für mich sind Wärmeverbünde nicht besser oder schlechter, wenn sie privat oder vom Staat erstellt werden. Das Ziel war von Anfang an, dass es schnell geht.» Und das sei nur möglich, wenn man SH Power den Rahmenkredit zuspreche.

Platzhirsch Samuel Gründler ist offenbar anderer Meinung. Draussen, an der Betonwand der Energiezentrale in den Gruben hängen zwei überdimensionale Plakate: Das eine empfiehlt ein «Nein zum Rahmenkredit», das andere nennt nur drei Worte: «Innovativer, schneller, günstiger». Der Komparativ wird bei Gründler gross geschrieben. Und genau das ist dieser Revierkampf zwischen SH Power und Privatunternehmer Samuel Gründler im Grunde: ein Rohrvergleich.

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Einzug ins Paradies https://www.shaz.ch/2025/08/28/einzug-ins-paradies/ Thu, 28 Aug 2025 09:39:02 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10007 Der Bund möchte Privilegien für reiche Rentner:innen abschaffen. Der Kanton Schaffhausen hat sich aber in den vergangenen Jahren zu einem regelrechten Paradies für diese Gruppe entwickelt. Irgendwann ist es so weit, ein letztes Mal einstempeln, nur noch eine Schicht und der letzte Smalltalk an der Kaffeemaschine, und dann: Sie gehen nach Hause in ihre wohlverdiente […]

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Der Bund möchte Privilegien für reiche Rentner:innen abschaffen. Der Kanton Schaffhausen hat sich aber in den vergangenen Jahren zu einem regelrechten Paradies für diese Gruppe entwickelt.

Irgendwann ist es so weit, ein letztes Mal einstempeln, nur noch eine Schicht und der letzte Smalltalk an der Kaffeemaschine, und dann: Sie gehen nach Hause in ihre wohlverdiente Pension.

Vielleicht haben Sie bereits Pläne geschmiedet, was Sie in Ihrer dritten Lebenshälfte anstellen wollen: Endlich ausschlafen oder eben gerade nicht, endlich früh morgens mit den Wanderhosen in den Schnellzug steigen, mit den Enkeln spielen, endlich Japanisch oder Tennis lernen. Sie haben sich natürlich auch Gedanken über das Geld gemacht, darüber, ob Ihre Rente für all die Pläne, die Sie haben, auch ausreichen wird. Wenn Letzteres für Sie keine Sorge ist, dann gehören Sie zur Gruppe der sehr reichen Pensionär:innen. 

Herzliche Gratulation!

Seien wir ehrlich: Ihre Gedanken haben sich vor Ihrem 65. Geburtstag um ganz andere Fragen gedreht: Wie können Sie die angesparten Millionen möglichst steuergünstig in den Lebensabend retten?

Wir haben da was für Sie. Dürfen wir Ihnen den Kanton Schaffhausen vorstellen?

Zwei Tricks

Je nachdem, wie Pensionierte ihr angespartes Geld beziehen, fallen unterschiedliche Steuern an. Wer wie die meisten Menschen eine monatliche AHV- und Pensionskassenrente bezieht, zahlt wie früher auf den Lohn eine Einkommenssteuer. 

Doch wer während seinem Arbeitsleben sehr viel verdient, dem stehen gleich zwei Steuertricks zur Verfügung, um die Steuerlast vor und nach der Pensionierung stark nach unten zu drücken. Anfang dieser Woche reichte die SP des Kantons Schwyz gegen einen der beiden Tricks Beschwerde beim Bundesgericht ein. 

Aber so lange die Richter:innen in Lausanne noch nicht entschieden haben und die Tricks noch legal sind, erklären wir Ihnen, wie’s geht. 

Der erste Trick: Zusätzlich zu den obligatorischen Pensionskassenbeträgen kann man bei genügend Kleingeld freiwillig mehr in die zweite Säule einzahlen – und dieses Geld gleichzeitig in der Steuererklärung abziehen. Das ist vor allem kurz vor der Pensionierung attraktiv, weil da die Löhne und somit auch die Steuerrechnung meist am saftigsten ausfallen. Über ein ganzes Arbeitsleben können Gutverdiener:innen so, mit Zinsen, über zehn Millionen Franken anhäufen. 

Und dabei viel sparen: Eine Stadtschaffhauser Bankerin mit einem steuerbaren Einkommen von einer halben Million Franken, die zehn Jahre vor ihrer Pensionierung jährlich 50 000 Franken zusätzlich in ihre Pensionskasse einzahlt, spart über diesen Zeitraum hinweg rund 85 000 Franken an Einkommenssteuern.

Doch das ist nichts im Vergleich zum zweiten Steuertrick (gegen den vor Bundesgericht Beschwerde eingereicht wurde): Sobald sich Gutverdiener:innen pensionieren lassen, können sie sich ihr ganzes Pensionskassenkapital auf einen Schlag statt monatlich auszahlen lassen. Anstatt den normalen Einkommenssteuern müssen sie dafür nur einen Ministeuersatz zahlen – und fast nirgends ist dieser so tief wie im Kanton Schaffhausen. Von allen 2121 Schweizer Gemeinden liegen die Steuern auf Kapitalbezüge von einer Million Franken in Stetten und Buchberg mit 5,1 Prozent am dritttiefsten; vergleicht man alle Kantonshauptorte untereinander, ist die Stadt Schaffhausen sogar die zweitgünstigste. 

Doch wie günstig? Wer sich in Buchberg auf die Pensionierung eine Million Schweizer Franken aus seiner zweiten Säule auszahlen lassen würde, müsste darauf etwas mehr als 50 000 Franken an Bundes-, Kantons- und Gemeindesteuern zahlen. Würde man sich in der Gemeinde im unteren Kantonsteil den gleichen Betrag über 20 Jahre hinweg ganz normal als Rente auszahlen, fiele der Steuerbetrag rund doppelt so hoch aus.

Haben sich Buchberg und Stetten, die auch paradiesisch tiefe Einkommenssteuern haben, also eine weitere Nische im Steuerwettbewerb, dieses Mal um reiche Rentner:innen, geschaffen? Der Buchberger Finanzreferent Marcel Gehring winkt auf Anfrage ab. Zwar falle die Steuerbelastung auf den Kapitalbezug aus der zweiten Säule in Buchberg tiefer als in anderen Schaffhauser Gemeinden aus, weil die Gemeinde einen tieferen Steuerfuss habe. «Entscheidender ist der tiefe Ansatz des Kantons Schaffhausen mit einer günstigen Progression.»

Das ist der Fall, weil der Kanton Schaffhausen anders als etwa der Kanton Bern keinen seperaten Tarif für den Kapitalbezug kennt. Stattdessen ist dieser an die Berechnung der Einkommenssteuern gekoppelt. So ist der Ansatz, von dem der Buchberger Finanzreferent spricht, über das vergangene Jahrzehnt im Kanton Schaffhausen konstant gesunken, gerade für die Reichsten: bei hohen Kapitalbezügen um rund ein Drittel.

Bund will Privilegien abschaffen

Das ist wohl ein Hauptgrund dafür, dass sich die Zahl jener, die sich ihr Pensionskassenkapital auszahlen lassen, im Kanton Schaffhausen seit 2015 fast verdoppelt hat. Wobei dieselben Zahlen auch zeigen, dass längst nicht nur Reiche ihr Pensionskassenkapital auf einmal beziehen: Zwar hat sich im Kanton Schaffhausen in den vergangenen Jahren auch der Median der ausgezahlten Pensionskassenkapitalien verdoppelt, aber dieser liegt mit 180 000 Franken weit weg von Millionenbeträgen; drei Viertel der ausgezahlten Gelder im Kanton Schaffhausen lagen 2023 unter 340 000 Franken. (Wie hoch die höchsten Bezüge im Kanton Schaffhausen sind, lassen sich aus den Zahlen des Bundesamts für Statistik und aus der kantonalen Steuerstatistik nicht ablesen.)

Dass sich auch Personen mit weniger prallen Pensionskassenguthaben ihr Kapital auszahlen lassen, folgt einem schweizweiten Trend. 2023 waren diejenigen, die ihr Pensionskassenkapital bezogen, anstatt eine monatliche Rente in Anspruch zu nehmen, sogar eine knappe Mehrheit. Für Menschen mit tiefen Einkommen ist der Bezug mit grossen Risiken verbunden – sie müssen nun selbst Geldanlagen suchen, die bis zum Lebensende eine regelmässige Rendite abwerfen; viele, so sagen Vorsorgeexpert:innen, würden unterschätzen, wie lange sie nach der Pensionierung noch leben – und wie kurz ihr Geld tatsächlich ausreicht. 

Für den Staat bedeutet der Trend zu immer mehr Kapitalbezug vor allem einen Einnahmeeinbruch. Und weil der Bund sich selbst Sparziele auferlegt hat, will er den Kapitalbezug aus der zweiten Säule nun unattraktiver machen, gerade bei den Superreichen. Er schlägt vor, den Steuersatz stark zu erhöhen; neu sollen die Bundessteuern auf einen Kapitalbezug von zehn Millionen Franken von 230 000 Franken auf über 700 000 Franken steigen. Kleinbezüge bis Hunderttausend Franken pro Jahr sollen hingegen von der Steuererhöhung verschont bleiben. Über die Pläne müssen noch die eidgenössischen Räte abstimmen und wahrscheinlich irgendwann auch die Stimmbevölkerung – die FDP hat bereits das Referendum angekündigt.

So oder so: Auf die Höhe der Steuersätze in den Kantonen hätte die Erhöhung auf Bundesebene keinen Einfluss. Unter Ihnen hat sich in den letzten Jahren ein Wettkampf um reiche Rentner:innen entwickelt, etliche haben ihre Steuersätze auf Kapitalbezüge in den vergangenen Jahren gesenkt. 

Für die sehr reichen Rentner:innen liegt zwischen Paradies und Hölle nur der Rhein. 

Kommen Sie, kommen Sie!

Und hier möchten wir nochmals mit Ihnen ganz direkt sprechen, liebe gutbetuchte Neurentner:innen. 

Denn wo Sie Ihren Lebensabend verbringen, kann finanziell entscheidend sein. Wenn Sie zum Beispiel in Feuerthalen Ihr Pensionskassenkapital von einer Million Franken beziehen, zahlen sie heute fast doppelt so viel als ennet des Rheins; bei einem Bezug von zehn Millionen Franken müssten Sie ganze zwei Millionen Franken mehr Steuern zahlen als eine Stadtschaffhauserin. In Buchberg oder Stetten, den Rentnerparadiesen unter den Rentnerparadiesen, ist das Sparpotenzial noch grösser.

Wie viele reiche Renter:innen sich wegen den tiefen Steuern in Buchberg niedergelassen haben, könne er nicht beantworten, sagt Finanzreferent. «Die Gründe für Zuzüge sind uns nicht bekannt.»

Eine Auswertung, die das Bundesamt für Statistik für die AZ gemacht hat, zeigt, dass die grosse Seniorenwanderung nach Schaffhausen bisher ausgeblieben ist. Zwischen 2015 und 2024 zogen nur 1360 Personen im Alter von über 65 in eine Schaffhauser Gemeinde; in die Steuerparadiese Stetten und Buchberg zusammen gerade einmal 20. Seien Sie also Pionier:innen – ziehen Sie in den Kanton Schaffhausen, um alt zu werden. Und um Geld zu sparen.

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Angst vor Kahlschlag https://www.shaz.ch/2025/08/07/angst-vor-kahlschlag/ Thu, 07 Aug 2025 09:27:22 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9912 Auf dem Geissberg regt sich Unmut. Bewohner:innen fühlen sich zu wenig über die Baupläne beim Spital informiert – und fürchten um ihren Wald. Vier Pensionierte stehen im waldigen Pärkli des Kantonsspitals und machen ihrem Ärger Luft. «Das sind doch Buebetrickli», sagt jemand, ein andermal ist von «Behördenformalismus» die Rede. Immer wieder kommt es zu Kopfschütteln, […]

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Auf dem Geissberg regt sich Unmut. Bewohner:innen fühlen sich zu wenig über die Baupläne beim Spital informiert – und fürchten um ihren Wald.

Vier Pensionierte stehen im waldigen Pärkli des Kantonsspitals und machen ihrem Ärger Luft. «Das sind doch Buebetrickli», sagt jemand, ein andermal ist von «Behördenformalismus» die Rede. Immer wieder kommt es zu Kopfschütteln, Kartenauszüge werden auf den runden Holztisch in ihrer Mitte gelegt. Die vier Pensionierten sind vom Quartierverein Geissberg und es geht um das Spitalareal.

Der Unmut der Quartierbewohner:innen hat sich über längere Zeit aufgebaut. Seit weit mehr als zehn Jahren läuft das Hin und Her um den Neubau des Spitals. Durch mehrere Projektstopps, Spitalratswechsel, juristische Tauziehen und vor allem anhaltende Finanzierungsprobleme schleppte sich das Projekt dahin. Nun will der Kanton mit anpacken, der Kantonsrat hat sich geschlossen hinter eine 130 millionenschwere Finanzspritze für das Projekt (70 Mio. à fonds perdu, 60 Mio. Darlehen) gestellt. Voraussichtlich im November kann das Volk ja zu seinem neuen Spital sagen. Was lange wie ein Luftschloss über dem Geissberg und wie ein Damoklesschwert über dem Spitalrat schwebte, könnte nun endlich Realität werden. Der grosse Schritt steht bevor. Doch die Quartierbewohnerinnen fühlen sich aussen vor gelassen.

Salamitaktik am Wald

Für die Leute vom Geissberg war die jahrelange Geschichte des Spitalneubaus nicht nur unübersichtlich, sondern auch verunsichernd: Sie wissen nicht, wie sich ihr Quartier verändern wird. Denn nur eines ist klar: Die baulichen Umwälzungen werden massiv sein.

Die Vertreter:innen des Quartiervereins – Dora Dickenmann, Urs Huber-Wäspi und Hansjörg Baumann vom Vorstand und Mitglied Heinz Lacher – äussern dabei weniger Besorgnis um das, was kommt. Sondern um das, was ihnen genommen wird: Sie fürchten um ihren Wald.

Was ihr Misstrauen erregte: 2017 wurde vor dem Spitalatbau an der Grafenbuckstrasse Wald gerodet, um 85 temporäre Parkplätze zu schaffen. 2024 wurden entlang der J.J. Wepfer-Strasse Bäume gefällt und durch 63 temporäre Parkplätze ersetzt. Auch der Bau des bereits ausgesteckten Spital-Parkhauses wird Bäume kosten. Ebenso die neue Akutpsychiatrie, die auf den Geissberg verlegt werden könnte – dorthin, wo einst Aufforstungen angedacht waren. Und in der Tat beträchtlich: eine Rodungsfläche von 18513 Quadratmetern war ursprünglich für den Spitalcampus vorgesehen, so gross also wie fast drei Fussballfelder.

Heinz Lacher, Hansjörg Baumann, Dora Dickenmann und Urs Huber-Wäspi vom Quartierverein Geissberg im Spitalpark. Foto: Peter Pfister
Heinz Lacher, Hansjörg Baumann, Dora Dickenmann und Urs Huber-Wäspi vom Quartierverein Geissberg im Spitalpark. Foto: Peter Pfister

Heinz Lacher ist beim Treffen im Pärkli des Kantonsspitals der Wortführer. Der pensionierte Hochbautechniker setzt sich akribisch mit dem Areal auseinander. Bei der Stadt hat er bereits zwei Einwendungen gegen deren Zonenplan gemacht. Auch der Kantonsregierung schaut er auf die Finger: Er gelangte erfolgreich an Kantonsrat Patrick Portmann, der eine kleine Anfrage zu den Waldrodungen einreichte. Mit den Antworten der Regierung ist Heinz Lacher nur bedingt zufrieden. Seiner Meinung nach nimmt es der Kanton zu wenig genau beim Waldgesetz und treibt die Ersatzaufforstungen nicht schnell genug voran. Störend für Lacher: Die Parkplätze auf dem gerodeten Waldstück beim Spitalaltbau sollen zwar wieder rückgebaut werden – die Fläche wird laut Regierung aber «nicht wieder an Ort und Stelle aufgeforstet», sondern bleibt Bauzone. Aufgeforstet werden soll anderswo. Eine der vorgesehenen Ersatzflächen im weit entfernten Eschheimertal hat Heinz Lacher sogar auf eigene Faust überprüft – und findet persönlich, dass da bereits Wald sei, und es kaum etwas aufzuforsten gebe. Er ist ausserdem überzeugt: Für die kürzlichen Fällungen an der J.J. Wepferstrasse hätte es eine kantonale Bewilligung gebraucht, weil die Bäume älter als 20 Jahre waren.

Kantonsförster Urban Brütsch verneint dies auf Anfrage der AZ: Bei der Fläche handle es sich rechtlich nicht um Waldareal, das Alter der Bäume für sich genommen sei nicht ausschlaggebend.

Nichtsdestotrotz: Heinz Lacher wittert eine Salami-Taktik, mit welcher der Kanton den Geissbergwald abtranchiert und zerstückelt, um Bauland zu generieren und dem Waldgesetz durch Umzonung auszuweichen.

Zu wenig einbezogen

Was dabei vor allem klar wird: Bei Anwohnenden des Geissbergs herrscht Misstrauen gegenüber dem Vorgehen der Behörden. Das hat eine Vorgeschichte: Der Abriss des Pflegezentrums 2024 hat eine grosse Narbe hinterlassen. Die Quartierbewohnerinnen und andere Teile der Bevölkerung fühlten sich davon verschaukelt, wie die Stadt das Areal des ehemaligen Pflegezentrums vom Kanton übernahm – nämlich abgerissen. Was den Quartierverein an dem Abbruch besonders störte: Dass nicht nur das grosse Gebäude, sondern gleich das gesamte Areal auf Vorrat dem Erdboden gleichgemacht wurde. Auch den beliebten Park mit Pavillon, Froschteich und alten Bäumen konnten die Bewohner:innen nicht vor den Baggern retten.

Die Geschichte des Pflegezentrums
2020 sagte das Stimmvolk Ja zum Umzug der Pädagogischen Hochschule in die Kammgarn und besiegelte damit zugleich ein Tauschgeschäft: Die Stadt verkaufte ihre Kammgarn-Etagen an den Kanton und konnte ihm im Gegenzug das Pflegezentrum abkaufen – und zwar, und das war nicht allen bewusst, definitiv rückgebaut.

Das Areal liegt heute brach und dient der Stadt als Baulandreserve. Wie die Kantonsregierung nun publik machte, hat die Stadt das Areal vorübergehend an das Kantonsspital vermietet. Das Kantonsspital bestätigt auf Anfrage der AZ, dass es während der Bauarbeiten temporär als Parkplatz sowie als Aushubdeponie genutzt werden soll.

Der Kampf um das Pflegezentrum-Areal hat den Quartierverein Geissberg politisiert. Dora Dickenmann, Co-Präsidentin des Quartiervereins, sagt: «Es ist so viel passiert. Wir sehen unser Naherholungsgebiet gefährdet.» Sie und ihre drei Kollegen sagen, es gehe ihnen nicht darum, den Neubau in Frage zu stellen, im Gegenteil: «Der Neubau ist – soviel wir wissen – im Quartier unumstritten», so Dickenmann. Was sie kritisieren, ist die Informationspolitik der Behörden.

Stadt, Kanton und Spitäler würden sich die Verantwortung über die Zuständigkeit gegenseitig zuschieben, so Dora Dickenmann: «Man hat nicht wirklich das Gefühl, dass sie an einem Strang ziehen.» Vorstandskollege Hansjörg Baumann ergänzt: «Wir müssen den Behörden ständig Informationen aus der Nase ziehen und es fühlt sich an, als würden wir immer hinterherhinken. Wir sind Laien, wir wissen nicht, wann es sinnvoll ist, dass wir einbezogen werden.»

Heinz Lacher zieht einen historischen Vergleich: Als Heinrich Moser Mitte 19. Jahrhunderts seinen Damm bauen wollte, habe er die Leute mitgenommen. Er habe ihnen aufgezeigt, wieso sein monumentales Bauprojekt die Schaffhauser Industrie ankurble – und habe nicht versucht, etwas rein formalistisch durch die Hintertür umzusetzen.

Was also wollen die Leute vom Geissberg?

Heinz Lacher sagt: «Wir wollen auf Augenhöhe informiert werden. Wir wollen sehen, dass man so wenig wie möglich rodet und so viel wie möglich aufforstet. Die Spitalneubauten sollen massgeschneidert in den Wald gesetzt werden, so dass es sich weiterhin um ein Waldspital handelt.» Kein Roden auf Vorrat also und eine transparente, proaktive Information. Alles andere sorge für Zweifel daran, dass es auf dem Geissberg ein Gesamtkonzept in Einklang mit der Natur gebe, sagt Heinz Lacher.

Das Baugesuch für den Spitalneubau soll im September 2025 eingereicht werden, wie die Spitäler Schaffhausen gegenüber der AZ mitteilen. Darin enthalten müssen auch die nun geplanten Rodungen und Aufforstungen sein. Der Start der baulichen Erneuerung ist für Juni 2026 geplant.

Kantonsrat Patrick Portmann plant nun eine Volksmotion «kein Kahlschlag auf dem Geissberg». Sie ist ein Warnschuss, dass man den Zuständigen bei der Planung des Spitals genau auf die Finger schaut.

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Schutzbedürftig https://www.shaz.ch/2025/07/17/schutzbeduerftig/ Thu, 17 Jul 2025 09:51:43 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9738 Der Kanton kündigt Mieter:innen in vier ­Liegenschaften aus Eigenbedarf. Wie es dazu kam. Es dröhnt an der Krebsbachstrasse. Über die Schutzwände dringt als Hintergrundmusik der Verkehrslärm der Autobahn, das Zischen der Zuggleise. Spricht man mit den Menschen, die an dieser zwischen Hochstrasse und Autobahn eingeklemmten Strasse wohnen, mischt sich oft ein Seufzen hinzu. Mitte Mai […]

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Der Kanton kündigt Mieter:innen in vier ­Liegenschaften aus Eigenbedarf. Wie es dazu kam.

Es dröhnt an der Krebsbachstrasse. Über die Schutzwände dringt als Hintergrundmusik der Verkehrslärm der Autobahn, das Zischen der Zuggleise. Spricht man mit den Menschen, die an dieser zwischen Hochstrasse und Autobahn eingeklemmten Strasse wohnen, mischt sich oft ein Seufzen hinzu. Mitte Mai erhielt rund die Hälfte der Bewohner:innen der Hausnummern 73, 75, 81 und 83 einen Brief. Darin erfuhren sie, dass ihr Mietverhältnis per Ende September gekündigt wird; 10 von insgesamt 24 Wohnungen sind betroffen. Einige dieser Menschen wohnen seit wenigen Jahren hier, andere seit über vier Jahrzehnten. Sie alle müssen nun Ende September raus.

Die Gebäude an der Krebsbachstrasse sind im Besitz des Kantons Schaffhausen, werden aber durch das kantonale Sozialamt verwaltet. Und es ist das kantonale Sozialamt, das im Brief an die betroffenen Mieter:innen die Kündigung begründet. Die Liegenschaften würden künftig für den Eigenbedarf gebraucht, nämlich zur «Unterbringung von Klientinnen und Klienten aus dem Asyl- und Fluchtbereich». Zudem seien die Häuser baulich «stark sanierungsbedürftig». Zwei weiteren Mietparteien an der Krebsbachstrasse 129 und 131 hat das kantonale Sozialamt bereits im März gekündigt, die Gebäude müssten totalsaniert werden. 

Die Konstellation ist politisch pikant. Vor zwei Jahren löste die Kündigung von 49 Mieter:innen im aargauischen Windisch schweizweit Aufregung aus. Ein privater Vermieter hatte allen Mietparteien gekündigt, um das Gebäude fortan zur Zwischennutzung an das kantonale Sozialamt zu vermieten. Die SVP instrumentalisierte den «Fall Windisch» und die betroffenen Mieter:innen für fremdenfeindliche Hetze.

Im Fall der Kündigungen an der Krebsbachstrasse ist vieles anders. Schief gelaufen ist trotzdem manches. 

Ende der 1970er-Jahre waren die politischen Geister in Bern und an der Schaffhauser Beckenstube bewegt von der Idee vom Ausbau der N4 (heute A4). Um den nötigen Platz dafür zu schaffen, kauften Bund und Kanton – 78 Prozent der Mittel stammten aus dem Nationalstrassenfonds – die Gebäude an der Krebsbachstrasse auf. Mit dem erklärten Ziel, sie abzureissen. 

Bis es so weit war, konnten die Wohnungen aber noch bewohnt werden. Vor allem Arbeiter:innen und öffentliche Angestellte wie Rita Rufián* zogen ein. Rufián kam Ende der 1970er-Jahre als Arbeitsmigrantin in die Schweiz und lebt bis heute an der Krebsbachstrasse. 

Denn der Abbruch kam nie. In den 1980er-Jahren erhitzte sich der Schaffhauser Wohnungsmarkt nämlich derart, dass die Regierung mit ihren Abrissplänen erst einmal zuwartete. An einer Pressekonferenz 1982 versicherte Baudirektor Ernst Neukomm (SP), dass man die Bewohner:innen an der Krebsbachstrasse nicht einfach auf die Strasse stellen werde. Durch eine Überarbeitung des Strassenbauprojekts sollten einige der Häuser gerettet werden, für die restlichen Bewohner:innen der Krebsbachstrasse wollte man zusammen mit dem Bund und einheimischen Wohnbaugenossenschaften preisgünstigen Wohnraum schaffen. Als die Schaffhauser Bevölkerung 1990 dann noch einer Initiative des Grünen Bündnisses zur Förderung von preisgünstigem Wohnraum zustimmte, war an den Abbruch der Häuser nicht mehr zu denken. Die Strassenführung wurde geändert, die Häuser an der Krebsbachstrasse blieben grösstenteils unversehrt. 2004 kaufte der Kanton die Liegenschaften dann ganz, mit Bundesgeldern für die Unterbringung von Geflüchteten, und übergab sie dem kantonalen Sozialamt. Weil man im Quartier aber weiterhin eine soziale Durchmischung anstrebte, vermietete man weiterhin einen Teil der Wohnungen an externe Mieter:innen wie Rita Rufián.

«Seit 2022 müssen wir mehr Personen unterbringen, aber wir können auf dem Wohnungsmarkt immer seltener preiswerte Wohnungen anmieten.»

Asylkoordinator Stefan Pfister

Rufián sitzt auf ihrem Sofa zu Hause an der Krebsbachstrasse, während ihre Tochter Gabriela* Dokument um Dokument aus ihrer Mappe hervorholt. Die Wohnung ist einfach und gepflegt eingerichtet, die Badezimmerplättchen über der Wanne stammen noch aus den 1940er-Jahren. Sonst scheint die Wohnung aber in einem guten Zustand zu sein: Die Böden in Küche und Badezimmer sind relativ neu und auch der Gasherd wurde vor noch nicht allzu langer Zeit ersetzt, erklärt Rita Rufián.

Ihre Tochter legt das Schreiben vom 16. Mai auf den Tisch. Dort schreibt das kantonale Sozialamt, dass man die Mieter:innen frühzeitig über die bevorstehende Kündigung informiere, da man sich bewusst sei, dass dies mit einschneidenden Veränderungen verbunden sei. «Die ordentliche Kündigungsfrist ist drei Monate», sagt Gabriela Rufián verständnislos. «Das Sozialamt hat meiner 77-jährigen Mutter nach über vierzig Jahren in der Wohnung also sechs Wochen mehr Zeit eingeräumt als gesetzlich vorgesehen. Und stellt das nun als grosszügige Geste dar.»

Das kantonale Sozialamt verweist auf Anfrage an Stefan Pfister, der erst seit Dezember 2024 kantonaler Asyl- und Flüchtlingskoordinator ist. «Die Situation hat sich zugespitzt», sagt Pfister im Gespräch mit der AZ. Vor dem Ukrainekrieg lag die Zahl der Personen im kantonalen Asylbereich stabil bei rund 1000, die Unterbringungskapazitäten des Kantons seien mit den heute rund 1500 Personen zu über 90 Prozent ausgelastet. «Seit 2022 müssen wir deutlich mehr Personen unterbringen, aber wir können auf dem Wohnungsmarkt immer seltener preiswerte Wohnungen anmieten.» Zum einen, weil einige Vermieter Vorbehalte gegenüber dem Asylbereich hätten. Zum anderen, weil das kantonale Sozialamt keine beliebigen Mieten zahlen kann, sondern sich an die Mietobergrenze der Sozialhilfe halten müsse.

Stefan Pfister sagt: «Ich finde es schwierig zu rechtfertigen, dass wir als Kanton mit Personen mit tiefen Einkommen um günstigen Wohnraum konkurrieren, wenn wir selbst noch Wohnraum haben, den wir nicht vollständig ausnutzen.» Also wandte sich das Sozialamt den eigenen Immobilien an der Krebsbachstrasse zu. Er könne nachvollziehen, dass dies für die betroffenen Mieter:innen einschneidend sei. Aber: «Es handelt sich nicht um besonders schutzbedürftige Personen, sondern um mündige Erwachsene, welchen man eine Suche auf dem Wohnungsmarkt zumuten kann».

Die Frage, wer schutzbedürftig ist, schwebt als grosses Fragezeichen über den Kündigungen an der Krebsbachstrasse. Natürlich sind das die Geflüchteten, die Stefan Pfister unterbringen muss. Sie kommen oft aus Konfliktgebieten, haben keine freie Wohnungswahl, einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt und dürfen nicht frei reisen. Der Status als vorläufig Aufgenommene, den viele haben, die an der Krebsbachstrasse wohnen, ist prekär und wird von Organisationen wie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe seit Jahren kritisiert.

Zugleich sind die Mieter:innen, die nun weichen müssen, selbst teilweise ehemalige Geflüchtete. Oder sie sind wie Rita Rufián als Arbeitsmigrant:innen in die Schweiz gekommen. Sie konnten bisher von den tiefen Mieten an der Krebsbachstrasse profitieren: Die Miete von Rita ist in den vergangenen vier Jahrzehnten nur um ein paar hundert Franken gestiegen, sie zahlt heute für ihre Drei-Zimmerwohnung mit Garage 545 Franken. 

Anders die Entwicklung auf dem Schaffhauser Wohnungsmarkt, den die Bewohner:innen der Krebsbachstrasse nun durchstöbern müssen. Seit 2016 sind die Angebotsmieten im schweizweiten Vergleich überdurchschnittlich stark gestiegen, die Leerwohnungsziffer ist für einen ländlichen Kanton wie Schaffhausen tief. Wie für das kantonale Sozialamt ist es auch für Personen mit kleinen Einkommen immer schwieriger, günstigen Wohnraum zu finden (AZ vom 15. Mai 2025).

Tochter Gabriela Rufián nimmt die AZ mit auf einen Rundgang durch die Krebsbachstrasse. Sie zeigt auf eine Wohnung im Parterre: «Die stand ein Dreivierteljahr leer und ist erst seit zwei Wochen wieder bewohnt. Im Frühling wurden die Küche und das Badezimmer renoviert. Und jetzt soll das Haus noch totalsaniert werden.» Sie vermute, der Kanton habe die Sanierungspläne schon länger gehegt, aber: «Niemand hat das Gespräch mit den Bewohner:innen gesucht, obwohl das Sozialamt an der Krebsbachstrasse sogar Büros hat.»

Dann bleibt sie vor dem Haus mit der Nummer 55 stehen. Im Gegensatz zu den anderen ist es sichtbar leer, die Fensterläden wiegen abgewetzt im Wind. Den Mieter:innen sei vor über zwei Jahren durch das Sozialamt gekündigt worden, weil das Haus nicht mehr bewohnbar sei, sagt Rufián. «Warum wurde dieses Haus in der Zwischenzeit nicht bewohnbar gemacht, wenn der Kanton dringend Wohnraum für Eigenbedarf braucht?»

«Die Krebsbachstrasse 55 war und ist tatsächlich nicht mehr bewohnbar», sagt Asylkoordinator Stefan Pfister. Die Entwicklung der Krebsbachstrasse sei bereits vor seinem Stellenantritt vor rund einem halben Jahr ein Thema gewesen. «In den letzten zwei bis drei Jahren war der Asylbereich mit der Bewältigung der Ukraine-Krise absorbiert, nun treiben wir das Thema gemeinsam mit dem Hochbauamt voran.»

Neben den Häusern an der Krebsbachstrasse besitzt der Kanton noch fünf weitere Immobilien in der Stadt und in Neuhausen, in denen er grundsätzlich auch Wohnungen an Dritte vermietet. Doch gemäss Asylkoordinator Pfister habe nie eine Überprüfung stattgefunden, ob in diesen Häusern auch die gekündigten Mieter:innen der Krebsbachstrasse untergebracht werden könnten. «Für die Gebäude ist das Hochbauamt zuständig, wir verwalten die Häuser an der Krebsbachstrasse nur dezentral. Ich bin noch nicht lange im Amt, mir war deshalb auch nicht bewusst, dass der Kanton andere Liegenschaften besitzt, in die Personen unter Umständen umquartiert werden könnten.» Für eine aktive Unterstützung der gekündigten Mieter:innen würden im Sozialamt auch die Kapazitäten fehlen. 

«Das Sozialamt hat meiner Mutter sechs Wochen mehr Zeit eingeräumt als gesetzlich vorgesehen. Und stellt das nun als grosszügige Geste dar.»

Gabriela Rufián

Genau eine solche dürfte man von der öffentlichen Hand aber erwarten, findet Linda De Ventura. Die SP-Nationalrätin ist auch Präsidentin des Mieter:innenverbands Schaffhausen. Der Kanton habe eine Vorbildfunktion. Es sei zwar naheliegend, dass der Kanton in den Häusern an der Krebsbachstrasse geflüchtete Personen unterbringen wolle, schliesslich habe er die Gebäude zu diesem Zweck übernommen. «Wir hätten aber erwartet, dass der Kanton mit mehr Sensibilität handelt, den betroffenen Personen konkrete Unterstützungsangebote macht und zumindest kurz prüft, ob eine alternative Wohnmöglichkeit in einer anderen kantonalen Liegenschaft angeboten werden kann.» Der Kanton müsse nun endlich Massnahmen ergreifen, um mehr preiswerten Wohnraum zu schaffen. «Etwa eine aktivere kantonale Immobilienpolitik sowie die rasche Instandsetzung derzeit unbewohnbarer kantonaler Liegenschaften.»

So würde womöglich beiden auf der Suche nach günstigem Wohnraum geholfen: dem kantonalen Sozialamt und Menschen mit tiefen Einkommen, wie den ehemaligen Mieter:innen der Krebsbachstrasse.

* Namen der Redaktion bekannt.

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