Giorgio Behr ist einer der wenigen Wirtschaftskapitäne, die das neue Vertragspaket mit der EU ablehnen. Was sieht er, was die anderen nicht sehen? Und hat der reichste Schaffhauser den Regierungsrat beeinflusst?
In den vergangenen Tagen hat sich einiges getan in der Schweizer Europapolitik. Nach einer langen parteiinternen Debatte sprachen sich die FDP-Delegierten in Bern für das neue Vertragspaket mit der EU aus. Damit sollen die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU stabilisiert und fortgeführt werden. Am selben Tag gab die Schaffhauser Regierung bekannt, dass sie ihrerseits das Vertragspaket ablehnt.
Der wohl prominenteste Schaffhauser Gegner des Vertragspakets ist Giorgio Behr – Industrieunternehmer, Handballmäzen und ehemaliger Hochschulprofessor. Wir treffen ihn am Abend, ausserhalb der Öffnungszeiten, im von ihm gegründeten Meetingpoint. Auf dem Tisch stehen Salzstängel und Wasser ohne Kohlensäure.
Herr Behr, sind Sie der letzte Gallier der Schweizer Wirtschaft?
Giorgio Behr Das finde ich ein herrliches Bild!
Alle grossen Wirtschaftsverbände wie Economiesuisse oder Swissholding sind für das neue Vertragspaket mit der EU. Sie sind dezidiert dagegen.
Und mit mir rund 900 weitere Unternehmer, die sich im Wirtschaftsverband autonomiesuisse organisiert haben (Behr ist Co-Präsident der Organisation, Anm. d. Red.). Es ist interessant, dass sich bei den Verbänden, die Sie erwähnen, kaum Unternehmer öffentlich exponieren, sondern sich vor allem Angestellte der Verbände zu Wort melden. Wir Unternehmer:innen denken über unsere Generation hinaus. Das kann man von Managern internationaler, börsenkotierter Unternehmen nicht verlangen. Dort wechselt das Spitzenpersonal heute im Turnus von drei bis sieben Jahren, das führt automatisch zu einem kurzfristigen Denken. Das liegt in der Natur der Sache, das werfe ich auch niemandem vor.
Gegenüber den Schaffhauser Nachrichten klang das kürzlich noch anders. Dem Journalisten sagten Sie nach der Delegiertenversammlung der FDP, dass sich die Freisinnigen beim neuen EU-Vertragspaket nicht an Economiesuisse orientieren sollen. Immerhin seien deren Exponenten mitverantwortlich für das Swissair-Debakel und den Untergang der Credit Suisse gewesen. In solchen Momenten klingen Sie wie ein Populist.
Was heisst schon Populismus? Das sind Etiketten, die einem heute schnell verliehen werden. Ich stelle einfach nüchtern fest, dass die meisten Delegierten die Verträge offensichtlich nicht gelesen haben.
Über 65 Prozent der FDP-Delegierten wollen ein Ja zum Vertragspaket, von den grossen Parteien ist einzig die SVP dagegen. Anders sieht es in Schaffhausen aus: Die kantonale FDP gibt sich kritisch, und der Schaffhauser Regierungsrat lehnt als einer von gerade einmal vier Kantonen das Vertragspaket ab. Was sehen die Schaffhauser, was der Rest der Schweiz nicht sieht?
Ich sehe die Realität. Die Schweiz importiert viel mehr von der EU, als die Schweiz in die EU exportiert. Die Wirtschaft hat zudem den Binnenmarktzugang, den der Bundesrat mit dem neuen Vertragspaket sichern will, sowieso bereits mit dem Freihandelsabkommen von 1972.
Gemäss Economiesuisse reicht das Freihandelsabkommen bei weitem nicht aus. Ohne das neue Vertragspaket ist die Personenfreizügigkeit und die Zulassung von Schweizer Produkten im EU-Raum bedroht. Macht Ihnen das keine Sorge?
Nein. Die Zulassung würde künftig in der Schweiz aufgrund der genau gleichen Regeln ausgestellt wie in der EU, dort aber kostet das meistens weniger. Was soll dieser Umweg? Falls die EU die bilateralen Verträge mit der Schweiz kündigt, gelten die bestehenden Zulassungen weiterhin. Steigt die EU aus der Personenfreizügigkeit aus, können wir weiterhin auf Grenzgänger und Einwanderer aus der EU zählen. Der Bundesrat verspricht sich vom Vertragspaket, gestützt auf Studien, einen Wohlstandsgewinn, doch die Annahmen der Studien sind völlig falsch. Sie lassen zudem die vielen Probleme und Kosten aus dem sehr hohen Wachstum ausser Acht. Ich dagegen sehe Probleme, die wir uns so einhandeln würden.
Die wären?
Wir verzichten in den vertraglich neu geregelten Bereichen auf die demokratische Mitsprache. Wir werden erhebliche Mehrkosten tragen müssen, nicht nur als Kohäsionsbeiträge, sondern durch den Ausbau der Verwaltung und der Beteiligung an den Regulierungskosten der EU. Zudem würde die Ausweitung der Personenfreizügigkeit die Einwanderung in unsere Sozialsysteme begünstigen.
Bei der Ausweitung, die Sie ansprechen, muss eine arbeitstätige Person aus der EU immer noch fünf Jahre in der Schweiz arbeiten, um Anspruch auf Sozialleistungen zu haben.
Genau, die Frist soll halbiert werden, bisher liegt die Frist bei zehn Jahren, zudem gilt im Vertragspaket die europäische Rechtssprechung. Nehmen wir ein Beispiel: Wird ein McDonalds-Angestellter, der zwölf Stunden pro Woche gearbeitet hat, entlassen, gilt die Zeit in der Arbeitslosenversicherung als Arbeitszeit; rutscht er in die Sozialhilfe und beginnt ein paar Tage vor Ablauf der sechsmonatigen Frist wieder zu arbeiten, gilt auch diese Phase als Arbeitszeit. Obwohl er so nur einen kleinen Teil der fünf Jahre arbeitet und Sozialabgaben zahlt, erhält er das Aufenthaltsrecht, hat Anspruch auf einen im Vergleich zu heute viel grosszügigeren Nachzug von Familienangehörigen, die nicht arbeiten müssen, und auf alle relevanten Sozialleistungen.
Das ist doch kein realistisches Szenario.
Lesen Sie doch die Artikel im Ausland dazu: Die Realität in der EU ist, dass die Sozialsysteme sehr gezielt ausgenutzt werden. Haben Sie das Gefühl, dass das in der Schweiz nicht machbar ist? Ich unterstelle niemandem etwas, ich stelle nur fest, dass der Bundesrat uns bei der Aushandlung der bilateralen Verträge gesagt hat, es würden allerhöchstens 10 000 Personen in die Schweiz einwandern. Heute sind wir bei 70 000 bis 100 000 Personen. Was soll ich ihm noch glauben?
Wenn Sie recht hätten, dann würde es sich beim neuen Vertragspaket um einen historisch schlechten Deal handeln. Wieso sollten der Bundesrat und seine Diplomat:innen einen solchen eingehen?
Ich habe die Schweiz in der UNO und in der OECD vertreten, ich weiss, wie diese internationalen Gremien funktionieren. Das wissen, bis auf ein paar Staatssekretäre, die meisten nicht. Zudem mussten in einem hohen Tempo tausende Seiten produziert werden. Die deutsche Fassung stimmt nicht überall mit der englischen überein. Ich frage mich einfach: Wer hat den Überblick? Den hat wahrscheinlich nicht einmal der zuständige Bundesrat.
Aber Sie haben ihn?
Nein, aber ich habe Einblick in die für mich als Unternehmer relevanten Punkte, um zu sagen: Was man uns erzählt, stimmt nicht.
Sie waren einer Annäherung an Europa gegenüber auch schon positiver eingestellt. 1992 schrieben Sie in einem Gastbeitrag zur EWR-Abstimmung, dass die Schweiz bei einem Nein «dann wirklich als Einzelgängerin isoliert dasteht».
In der Zwischenzeit haben sich die Welt und die EU stark verändert. Die grössten Probleme konnten gelöst werden. Ich bin heute immer noch derselben Meinung wie damals: Wir brauchen ein Vertragswerk mit Europa. Das haben wir. Das Freihandelsabkommen ist unantastbar. Wir haben vernünftige Lösungen mit der EU. Mehr braucht es nicht. Ich fordere keine Kündigung der Bilateralen – auch die EU wird das kaum leichthin tun, weil sie da und dort am kürzeren Hebel sässe.
Es ist doch gerade andersrum: Die Schweiz steht heute so gut da, weil sie sich nach dem EWR-Nein Europa angenähert hat. Mit einem Nein zu den neuen Verträgen gefährdet man diesen Erfolgsweg.
Die Weltwirtschaft hat sich völlig gewandelt. Wo waren China, Indien und die Golfstaaten 1992? Die Welt hat ganz anders ausgesehen. Europa war damals im Aufschwung, heute stranguliert die Überregulierung die Industrie. Die Innovationsfähigkeit Europas nimmt stetig ab, während andere Länder wie China oder die USA an Bedeutung gewonnen haben.
Trotzdem ist das Handelsvolumen der Schweiz mit China heute nicht grösser als das mit Bayern und Baden-Württemberg. Ist Schaffhausen als Grenzregion und mit einer starken Exportindustrie nicht darauf angewiesen, dass die Verhältnisse zum wichtigsten Handelspartner gut sind?
Wir sollten in der Schweiz aufhören zu meinen, dass wir Exportweltmeister sein müssen. Nehmen wir ein Beispiel aus Beringen. Wir hatten einen Steuerungsbau in Beringen für die Maschinenindustrie. Als ich die Firma übernahm, arbeiteten in jenem Bereich rund 20 Angestellte. Wir haben über längere Zeit, ohne Leute zu entlassen, die Firma in Tschechien völlig neu aufgebaut; wir sind dort heute viel grösser und setzen ein Mehrfaches um. Wir haben so keine Währungsprobleme im Euro-Markt und dem dort tieferen Lohnniveau. Wir müssen die Gnade haben, einzusehen, dass wir gewisse Sachen nicht mehr in der Schweiz fertigen sollten.
Das bedeutet aber auch: Weniger Arbeitsplätze in der Schweiz und Schaffhausen?
Das ist doch schizophren. Wir klagen ständig, dass wir keine Fachleute finden, und jammern dann bei jedem Job, den die Schweiz verliert. Es gibt heute viele Start-ups, die in die Schweiz passen – aber wenn diese erfolgreich sind, finden sie in der Schweiz oft kein Geld für den weiteren Ausbau. Wichtig sind die Industrien, die eine Zukunft haben – nicht alles muss in der Schweiz gefertigt werden.
Was sagt die Industrie- und Wirtschafts-Vereinigung Schaffhausen (IVS), die Sie 17 Jahre präsidiert haben, zu Ihrer Haltung?
Im Gegensatz zu gewissen Altbundesräten mische ich mich, sobald ich weg bin, nicht mehr ein.
Am vergangenen Samstag wurde bekannt, dass die Schaffhauser Regierung, als eine von gerade mal vier Kantonen, das Vertragspaket ablehnt. FDP-Regierungsrat Marcel Montanari hat wohl den Ausschlag gegeben. Haben Sie ihn überredet?
Null, ich habe Herrn Montanari dieses Jahr einmal kurz gesehen, an der Wahlfeier für den neuen Ständerat Severin Brüngger.
Sie haben aber einen grossen Einfluss auf die Schaffhauser FDP. Ständerat Severin Brüngger, auch Gegner des Vertragspakets, ist Ihr politischer Ziehsohn und Sie haben seinen Wahlkampf finanziell unterstützt.
Das Schöne für mich ist, dass mir viele Leute zutrauen, überall Entscheidungen zu beeinflussen, ohne dass ich damit etwas zu tun habe oder etwas dafür tun muss. Aber im Ernst: Die Leute hören mir zu, wenn ich beispielsweise Anfang Oktober auf einem Podiumsgespräch zum Vertragspaket mit der EU spreche. Da sass auch ein Regierungsrat im Publikum. Die Leute schätzen, dass ich nüchtern und sachlich argumentiere. Jemand hat neulich im Scherz zu mir gesagt, dass am Ende dieser Debatte um das Vertragspaket mit der EU herauskommen werde, dass nur drei Menschen die Verträge gelesen haben: Magdalena Martullo-Blocher, Markus Somm und Giorgio Behr.
