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Die Violinistin Muriel Oberhofer ist auf bestem Weg zur Solo-Karriere, von der viele träumen. Wie kommt man da hin?

Wer Perfektion anstrebt, muss hart arbeiten und darf sich keine Fehler erlauben, denn die Konkurrenz verzeiht nichts. Man kennt die Szenen aus Filmen wie «Whiplash» oder «Black Swan», die den ehrgeizigen Aufstieg (und oft auch den Fall) junger Talente an Kunst-, Musik- oder Tanzakademien nachzeichnen – meist in dramatischer Übertreibung: Mentoren mit sadistischen Methoden, fiese Mitstreiter:innen und ewiges Konkurrenzdenken.  Aber sind diese Szenarien wirklich so übertrieben? 

Muriel Oberhofer muss es wissen: Nach sechs Jahren Studium hat die Schaffhauserin ihre Ausbildung an der Royal Academy of London mit einem Master of Arts in Violine abgeschlossen und ergänzt ihre Ausbildung nun mit dem «Professional Performance Diploma» an der Manhattan School of Arts, wo sie auch Privatlektionen bei Starviolinist Pinchas Zukerman erhält – auf dessen persönliche Einladung. 

Die Koryphäe war während eines Vorspiels für die Aufnahme in einen Meisterkurs zufällig vor Ort und schnell von Oberhofers Können überzeugt. Er gab ihr spontan eine Musiklektion – alle anderen mussten warten. Es folgte die Einladung nach New York, die nur «exceptionally gifted», also aussergewöhnlich begabten Talenten zuteil wird. Also alles gar nicht so schlimm im Kampf um die erste Geige? Oder hat Muriel Oberhofer das Spiel um den Platz ganz vorne bis jetzt einfach am besten gespielt?

Der Weg der 25-Jährigen erscheint auf den ersten Blick sehr gradlinig. Sie stammt aus einer Musikerfamilie über mehrere Generationen, verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Zürich, bevor ihre Eltern mit ihr und ihren beiden Brüdern nach Schaffhausen zogen. Eine musikalische Karriere wurde ihr zwar nicht vorgeschrieben, aber sie war definitiv nicht ausgeschlossen: «Es war eine sehr greifbare Option für mich.» 

Dieses und kein anderes

Oft genug hätte ihr Weg aber auch einen anderen Abzweiger nehmen können. Schon die Wahl ihres Instruments war mehr oder weniger purer Zufall: Sie könne sich nicht mehr daran erinnern, aber mit drei Jahren habe sie auf die Violine auf einem CD-Cover gezeigt und den Eltern verkündet, genau dieses Instrument lernen zu wollen. Und als sie kurze Zeit später auf dem Weg zum Eiskunstlaufen eine kleine Kindergeige in einem Schaufenster sah, war es beschlossene Sache: diese musste es sein. 

Mit vier Jahren begann Muriel Oberhofer mit dem Geigenunterricht und hat ihr Instrument seither kaum mehr aus den Händen gelegt. Mittlerweile spielt sie auf einer über 300-jährigen Violine des Geigenbauers Vincenzo Rugeri. Eine Leihgabe, wie es üblich ist auf Profi-Niveau. 

Als wir die Musikerin in Schaffhausen treffen, ist sie gerade auf dem Sprung zurück nach New York. Der Sprung vom beschaulichen Städtchen in die Megacity könnte nicht grösser sein. Die sechs Jahre Studium in London hätten es ihr aber einfacher gemacht, sich im Big Apple zurechtzufinden: Wenn man mit London comfortable werde, sei das auch in New York möglich, sagt Oberhofer. Seit einem Jahr studiert sie dort, eines hat sie noch vor sich, danach «werde es spannend». Mit ihrem Studierenden-Visum kann sie noch ein Jahr länger in den USA arbeiten, bevor sie sich um ein Global-Talent-Visum bemühen müsste, das mit einigen Auflagen verbunden ist. Der Aufwand lohne sich aber, New York sei eine gute Ausgangslage für eine internationale Karriere sowohl in den Staaten als auch in Europa. Das Pendeln über den Atlantik sei gerade noch so vertretbar. 

Bereits mit Anfang zwanzig spielte Muriel Oberhofer in renommierten Hallen wie der Wigmore Hall in London, dem Auditorio Nacional de Música in Madrid und der Tonhalle Zürich und absolviert regelmässig Masterklassen bei bekannten Namen wie Hilary Hahn oder Peter Zazofsky. Als sie jünger war, gewann sie den Schweizerischen Jugendmusikwettbewerb, ihr Studium in London schloss sie mit Bestnoten und Auszeichnung ab. Das liest sich alles sehr beeindruckend. 

War sie ein klassisches Wunderkind? Sie lächelt. Das Üben sei ihr immer leichtgefallen, sagt Oberhofer, sie sei mit vergleichbar geringem Einsatz relativ weit gekommen. So gingen Musik und Schule auch immer gut zusammen. Aber es brauche beides: Talent und harte Arbeit. Oberhofer habe es ausserdem immer geliebt, auf der Bühne zu stehen und vorzuspielen. Ob man das als Talent bezeichnen könne, wisse sie nicht, aber es sei sicher ein treibender Faktor gewesen. 

Muriel Oberhofer konzertierte im August im Sorell Hotel Rüden mit Pianist Julian Chan. Bild: zVg / Muriel Oberhofer

Seit sie 12 Jahre alt war, nahm sie Unterricht bei Klaidi Sahatci, dem Konzertmeister der Tonhalle Zürich. Trotzdem war es ihr möglich, neben ihren Geigenstunden die Matura zu machen. Es gibt ein Förderprogramm für «Jugendliche mit künstlerischem Spitzenpotenzial» an der Schaffhauser Kantonsschule – ursprünglich als Programm für Sport und Kunst konzipiert und während Muriel Oberhofers Schulzeit für sie angepasst und ausgebaut. Es war einfacher, Absenzen zu bekommen, sie durfte gewisse Stunden fehlen, musste aber alles nacharbeiten. Im letzten Jahr am Gymnasium begann der Bewerbungsprozess für die weitere Ausbildung, Oberhofer war viel unterwegs. 

Wie war es, schon früh immer das grosse Ziel der Solo-Karriere vor Augen zu haben? Blieb da viel Zeit für anderes? Sie sei sicher nicht diejenige gewesen, die immer im Ausgang gewesen sei, sagt Oberhofer. Aber einfach, weil die Doppelbelastung ermüdend gewesen sei: «Den Ausgleich suchte ich eher in meinem anderen Hobbies Ballett und Eiskunstlauf.» Für die wichtigen Dinge habe sie sich aber schon Zeit genommen, Maturreise oder Maturball fanden nicht ohne sie statt. Nur die Aufnahmeprüfung für das Studium an der Royal Academy of London fiel genau auf den Tag der Maturaarbeit-Abgabe – während Muriel Oberhofer in London noch schwitzte, waren ihre Kolleg:innen schon am Feiern.

Geschickt gespielt 

Im Bachelorstudium sei der Leistungsdruck dann grösser geworden, schliesslich arbeiteten alle auf das gleiche Ziel hin. Und wenn Talente mit dem gleichen grossen Traum aufeinandertreffen, werden schon mal die Ellenbogen ausgefahren. Im Master habe sich dieses Denken dann massiv beruhigt. «Die Musik ist nicht wie ein olympischer Sport, bei dem es nur einen Gewinner gibt», sagt Oberhofer. Jeder könne seinen eigenen Weg finden. Wenn man es geschickt anstelle, fänden sich einige Nischen. 

Muriel Oberhofer aber musste sich nicht arrangieren. Sie gehört zu den wenigen, die auf der Solo-Route bleiben konnten. Hat sie die anderen ausgespielt? War am Ende sie die Fiese, wie man sie aus Filmen kennt, und ist damit durchgekommen? Oberhofer lacht: «Nein, eher im Gegenteil, ich habe immer versucht, mit allen auszukommen.» Das habe ihr einige Vorteile verschafft. Vernetzung ist auch im klassischen Musikmarkt extrem wichtig, schon im Studium bemühen sich die angehenden Profis um Engagements, gründen Ensembles, oder helfen in Orchestern aus, um möglichst viel auftreten zu können. Und Muriel Oberhofer wurde oft angefragt. «Ich hatte Glück, dass ich die meisten Konzerte als Solistin bekommen habe.» 

Nun ist sie auf bestem Weg, eine bekannte Solistin zu werden. Die Sache mit diesem Anspruch anzugehen, wäre aber wohl der falsche Ansatz gewesen. «Ich möchte meine Kunst mit den Menschen teilen», sagt sie. Darauf, auf welcher Stufe der Berühmtheit dies passiere, habe man letzten Endes wohl wenig Einfluss. Klar hoffe sie, dass ihr Name bekannt werde: «Aber ich wäre auch zufrieden, wenn ich einfach davon leben kann, Musik zu machen.» Gehört das Unterrichten als Brotjob nicht sowieso dazu, wenn man nicht gerade Ann Sophie Mutter oder Itzhak Perlman heisst? Für sie wäre das kein Müssen, betont Muriel Oberhofer: «Ich würde sehr gerne unterrichten. Ich selbst habe ja auch das Glück, tolle Mentoren zu haben, die mir ihr Wissen weitergeben.» 

Die Noten sind im Kopf

Das Wort «Glück» benutzt Oberhofer ziemlich oft. Vielleicht hat es tatsächlich eine Rolle gespielt, vielleicht stapelt die Schaffhauserin auch einfach tiefer, als sie müsste.

Doch auch der grosse Solistinnen-Traum ist am Ende nur ein Job, für den man bezahlt wird. Man sollte mit allen Musikstücken, die einem vorgelegt werden, etwas anfangen können, sagt die Violinistin, schliesslich sei man letzten Endes Dienstleisterin. Und schaut man Muriel Oberhofer bei der Arbeit zu, versteht man, wovon sie spricht. Sie weiss genau, dass es nicht nur ein Genuss ist, im schönen Abendkleid vor dem Orchester zu stehen. Die Verantwortung, das Konzert zu tragen, ist gross. Ihre beste Freundin sei Profi-Skicrosserin auf olympischem Niveau. Ihre Vorbereitung sei sehr ähnlich: Visualisierung der Strecke, extreme Konzentration, Abruf der Leistung im entscheidenden Moment: «Es ist ein mentales Game.» Ein gewisses technisches Level sollte man natürlich immer griffbereit halten. Die Noten sind sowieso im Kopf. Das Phänomen Jugendgedächtnis sei übrigens faszinierend, findet Oberhofer: «Was man in seiner Jugend einübt, bleibt eingraviert. Das stimmt wirklich.» Und wenn sie die Noten technisch einmal verinnerlicht habe, werde es interessant: «Irgendwann leben die Stücke in mir, dann kann ich mich ganz auf die Performance konzentrieren.» Die eigene Interpretation sei wichtig, das müsse man als Solistin mitbringen: «Man muss das Stück in der Art präsentieren, die Sinn macht für einen selbst. Wenn man das nicht kann, wirkt es auch nicht überzeugend.» 

Kann man als Profi-Geigerin je auslernen? Muriel Oberhofer winkt ab: «Anfangs dachte ich das wirklich. Dass man die Technik irgendwann draufhat. Aber nein, auch mein Mentor übt noch tagein, tagaus seine Tonleitern. Er sagt immer, wenn man das Gefühl habe, alles erreicht zu haben, dann sei die Karriere zu Ende.» Sie lacht: «Und wenn einer der besten Geiger der Welt so etwas über sich sagt, habe ich nicht die Arroganz, etwas anderes zu behaupten.»

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Verständnislücken https://www.shaz.ch/2025/10/09/verstaendnisluecken/ Thu, 09 Oct 2025 10:14:08 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10168 Die Deutschschweiz streitet übers Frühfranzösisch. Nun fordert ein Schaffhauser Vorstoss das Aus der Landessprache auf Primarstufe. Wir haben uns umgehört: Die Meinungen könnten nicht unterschiedlicher sein. Aufgezeichnet von Fabienne Niederer Fabrice Bischoff, Gastronom «Stell dir vor, wir zwei müssten miteinander Englisch reden, weil wir uns nicht verstehen, dabei sind wir beide in der Schweiz.» Ich […]

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Die Deutschschweiz streitet übers Frühfranzösisch. Nun fordert ein Schaffhauser Vorstoss das Aus der Landessprache auf Primarstufe. Wir haben uns umgehört: Die Meinungen könnten nicht unterschiedlicher sein.

Aufgezeichnet von Fabienne Niederer

Fabrice Bischoff, Gastronom

«Stell dir vor, wir zwei müssten miteinander Englisch reden, weil wir uns nicht verstehen, dabei sind wir beide in der Schweiz.»

Ich bin 2007 aus dem Waadtland hierher nach Schaffhausen gekommen, wegen Heidi, meiner Ehefrau. Sie machte damals einen Austausch in der Westschweiz und wir arbeiteten zusammen im gleichen Restaurant. Gemeinsam sind wir in die Deutschschweiz zurückgekehrt, sie kommt aus Stein am Rhein. Heute führen wir die Wirtschaft zum Frieden. 

Meine Frau hilft mir auch jetzt manchmal, indem sie simultan übersetzt: Sie hatte damals noch einen Französischlehrer der «alten Schule», also viel Wörtli lernen und Grammatik pauken. Was sie aber nicht lernte, war das freie Sprechen. Da hat der Austausch sehr geholfen, zuerst drei Wochen in Frankreich und später eben in der Westschweiz. Ich gebe zu, Deutsch hat mir in der Schule nie gefallen – ich war sehr schlecht darin und dachte, ich bräuchte es bestimmt nie. Und dann sind wir hier gelandet. Meine Kenntnisse sind noch immer nicht ganz optimal, deshalb besuchte ich lange einen Sprachkurs hier, jede Woche ein, zwei Stunden, um mich zu verbessern. Zum Glück hatte ich Hilfe von Heidi – aber es gibt auch sehr viele Leute hier in Schaffhausen, die super Französisch reden, unser Nachbar zum Beispiel. Sie geben sich viel Mühe, mir entgegenzukommen. Das ist bei Westschweizern ganz anders: Die versuchen nicht einmal, Deutsch zu sprechen. Wenn Touristen zu uns ins Restaurant kommen wollen, reden sie am Telefon oft einfach drauf los – auf Französisch, versteht sich. Sie sind dahingehend ein bisschen festgefahren, das habe ich hier bei Schaffhausern anders erlebt. 

Jetzt aber das Frühfranzösisch abzuschaffen, fände ich sehr schade. Besonders, wenn ich merke, wie viele Leute der älteren Generationen sich Mühe geben, mit mir Französisch zu sprechen. Gerade auch in Hinblick auf unsere Kultur ist das traurig – immerhin sind sowohl Deutsch als auch Französisch Landessprachen von uns. Stell dir vor, wir zwei müssten jetzt Englisch miteinander reden, weil wir uns nicht verstehen, dabei sind wir beide in der Schweiz. 

Ich finde, beide Seiten, also die Deutsch- und die Westschweiz, müssen daran festhalten, früh die Fremdsprache zu lernen. Je früher man anfängt, desto besser bleibts hängen. «C’est un donner et un prendre», sagt Heidi dazu. Ein Geben und ein Nehmen. Nur weil mein Deutsch nicht perfekt ist, heisst das nicht, dass man es nicht probieren sollte. 

Und dass man auf Englisch zurückgreift, scheint immer öfters zu passieren: Gerade letzte Woche war ich in einem Restaurant in Zürich und habe begonnen, auf Deutsch zu bestellen. Da haben sie einfach Englisch mit mir geredet. Ist das nicht komisch?

Markus Fehr, SVP-Kantonsrat

«Wir haben schon 15 Jahre lang mit dem Konzept Frühfranzösisch experimentiert. Das Resultat ist ernüchternd.»

Als ich zur Schule ging, lernte man Französisch ab der ersten Oberstufe und konnte ab der zweiten noch Englisch dazu wählen. Ich hatte den Französischunterricht nie gern. Es war das Fach, das den meisten Aufwand für mich bedeutete – und bei dem ich am ehesten dachte, dass ich es später nicht gross brauchen würde. Anders war das beim Englisch: Das fiel mir viel leichter, ich habe es bewusst gewählt und gesehen, wie wichtig die Sprache später für mich sein könnte, beim Reisen oder für den Beruf etwa. Französisch wird hingegen in der Politik oft erst auf nationaler Ebene relevant. 

Klar, sie ist eine Landessprache, deshalb soll sie als Fach auch bestehen bleiben. Ich bin aber der Meinung: Drei Jahre Unterricht reichen aus. Und dass der Lernstoff durch ein Zurückschieben in die Oberstufe geballt würde, glaube ich nicht. Es gibt verschiedene Belege dafür, dass sich der ganze Stoff aus der fünften und sechsten Klasse in wenigen Monaten bereits aufholen lässt. Aus der Primarschule bleibt, so scheint es, nicht sehr viel hängen. Auch die kognitiven Fähigkeiten sind in der Oberstufe ausgereifter: Die Studie «Alter und schulisches Fremdsprachenlernen» von Amelia Lambelet und Raphael Berthele weist darauf hin, dass im schulischen Kontext ältere Lernende einen Startvorteil haben. Sie lernen schneller als die jüngeren. Man müsste so richtig eintauchen können in die Fremdsprache, zwei, drei Lektionen pro Woche sind dafür nicht genug. Aber Ausflüge mit der Klasse, eine Schulverlegung in die Westschweiz, das könnte ich mir als hilfreich vorstellen. Man lernt am meisten, wenn man diesen Sprachraum um sich herum hat. 

Wir haben schon 15 Jahre lang mit dem Konzept Frühfranzösisch experimentiert. Das Resultat ist ernüchternd: Es war gut gemeint, ist aber nicht gut rausgekommen. In zwölf der 19 deutschschweizer Kantone sind entsprechende parlamentarische Vorstösse pendent oder bereits überwiesen worden. Nun ist Schaffhausen gefragt. 

Dr. Bettina Imgrund, Dozentin PHSH
Fachbereich Französisch(-Didaktik)

«Eine Verschiebung des Französisch in die Oberstufe würde das Problem des tiefen Niveaus nur vergrössern.»

Es stimmt, dass Französisch sicher eine recht anspruchsvolle Sprache im Unterricht ist. Die Syntax von Französisch ist anders, die Aussprache und Wörtli sind schwerer zu lernen. Deshalb kann ich sehr gut verstehen, weshalb jemand wie Patrick Strasser (siehe Box) vorschlägt, statt Französisch lieber Englisch in die Oberstufe zu verschieben. Aber die Schweiz ist in Europa jenes Land, das beispielhaft für Mehrsprachigkeit steht – deshalb muss Französisch auf der Primarstufe erhalten bleiben. 

Was ich mir vorstellen könnte, ist, die beiden Fremdsprachen zu tauschen: Französisch bereits ab der dritten Klasse und Englisch ab der fünften. Eine Verschiebung von Französisch in die Oberstufe nützt vermutlich wenig, im Gegenteil: Es würde das Problem des tiefen Niveaus nur vergrössern. Sind Teenager mitten in der Pubertät begeisterungsfähiger als Primarschüler:innen? Wohl eher nicht. Dazu kommt ein zweites Problem: Wer soll diesen zusätzlichen Französischunterricht erteilen? Momentan ist Französisch in der Oberstufe für die Studierenden meist ein Wahlfach. Es wird selten gewählt, weil man auch ohne das Fach als Klassenlehrperson auf der Oberstufe unterrichten kann. Das heisst, dass der erhöhte Bedarf nach Seklehrpersonen, der durch ein Verschieben in die Oberstufe entstehen würde, wohl nur schwer gedeckt werden könnte. 

Das aktuelle Lehrmittel «Dis donc!» ist grundsätzlich sehr gut, die methodische Aufarbeitung des Materials könnte allerdings verbessert werden. Wenn die Lehrperson die Bücher mit den Schulkindern eins zu eins durcharbeitet, arbeiten sie sehr oft in Partner- oder Gruppenarbeit und tauschen sich aus. Das geschieht dann schnell in der Muttersprache oder gar im Dialekt. Dabei müssten die Schüler:innen die Fremdsprache so oft es geht hören und vor allem auch selbst sprechen. Kinder sind eben keine Autodidakten – sie lernen entlang einer Aufgabe, vor allem aber auch mit der Lehrperson, und die hat heutzutage eher zu wenig Gewicht im Klassenzimmer. 

Als Forscherin bin ich sehr besorgt über die schlechten Ergebnisse, die aktuell diskutiert werden. Ich weiss aber auch, dass es zwischen den Klassen deutliche Leistungsunterschiede gibt. Mit anderen Worten: Es gibt guten Französischunterricht und wir kennen die Qualitätsmerkmale, die guten Französischunterricht ausmachen. Wir wissen auch, dass Lehrpersonen die Qualität des Unterrichts erheblich beeinflussen können. An der PH Schaffhausen unterrichte ich meine Studierenden auf Basis von Erkenntnissen, die ich aus praxisorientierten Unterrichtsforschungen ableiten konnte. Ebendiese Erkenntnisse sind aber noch nicht flächendeckend eingeführt.

Ich persönlich hatte eine sehr gute Französischlehrerin, das war wichtig. Anschliessend hatte ich die Chance, einen Austausch zu machen, wir hatten eine Partnerschule, und zuhause hatte ich eine Brieffreundin aus Frankreich – diese Kombination aus guter Lehrperson, einem Austausch und einem aufgeschlossenen Elternhaus, das hat es ausgemacht für mich. Ein Austausch, wie ich ihn machen konnte, ist natürlich kein Allheilmittel – es ist eine Mischung aus Voraussetzungen. Und weil ein solcher Sprachaufenthalt in der Praxis sehr aufwendig ist, wäre mein Anliegen, dass wenigstens die Studierenden ein paar Monate ausserhalb studieren, in der Westschweiz zum Beispiel, und das Gelernte anschliessend mit ins Klassenzimmer bringen.

Stephan Keller, Winzer und Vater

«Wir Kinder waren verwirrt: Weshalb lernen wir Französisch, wenn hier alles um uns herum auf Englisch ist?»

Ich habe zwei Kinder, 13 und 15 Jahre alt. Ich bin dafür, das Frühfranzösisch abzuschaffen und erst in der Oberstufe damit zu beginnen. Es ist eine Landessprache, das stimmt. Aber wenn die Jugendlichen heutzutage unterwegs sind, ist es Englisch, das überall präsent ist. 

Das war bei mir früher schon so: Ich habe mit Englisch erst in der zweiten Oberstufe angefangen, sehr spät. Französisch hatte ich hingegen ab der vierten oder fünften Klasse, und wir Kinder waren verwirrt: Weshalb lernen wir Französisch, wenn hier alles um uns herum auf Englisch ist – die Werbung, die Umgebung? Im Französisch war ich eine Niete, ich kann es heute noch nicht. Aber für die Berufswahl kann Englisch entscheidend sein. Meine 15-jährige Tochter ist zum Beispiel gerade auf Jobsuche und überall wird gefragt, ob sie denn Englisch beherrsche. Beide meine Kinder erzählen, dass sie lieber mehr Englischunterricht hätten, und davon, wie viel Spass sie daran haben. Dort gefällt ihnen, wie die Lehrpersonen den Stoff vermittelt. Dadurch interessieren sie sich viel mehr dafür und damit auch für den Lernstoff an sich.

Ich sehe: Meine Kinder haben heute viel mehr Stoff, das hat über die letzten Jahre zugenommen. Zwei Fremdsprachen so früh, das scheint mir zu viel zu sein, auch, wenn ich die beiden beobachte. Da müssen wir uns nicht fragen, weshalb die Jugendlichen immer öfter ausgebrannt sind. 

Dimitri Egli, Oberstufenschüler

«In der Oberstufe hätte ich Französisch abwählen können – aber ich fand, dass ich mir alle Wege offen halten sollte.»

Ich bin jetzt 14 Jahre alt und bald mit der Oberstufe fertig. Französisch hatten wir seit der fünften Klasse, ich erinnere mich noch, dass mir das Fach am Anfang ziemlich schwer gefallen ist. Ich mag es noch immer nicht, aber eigentlich kann ich die Sprache relativ gut. Ich habe einfach das Gefühl, man braucht es fast nicht, vor allem in meinem Alter und erst recht gleich zu Beginn, in der fünften Klasse. Und trotzdem: In der Oberstufe hätte ich Französisch abwählen können, habe es aber absichtlich nicht getan. Irgendwie fand ich doch, dass ich mir alle Wege offen halten sollte, besonders für den Fall, dass ich in die Kanti gehen will. Und ich habe gemerkt: So schwer fällt es mir gar nicht mehr. Klar, ich könnte auch normal weiterleben, wenn ich kein Französisch gelernt hätte – aber vielleicht brauche ich es später einmal. Es ist generell cool, eine weitere Fremdsprache ausser Englisch zu können. 

Wenn ich heute schon mitentscheiden könnte, ob man das Frühfranzösisch abschaffen soll? Das wäre schwierig. Einerseits fand ich schon praktisch, dass wir früh angefangen haben, das viele Voci-Lernen war damit aus dem Weg und in der Oberstufe konnten wir neue Sachen anschauen, Zeitformen zum Beispiel. Fiele das weg, müssten wir in der Sek alles gleichzeitig lernen und aufholen, und am Ende ist man zum Beispiel an der Kanti im Verzug, das wäre ein riesiger Stress. Mein alter Klassenlehrer hat uns auch erzählt, dass Kantilehrer teils erschraken, wenn sie sahen, wie stark die neuen Kinder im Französisch zurückliegen.

Andererseits habe ich das Gefühl, dass man auf Seklevel fast schon zu viel lernt, als man im Alltag und für den Beruf später brauchen könnte. Gerade wenn viele Schüler später in Handwerksberufe gehen. Ich finde auch, wenn man die Sprache wirklich gut lernen will, braucht man fast ein Austauschsemester.

Was für mich aber klar ist: Den Vorschlag, Englisch nach hinten zu schieben, finde ich nicht gut. Die Sprache braucht man viel, viel mehr als Französisch. Klar, man lernt es auch ausserhalb der Schule eher, ich habe zum Beispiel viel übers Internet mitgekriegt, Youtube unter anderem, das hat geholfen. Aber die ganzen Grammatikregeln, Wörtli lernen, da nimmt man das meiste aus der Schule mit. Erst ab Oberstufe anzusetzen, wäre wirklich keine gute Idee.

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Endlich Wurzeln schlagen https://www.shaz.ch/2025/10/06/endlich-wurzeln-schlagen/ Mon, 06 Oct 2025 07:42:36 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10157 Als «Lena Sereia» hat Lena Heusser ihr Debütalbum veröffentlicht. Ein Gespräch über Verletzlichkeit, weite Reisen und nicht länger verschlossene Augen. Sie habe sich mal für einen Job gemeldet, als sie verzweifelt gewesen sei. Nachtschicht in einer Fabrik. Lena Heusser hat die Ellbogen auf dem Holztisch aufgestützt, während sie erzählt, die braunen Haare sind lose zusammengebunden. […]

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Als «Lena Sereia» hat Lena Heusser ihr Debütalbum veröffentlicht.
Ein Gespräch über Verletzlichkeit, weite Reisen und nicht länger verschlossene Augen.

Sie habe sich mal für einen Job gemeldet, als sie verzweifelt gewesen sei. Nachtschicht in einer Fabrik. Lena Heusser hat die Ellbogen auf dem Holztisch aufgestützt, während sie erzählt, die braunen Haare sind lose zusammengebunden. Neben ihrer Schulter fliesst der Rhein vor sich hin. 
«Alle Mitarbeitenden mussten mitten in der Nacht in einem runtergekühlten Raum am Fliessband stehen und kleine Schäleli mit Fertigsalat befüllen. Ich war so dick eingepackt, ich konnte mich kaum bewegen, und vor Müdigkeit bin ich fast eingeschlafen, als ich Schale für Schale bereit gemacht habe.»
Sie trägt ein verblichenes, blaues Hemd, das ihr ein wenig zu gross ist und von den vielen Waschgängen vermutlich unsagbar weich auf der Haut liegt. Ihre Nägel sind heruntergekaut – beim Sprechen erwischt sie sich immer wieder dabei, wie sie an den Fingerkuppen knabbert. 

«Die Vorgesetzten haben mich angeschrien, wenn ich nicht schnell genug gearbeitet habe. Vom vielen Desinfektionsmittel ist meine Haut an den Händen aufgeplatzt, so trocken war sie. Das war so ziemlich das dümmste, was ich je für Geld gemacht habe.»
Es ist ein sonniger Nachmittag, als wir mit Lena Heusser zum Gespräch in der Rhybadi zusammensitzen. Auch hier hat die 31-Jährige schon ihr Geld verdient. Der Lebenslauf Heussers, er ist beachtlich – und diente ihr halbes Leben lang nur einem Ziel: Raus aus der Schweiz, dieser «einen, grossen Fonduemasse», wie sie sagt. Ihre Reisen führten sie nach Indien und auf die Philippinen, nach Venezuela und Brasilien, nach Slowenien, Portugal, Tschechien und Frankreich.

Heussers Dasein könnte beim Durchschnittsschweizer leicht den auf der Zunge liegenden Reiz auslösen, das Wort «Hippie» in den Mund zu nehmen. «Die Leute haben nun mal gern Schubladen», sagt die Schaffhauserin auf den Titel angesprochen. Darüber muss sie lachen. «Manchmal vergesse ich, dass Leute mich komisch oder sonderbar finden. Ich mache einfach das, was ich für richtig halte, und natürlich bin ich manchmal auch unsicher.» Der Begriff Hippie stört sie nicht. «Ich finde ihn nur ein bisschen zu einfach gefasst. Ich könnte auch bei jedem, der einen Bürojob hat und verheiratet ist, sagen: Schau, ein Bünzli. Das greift zu kurz.»

Erst seit diesem Frühling hat sie wieder einen Ort, den sie ihr Zuhause nennen kann: einen umgebauten Bauwagen, sechs auf zwei Meter, hier in der Region. Und sie hat ein Souvenir von ihren Reisen mitgebracht. Ihr Erstlingswerk heisst «Pé no chão» – eine EP mit sechs Songs in Mundart, Englisch und Portugiesisch – und bedeutet übersetzt soviel wie «mit beiden Füssen auf dem Boden stehen» oder «bodenständig sein». Bis sie hier angekommen ist, hat es einen langen Weg gebraucht.

Reissaus Richtung Sonnenaufgang

Lena Heusser veröffentlicht ihre Musik als Lena Sereia. Sereia, das ist die Meerjungfrau. Ein Fabelwesen, das durch die Weltmeere zieht und von der Strömung davongetragen wird, ohne festen Boden unter den Füssen. Doch die Kiemen sind Heusser nicht sofort gewachsen: Zunächst versuchte sie es noch auf der konventionellen Schiene, machte als Teenagerin eine Lehre als Speditionskauffrau – schickte Pakete in die Welt hinaus und nicht sich selbst. 
Etwa ein Jahr nach dem Lehrabschluss hatte sie genug: «Ich merkte schnell, dass mir das Hamsterrad in der Schweiz nicht gut tut. Ich habe nach etwas anderem gesucht.» Also liess sie sich zur Tauchlehrerin ausbilden und nahm mit Anfang 20 Reissaus Richtung Sonnenaufgang; nach Südostasien, arbeitete in der Tourismusbranche. «Es war eine tolle Zeit, aber auch eine, in der ich noch sehr jung war und keine Ahnung hatte, was ich eigentlich wollte», erzählt sie heute.

Sie zog weiter nach Indien und machte dort, direkt am Schopf der philosophischen Bewegung, eine Ausbildung zur Yogalehrerin. Erstmals setzte sich die junge Schaffhauserin mit einem substanzenfreien Leben auseinander, mit Meditation, mit dem eigenen Körper.
In die Schweiz kehrte sie zu dieser Zeit nur punktuell zurück, jeweils zwei oder drei Monate, um Geld zu verdienen. Ihr Lebenslauf wurde länger als die Quittung eines Shoppingfanatikers nahe der Grenze; Gastronomie, Verkauf, Lehrvertretung, kleine Nebenjobs hier und dort. «Geld war immer ein Thema», meint Heusser dazu. Einerseits sei es eine sehr lehrreiche Zeit ohne Verpflichtungen gewesen. Andererseits: «Wenn ich zum Beispiel meine Eltern besuchen wollte, musste ich zuerst nachschauen, ob das Geld für ein Flugticket reicht. Ich hatte keinen Fixpunkt, ich fühlte mich nicht geerdet.» Das Konto war oft im Tiefbereich – keine Schulden, aber erst recht kein finanzielles Polster.

Als sie in Indien lebte, wollte Heusser erst nichts mehr mit der Schweiz zu tun haben. Diese harsche Sichtweise überdachte die 31-Jährige später. «Das Unstete hat mir irgendwann zu schaffen gemacht. Ich wollte meiner Heimat nochmal eine Chance geben.» Also kehrte sie zurück ins kleine Becken, ins Städtli, und heuerte im Service an; wer Heusser nicht aus der Rhybadi kennt, erinnert sich vielleicht an ihre Zeit in der Fassbeiz. Direkt in der Nähe des Betriebs bewohnte sie zeitweise eine kleine Stadtwohnung. 

Bossa Nova und Chruut und Rüebli

Dort, inmitten der Altstadt, wurde Heusser schliesslich von einer Welle erfasst, die sie in eine neue Richtung schob: Es war das erste Mal, dass sie über ein Dasein als Musikerin nachdachte. Ihr damaliger Partner machte sie damit bekannt. «Bis dahin hatte ich mit Musik wenig zu tun, ich dachte immer, das sind die reinsten Magier.» Gemeinsam reisten die beiden als Strassenmusiker durch Europa, kreuz und quer, «chli Chruut und Rüebli». Heusser erinnert sich gern an diese Zeit zurück: «Er ist Brasilianer und hat angefangen, mir alte Bossa-Nova-Klassiker beizubringen, eine beliebte Musikrichtung aus Südamerika.» Durch ihn begann sie, portugiesisch zu lernen und machte gleichzeitig erste, zaghafte Schritte mit einer brasilianischen Live-Band, die zufällig auf der Suche nach einer Sängerin war.

Auf die Routine folgte ein Schnitt: Die Trennung von ihrem Partner, gepaart mit der Pandemie. Heusser entschied sich, ihre Trauer in einem spirituellen Zentrum in Schweden zu verarbeiten, das Persönlichkeitsentwicklungen predigt. Der Draht zu ihrer Schweizer Heimat war nur mehr ein dünner Faden. Sie fühlte sich entkoppelt und hatte nur wenige Freunde hier, die ihre Interessen und Herangehensweisen teilten. An diesem Punkt in ihrem Leben nahmen die eigenen Schatten immer mehr Raum ein: «Geschichten aus meiner Kindheit, die mich bis heute beeinflussen», wie Heusser andeutet, und für die sie schliesslich auch eine Therapie besucht. 

Heute, mit Anfang 30, sieht sie ihre Erfahrungen aus den letzten Jahren mit neuen Augen. «Es war mir wichtig, mich selber kennenzulernen, und ich hatte das Gefühl, dafür weit weggehen zu müssen. Es hat Zeit gebraucht.» Und es hat gekostet: «Die Beziehungen, die ich hier hatte und auch heute wieder habe, konnte ich damals nicht vertiefen. Ich merkte: Ich kann nicht so viel hergeben, wie ich gerne würde. Und ich bekomme auch nicht so viel.» Heute könnte sie nicht mehr so im Leben umhertreiben wie früher. Ohne Anker sein. Mittlerweile ist Heusser, nach jahrelangem Fortbleiben, wieder offiziell hier angemeldet. Trotzdem geht sie jedes Jahr ein paar Monate lang nach Brasilien, besucht dort ihren neuen Partner, mit dem sie auch ihre EP aufgenommen hat. Aber es sei Schaffhausen, das sie mit Ruhe versorge, sagt Heusser. «Die Schnelllebigkeit, das Aufregende, das hatte ich alles schon. Jetzt möchte ich, dass meine Projekte richtige Wurzeln bekommen können.»

Nicht mehr blind

Die Früchte dieser Arbeit zeigen sich nun: Sechs Tracks aus sechs Monaten, rund 23 Minuten und drei Sprachen. Anfang September taufte Heusser ihr Debüt «Pé no chão» in der Rhybadi. Sie richtete sich nicht auf der kleinen Holzbühne ein, die am Ende des Stegs bereitsteht, sondern gegenüber – auf den alten Holzplanken. Dort verteilten sie und ihr Partner verblichene Perserteppiche, Sitzsäcke aus Leder und kleine Tische aus Bambus. In einer Schale entzündeten sie ein kleines Feuer. Sie war barfuss. 

Ein paar Tage später, wie sie am Rhein sitzt, zeigt sich Heusser nachdenklich, wenn man etwas nachbohrt. Sie scheint mit den gesammelten Reisemeilen auch Einsichten gewonnen zu haben, die über eine eigene Selbstfindung hinausgehen: «Es ist ein Privileg, in der Schweiz aufgewachsen zu sein: Ich habe nie in meine Karriere investiert per se, ich konnte auf Reisen gehen», sagt sie. «Da ist dieses omnipräsente Thema, wenn man als weisser Mensch in ein Land geht, in dem die Mehrheit nicht weiss ist; wenn man mehr Chancen erhalten hat, wenn man auch angefeindet wird, weil andere dein Privileg erkennen.

Das hat mich gezwungen, mich mit meiner Rolle auseinanderzusetzen – mit der Geschichte, die wir als Weisse mit diesen anderen Ländern teilen.» Es wäre einfacher, blind zu sein, sagt Heusser zum Schluss. «Aber ich bin dankbar, dass ich es nicht mehr bin.»

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Im Kampf gegen die Elemente https://www.shaz.ch/2025/10/02/im-kampf-gegen-die-elemente/ Thu, 02 Oct 2025 09:35:06 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10152 Jahrelang stritt man über Feuer und Sicherheit auf dem Munot. Jetzt muss die Munotwächterin plötzlich einen Teil der Festung künstlich befeuchten. Was ist auf dem Emmersberg nur los? Bis tief in die Nacht hinein behütete der Munotwächter einst Stadt und Volk und hielt Ausschau: nach Feind, Feuer und unscheinbaren Frachtschiffen. Beim ersten Anzeichen von Gefahr […]

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Jahrelang stritt man über Feuer und Sicherheit auf dem Munot. Jetzt muss die Munotwächterin plötzlich einen Teil der Festung künstlich befeuchten. Was ist auf dem Emmersberg nur los?

Bis tief in die Nacht hinein behütete der Munotwächter einst Stadt und Volk und hielt Ausschau: nach Feind, Feuer und unscheinbaren Frachtschiffen. Beim ersten Anzeichen von Gefahr schlug er Alarm. Die Pflichten des Wächters: schon damals ein Widerstand gegen die Launen von Mensch und Natur. 
Immerhin das hat sich in über 400 Jahren nicht verändert: Noch heute ist die Munotwächterin die erste Verteidigungslinie im Kampf gegen die vier Elemente. Nur trägt sie dafür heute eine Rückenspritze. Und bekämpft damit – man muss sagen: zum Glück – kein Feuer, sondern die Trockenheit der Reitschnecke.

Im Grunde geht es um eine klassische Verschlimmbesserung. Vom Regen in die Traufe quasi. Angefangen hat alles mit den erbarmungslosen Elementen, die am Munot nagten: Der Belag auf der Munotzinne war undicht, Regenwasser drang durch das Gestein hinunter ins Gewölbe. Öffnungen an der Westseite des Baus, die dem beissenden Wind ausgesetzt ist, liessen noch mehr vom kalten Nass hinein. 
2022 nahm die Stadt das Problem in die Hand: Sie investierte 110 000 Franken in eine Machbarkeitsstudie, danach weitere 1,3 Millionen Franken, um die Munotzinne und die zweite Problemzone, die Reitschnecke, zu sanieren. In diesem Frühling wurden die Arbeiten abgeschlossen. Doch die Tropfen tropften weiter.

Die Tropfnasen fehlen!

«Im Verlauf des Sommers nahm das Tropfen wieder leicht zu», antwortete die Stadt kürzlich auf eine Kleine Anfrage von SVP-Grossstadtrat Thomas Stamm. Das «konstante Tropfwasservolumen», wofür die Sanierung überhaupt erst gedacht war, ebbte nicht ab, und Stamm – der auch im Vorstand des Munotvereins sitzt – verlangte Antworten. Schuld am Feuchteln sei, so schreibt die Stadt, allerlei: das Phänomen der Kondensation, ein versalzener, hygroskopischer Betonboden, die Lichtschächte über der Kasematte. Und nicht zuletzt würden den Lichtschächten sogenannte «Tropfnasen» fehlen, die das Wasser ableiten sollten. 

Nur: Während in der Kasematte also alles dafür getan wird, das Wasser draussen zu halten, sind in der Reitschnecke seit der Sanierung ganz andere, gar gegenteilige Efforts nötig. Sie muss künstlich feucht gehalten werden. Denn: «Eine ungebundene Pflästerung mit Brechsand benötigt für die Festigkeit der Fugen eine gewisse Feuchtigkeit», schreibt die Stadt in ihrer Antwort. «Bei längeren Trockenperioden neigt der Sand dazu, sich zu lockern und auszusanden. Da die Reitschnecke nicht der natürlichen Witterung ausgesetzt ist, muss diese Befeuchtung manuell erfolgen.» 
Die Reitschnecke, mit ihren historischen Flusssteinen auf einem Sandbett, gehört zum Munot wie das abendliche Bimmeln zum Turm. Diese Überzeugung hat den Verantwortlichen in den vergangenen Jahren immer wieder Schweissperlen auf die Stirn getrieben.

Die kantonale Feuerpolizei kam einst zum Schluss: Die Munotzinne sollte aus Sicherheitsgründen eigentlich nur mehr für 500 Personen zugänglich sein. Grund war die nur 1,7 Meter breite Reitschnecke – der einzige Ausweg im Falle eines Notfalls. Die Stadt und der Munotverein mussten deshalb zuletzt ein neues Sicherheitskonzept erarbeiten. Denn die jährlichen, feucht-fröhlichen Feste und Bälle drohten, mit diesem Verdikt trockengelegt zu werden.

Das Ergebnis: Auf der Zinne ziehen bei Grossveranstaltungen Wellenbrecher und Sicherheitspersonal ein. Die Schnecke bleibt, bis zu 1400 Gäste sind zulässig, wie man zufrieden bekannt gab. Eine skurrile Nebenepisode des Ganzen: Man bot zur Lösung des Problems einen Steinmetz auf, der alle ausgebrochenen Steine in der Reitschnecke ersetzte und die rutschigen Exemplare von Hand wieder anrauhte. Da ist er wieder, der Kampf mit den Elementen.

Eine Stunde mit der Rückenspritze

Das Befeuchten ebendieser Reitschnecke, genauso wie das Inschusshalten der Flusssteine und Sandfugen, zählt also seit dem Frühling zu den Pflichten der neuen Munotwächterin. Wöchentlich ist sie mit einer Rückenspritze unterwegs. Sie tut dies mit einem Arbeitsaufwand von rund 45 bis 60 Minuten – und ausserhalb der betriebsüblichen Öffnungszeiten des Munots, um die Besucher:innen der Attraktion nicht der Rutschgefahr auszusetzen.

Die Stadt versichert in ihrem trockenen, bürokratischen Ton: «Die Einsandung wird periodisch durch Fachleute geprüft und allfällige Anpassungen im Fugen- und Unterhaltskonzept in Erwägung gezogen, sollte dies nötig sein.» So oder so: Es wird noch viel Wasser den Munot hinunterfliessen.

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«Der Gwunder treibt mich an» https://www.shaz.ch/2025/09/29/der-gwunder-treibt-mich-an/ Mon, 29 Sep 2025 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10135 Hannes Stricker malt die schönsten Wanderführer der Schweiz. Soeben hat er die Schaffhauser Version überarbeitet. Ein Gespräch mit einem, der auf dem Knochen läuft und sich Zeit nimmt.

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Hannes Stricker malt die schönsten Wanderführer der Schweiz. Soeben hat er die Schaffhauser Version überarbeitet. Ein Gespräch mit einem, der auf dem Knochen läuft und sich Zeit nimmt.

Die Schweizer Illustrierte taufte ihn den «Wandererverführer», Altregierungsrat Christian Amsler nannte sein Schaffhauser Wanderbüchlein im Vorwort «ein wunderbares Werk als Wanderkompass»: Hannes Stricker ist so etwas wie der Grossmeister der Wanderkunst. Seine Werke tragen Titel wie «Von der Hölle ins Paradies» oder «Pilgern bringts» und verkaufen sich x-fach. Besonders daran: Sie sind von A bis Z handgemacht. 

Aquarellillustrationen, Kommentare zu Bergbeizen oder ein Inventar an Blumen und Gebäuden ergänzen Strickers Strecken auf geradezu akribische Weise. Alles abgewandert, kartiert und eingefangen vom pensionierten Lehrer Stricker (86) und seiner Frau Lisbeth (82). Sie leben zusammen in Kesswil am Bodensee, im Kanton Thurgau. 

So sind inzwischen elf Wanderbüchlein entstanden, herausgegeben im eigens dafür gegründeten «Verlag am Bach». Vor eineinhalb Monaten erschien die zweite, aktualisierte Auflage des Wanderbüchleins «Schaffhausen und Zürcher Weinland». Wir trafen Stricker am gleichen Tag in der Schaffhauser Altstadt, ein Karton mit frisch gedruckten Exemplaren war auf dem Gepäckträger seines E-Bikes festgezurrt.

Herr Stricker, wir sind beide fünf Minuten zu spät zum Interview erschienen. Sie sagen, der Schaarenwald bei Diessenhofen habe Sie getäuscht. Wie meinen Sie das?

Hannes Stricker Von Kesswil hierhin sind es rund 60 Kilometer. Im Schaaren konnte ich wegen der gekiesten Waldstrassen nicht mit vollem Tempo fahren, das habe ich nicht einberechnet. Sehen Sie (er drückt auf dem Display seines E-Bikes herum): Ich hätte exakt um fünf vor Acht abfahren müssen, um rechtzeitig hier zu sein. 

Ich meinerseits bin zu spät von zu Hause losgegangen. 

Ach. 

Sie kennen sich in der Region gut aus, haben sie für Ihr Schaffhauser Wanderbüchlein abgelaufen und kartiert. Ist Ihnen auf dem Weg heute etwas aufgefallen, das Ihnen bisher nicht aufgefallen ist?

Vor allem fällt mir auf, wenn irgendwo gebaut wird, wie jetzt gerade im Kloster Paradies. Was ich heute bemerkte: Man kann jetzt vom Paradies aus auf dem Trottoir sicher bis nach Schaffhausen fahren. Früher war das mühsam. 

Ich habe gesehen, dass Sie beim Gehen hinken. Was ist passiert?

Etwas Blödes, wie bei allen Unfällen. Meine Frau und ich waren vor ein paar Jahren auf einer Wanderung im Wallis. Wir waren bereits auf über 2000 Höhenmetern und haben gestaunt, wie schön die Wanderwege gemacht sind. Als der Weg schmaler wurde, kam uns jemand entgegen. Ich trat zur Seite, auf eine Platte, und genau die brach in den Abgrund.

Das klingt nach einer äusserst brenzligen Situation.

Ich weiss heute nicht mehr wie, aber ich habe Arme und Beine ausgestreckt, es ging wirklich steil hinunter, und so konnte ich mich ein Stück weit abbremsen. Mithilfe der anderen Wandernden konnte ich wieder auf den Weg klettern. Zuerst dachte ich, ich hätte nur meinen Fuss vertreten, aber die Schmerzen wurden immer schlimmer. Später kam heraus, dass es die ganze Knorpelschicht im Fussgelenk rausgejagt hat. Ich laufe heute auf dem Knochen. 

Wie sind Sie dann wieder heil nach Hause gekommen?

Später überholte uns eine junge Krankenschwester, die mir starke Schmerztabletten gab, so dass wir es auf die letzte Seilbahn schafften. In der Kabine sassen auch die Bergbahn-Angestellten. Wir sprachen sie auf verschiedene Wegzeichen an, die heute zehn bis fünfzehn Meter tiefer unten liegen als noch vor zwanzig Jahren. Die Angestellten erklärten uns, dass sie den Wanderweg jedes Jahr neu machen müssen, weil der ganze Hang nach unten rutscht. (Zeigt auf seinem Smartphone eine Karte mit allen gesperrten Wanderwegen im Wallis). Eigentlich müsste ich nach dem Schaffhauser Büchlein auch das Walliser Büchlein überarbeiten, das lasse ich aber vorläufig bleiben. 

Können Sie seit Ihrem Unfall noch wandern?

Mit Stöcken ja, aber nicht mehr so viel. Ich mache auch kein neues Büchlein mehr. Jetzt bin ich aufs Fahrrad umgestiegen. Das ist auch schön. 

Sie haben in Ihrem Leben tausende Wanderungen unternommen. Erinnern Sie sich an Ihre erste?

Ich wuchs in den Vierzigerjahren in Romanshorn auf. Der obligate Familienspaziergang am Wochenende führte dem See entlang nach Uttwil. Dort gab es eine Nussgipfelbeiz, mit der lockte uns der Vater. Mich hat der Weg schon damals angegurkt: Links waren die Bahngleise, rechts verdeckten die Villen der Gutbetuchten den Blick auf den See. Ich habe mich auf die Eidechsen am Boden konzentriert. Heute fahre ich denselben Weg mit dem Fahrrad, aber Eidechsen hat es keine mehr. 

Was macht die Faszination des Wanderns aus? 

Es ist ein intensives Erleben einer Landschaft. Je älter meine Frau und ich wurden, desto mehr versuchten wir, neue Gegenden zu erkunden. Meine Eltern lebten nach der Pensionierung im Tessin, also haben wir das Tessin von oben bis unten durchkämmt. Anstrengend war das vor allem für unsere Kinder, weil alle Ferien Wanderferien waren. Später wanderten wir in einer Gruppe etappenweise vom Bodensee nach Spanien und schliesslich zu zweit bis zum Kap Finisterre am Atlantik. Als wir die Fernwanderung Jahre später wiederholten, habe ich auf eigene Faust viele Orte besucht, bei denen mir beim ersten Mal die Zeit und Musse gefehlt hatte. Und dann malte ich.

Wie kamen Sie zum Malen?

Das kommt auch vom Wandern. Manchmal stehe ich vor Landschaften, deren Schönheit ich einfangen will. Wie heute Morgen, da bin ich auf der Feuerthalerbrücke vom Fahrrad gestiegen und habe den Rhein und den Munot fotografiert, ein unglaublich schöner Anblick. Wenn ich früher auf einer Wanderung einen solchen Moment erlebte, nahm meine Frau mit den Kindern einen Zug früher nach Hause und ich sass hin und malte, was vor mir lag.

Aquarell des Wangentals. Aquarellillustration von Hannes Stricker.

Sie hätten bereits damals fotografieren können. Wieso haben Sie gemalt?

Für das Malen braucht man einen ruhigen Platz, mit einer schönen Aussicht. Man sieht dabei nicht nur die Landschaft, sondern hört sie auch, spürt den Wind, beobachtet die Vögel oder auch andere Tiere, die sich nähern. 

Sie fasziniert die Langsamkeit. 

(lacht) Sie, ich habe über 80 Waffenläufe gemacht, da war ich gar nicht langsam! 

Der erfahrene Wandersmann Stricker wählt seinen Weg selbst. Auch beim Erzählen. Und so erfahren wir auf Nebenpfaden, wie er als Sanitätssoldat die ersten richtig langen Wanderungen beging, einmal von Walenstadt rund um den Walensee; wie er mit den ältesten seiner sechs Geschwister («die Saubande») vor 66 Jahren dem Wirt auf dem Rotsteinpass geholfen hat, den ersten Anbau seines Berggasthauses zu realisieren; wie er zum Aquarellmalen kam (eine Lehrerkollegin sah eine seiner Wandtafelzeichnungen und empfahl ihm, einen Aquarellkurs zu belegen, was er zwanzig Jahre später auch tat). Und er erzählt ausführlich die Geschichte, wie die Henne auf dem Hof seiner Tochter zuerst die Katze und ihre Jungen und danach den Eber das Fürchten lehrte. Danach denkt er kurz nach und sagt: «Entschuldigen Sie, wir sind vom Weg abgekommen.»

Was unterscheidet den Wanderer vom Spaziergänger oder vom Flaneur?

Alle drei tun etwas Gesundes. Früher ging ich viel joggen, das ist besser zum Abnehmen. 

Aber warum wandert der Wanderer? Warum wandern Sie, Herr Stricker?

Dahinter steckt der Gwunder, der mich antreibt. Am Beispiel Schaffhausen: Bevor ich vor zehn Jahren mit dem Schaffhauser Wanderbüchlein begann, wusste ich, dass ihr hier in der Region viele Naturschutzgebiete habt. Ich wusste, dass es dort auch Frauenschühli und Orchideen zu sehen gibt, aber nicht, wo genau. Heute besuchen meine Frau und ich mindestens einmal im Jahr das Naturschutzgebiet Tannbühl. Das ist jedes Mal ein Aha-Erlebnis! Dazu kommt der Gwunder für die Berge, die Aussicht, die Begegnungen, die man auf Wanderungen hat. 

Was braucht es zum Wandern?

Gutes Schuhwerk und gute Vorbereitung, Kartenstudium und Wetterberichte.

Ich meinte mehr: Welche geistige Verfassung braucht der Wanderer?

Wissen Sie, neben meiner Arbeit als Lehrer war ich zehn Jahre lang für das Zivilstandsamt im Nebenamt verantwortlich und gab Lehrerkurse. Wenn ich Probleme wälzen musste, dann ging das am besten beim Wandern oder Spazieren. Danach kam ich nach Hause, und die Probleme waren gelöst. Zu Hause ärgerst du dich, weil draussen der Presslufthammer dröhnt oder die Lastwagen vorbeidonnern. In der Natur kann ich meine Gedanken sortieren. 

«Wandergebiete wie der Kanton Schaffhausen werden wegen des Klimawandels an Bedeutung gewinnen.» Foto: Robin Kohler.

Wie hat sich das Wandern in den letzten Jahrzehnten verändert?

Sie überfragen mich. 

Die Natur ist heute nicht mehr dieselbe wie früher. Zwischen Romanshorn und Uttwil gibt es keine Eidechsen mehr…

… und anstatt Blumenwiesen sieht man nur noch Erdbeer- und Obstfelder.

Wie verändert das das Wandererlebnis?

Man sucht sich einfach die Gebiete, wo die Natur noch intakt ist. 

Das klingt etwas eskapistisch. Was macht den Wanderkanton Schaffhausen aus?

(überlegt lange) Wandergebiete wie der Kanton Schaffhausen werden künftig wegen des Klimawandels an Bedeutung gewinnen. Das Wallis, das Tessin und teilweise das Bündnerland leiden darunter, dass bei starken Niederschlägen der Berg in den Abgrund rutscht. Ihr habt in Schaffhausen ein sehr sicheres Wandergebiet. Ein sehr ruhiges. Und dann findest du dich plötzlich auf einem Hügel oben bei einem Turm und kannst über das ganze Land blicken. Das ist wahnsinnig.

Genau das wollen wir nun tun, nicht vom Randen, aber immerhin vom Munot aus. Bevor wir losgehen, ruft Stricker seine Frau Lisbeth an und erzählt ihr von unserem Gespräch. Er spricht oft in der Wir-Form und von Lisbeth, seiner Frau und engsten Wegbegleiterin.

Vor der Treppe in der Unterstadt stellt er sein Fahrrad ab. Hier hatte er lange seinen Stand auf dem Schaffhauser Weihnachtsmarkt, an dem er im Winter seine Büchlein verkaufte. Dann steigt der 86-Jährige, der auf dem Knochen läuft, die Munottreppe in einem unheimlichen Tempo empor.

Was zeichnet Schaffhausen gegenüber seinen Nachbarkantonen aus?

Mich interessiert Natur und Kultur. Und da ist Schaffhausen natürlich deutlich gesegneter als der ehemalige Untertanenkanton Thurgau. 

Ach, tatsächlich?

Ist wahr! Stein am Rhein und Schaffhausen sind zwei Bilderbuchstädte, schön erhalten, gepflegt. Das wusste ich natürlich, aber dass zum Beispiel auch Neunkirch so schön ist, habe ich erst gelernt, als ich es für das Schaffhauser Wanderbüchlein besucht habe. 

Haben Sie für Schaffhausen Geheimtipps?

Das ist etwa das Naturschutzgebiete Laadel bei Merishausen, oder die SAC-Hütte auf dem Hasenbuck. Wer nicht aus Schaffhausen kommt, dem treibt das beim ersten Anblick die Tränen in die Augen. 

Es gibt einzelne Wanderziele, die heute bereits überrannt werden …

Aber nicht in Schaffhausen. 

Nein, aber zum Beispiel das Berggasthaus Äscher in Appenzell Innerrhoden. Ist das eine Gefahr für das Wandern?

Meine Frau und ich haben manchmal das Gefühl, dass wir mit unserem ersten Wanderbüchlein über das Appenzell noch den Anreiz für diesen Ansturm gesetzt haben. Ich habe das Berggasthaus für die erste Auflage 2006 gemalt, und drei, vier Jahre später war dort der Teufel los. 

Mit Ihren Büchern teilen Sie Perlen, auch gut gehütete. Gefährden Sie damit die Ruhe und Bedächtigkeit, die Sie selbst suchen?

Das wäre eine Überschätzung. Alles zusammengezählt, haben wir bisher rund 100 000 Exemplare von unseren Wanderbüchlein verkauft. Ich kann den Seeweg um den Greifensee nicht noch mehr kaputt machen, wenn ich ihn in meinem Büchlein erwähne. Ich kann die Leute nur davor warnen, am Sonntag dorthin zu gehen.

Das aktualisierte «Schaffhausen und Zürcher Weinland» ist erhältlich in Buchhandlungen oder direkt im Verlag am Bach: www.verlagambach.ch.

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Erich Schlatter ist frei https://www.shaz.ch/2025/09/25/erich-schlatter-ist-frei/ Thu, 25 Sep 2025 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10127 Überraschung am Obergericht: Nach Jahren hinter Panzerglas wird der Systemsprenger per sofort entlassen. Wie soll es nun weitergehen?

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Überraschung am Obergericht: Nach Jahren hinter Panzerglas wird der Systemsprenger per sofort entlassen. Wie soll es nun weitergehen?

Eva Bengtsson spricht, als hielte sie eine Grabrede. Gerade hat das Obergericht über die Zukunft des Schaffhauser Systemsprengers Erich Schlatter beraten. Nun verliest Richterin Bengtsson das Urteil und kann nicht verhehlen, dass sie gern etwas anderes verkündet hätte. Sie sagt zu Schlatter: «Sie sind jetzt ein freier Mann.»

An diesem Dienstag im Herbst 2025 siegen die nackten Paragrafen.

Der 76-jährige Erich Schlatter ist ein Systemsprenger. Schon 1964 wurde er erstmals als schizophren diagnostiziert. Seither füllt sein Leben ganze Aktenregale in den Büros von Psychiatriekliniken, Strafverfolgungsbehörden, Fürsorgeeinrichtungen und Gerichten. Der Staat glaubt, der hochintelligente Rohköstler sei eine akute Gefahr für die Gesellschaft, deshalb haben Gerichte schon vor Jahren eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet. Sie haben Schlatter bis auf Weiteres weggesperrt und erlaubt, dass man ihn gegen seinen Willen mit Neuroleptika behandelt. (Die AZ hat immer wieder über Schlatter berichtet, zuletzt in der Ausgabe vom 19. Dezember 2024).

Doch die sogenannte «kleine Verwahrung» war juristisch stets umstritten. Eine solche Massnahme darf nur angeordnet werden, wenn ein psychisch kranker Straftäter grundsätzlich als «therapierbar» gilt – wenn er in der Massnahme also so weit resozialisiert werden kann, dass er nicht mehr als Gefahr gilt. 

Die Zwickmühle im Fall Schlatter: Im Grunde ist klar, dass er sich nicht mehr gross verändern wird. Schlatter ist überzeugt davon, dass er nicht krank ist; er verweigert jegliche Therapieversuche und ist fest entschlossen, seine antipsychotischen Medikamente abzusetzen, sobald man ihn freilässt.

Das ist nun geschehen. Seit Dienstag ist Erich Schlatter zurück in der Freiheit. Wie schnell die Lage dort eskalieren kann, zeigte sich vor zwölf Jahren.

Wenn das System kollabiert

2013 lebte Schlatter wegen verschiedener Gewaltdelikte offiziell im Rahmen einer «kleinen Verwahrung» in einer geschlossenen Psychiatrieklinik in der Schweiz. Jedoch war er ein paar Jahre zuvor nach Spanien geflüchtet, wo nach einiger Zeit wegen Mordverdachts gegen ihn ermittelt wurde. Aus Mangel an Beweisen stellte die Staatsanwaltschaft in Valencia das Verfahren jedoch ein und Schlatter wurde in die Schweiz ausgeliefert.

Nun also, 2013, musste das Schaffhauser Kantonsgericht entscheiden, ob die «kleine Verwahrung» immer noch verhältnismässig ist. Und das Gericht kam zum Schluss, Schlatter sei «nicht therapierbar»; also müsse die stationäre therapeutische Massnahme per sofort beendet und Schlatter entlassen werden.

Das Urteil war eine Sensation. Und der Richter war sich bewusst, dass der Entscheid Konsequenzen haben würde: «Es ist anzunehmen, dass Erich Schlatter in Situationen kommt, in denen er sich zu etwas hinreissen lässt.» Wie schnell das System unter diesem Systemsprenger kollabieren würde, hatte jedoch kaum jemand vermutet.

Schlatter setzte sofort die Medikamente ab und zog wie ein Berserker durch die Schweiz, lieferte sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, beging ein Delikt nach dem anderen. Als man ihn notfallmässig in die Psychiatrieklinik einweisen wollte, schlug er mit blossen Händen die Sicherheitstür einer Isolierzelle kaputt. Im Gefängnis verschmierte er die Wände seiner Zelle mit Kot. Selbst im Hochsicherheitstrakt der Klinik Rheinau war er bald nicht mehr willkommen. Ein Sondersetting bei einem Trafohaus am Schaffhauser Stadtrand, das die Stadt für ihn bereitstelle, verwüstete er innert Tagen und zündete es an.

Ruhe kehrte erst ein, als man in der Klinik Breitenau eine ganze Station für Schlatters Bedürfnisse umbaute, ihn wieder mit Neuroleptika ruhigstellte – und das Kantonsgericht 2015 schliesslich doch wieder eine «kleine Verwahrung» anordnete.

Erich Schlatter 2023 in Bauma. Foto: Robin Kohler

Diesmal argumentierte das Gericht, dass «therapierbar» nicht bedeuten müsse, dass eine Heilung der psychischen Krankheit möglich sei – Erich Schlatter gelte auch dann als therapierbar, wenn sich durch die Massnahme lediglich seine Gefährlichkeit reduziere. 

Es war eine juristisch fragwürdige Argumentation. Aber offenbar einigte sich der Staat stillschweigend darauf, dass es keine bessere Lösung gibt, als Schlatter wieder wegzusperren.

«Die Massnahme ist aussichtslos»

Schlatters Anwalt Martin Schnyder jedoch war anderer Meinung. Und er ist es heute noch. Schnyder ist der Ansicht, sein Mandant müsse ohne Auflagen entlassen werden, und zwar sofort. Dass Schlatter eingesperrt ist, verstosse gegen die Menschenrechte. Deshalb veranlasste Schnyder in den vergangenen Jahren immer neue Gerichtsverhandlungen, bei denen stets dieselbe Frage verhandelt wurde: Muss man Schlatter freilassen?

Bisher entschied das Gericht jeweils, die «kleine Verwahrung» um ein paar Jahre zu verlängern. Erst im Dezember 2024 argumentierte das Schaffhauser Kantonsgericht, durch die Massnahme und die Medikamente sei «eine wesentliche Entdynamisierung» der Schizophrenie möglich, deshalb müsse Erich Schlatter eingesperrt bleiben. 

Nun aber, an diesem Dienstag im Herbst 2025, entscheidet das Obergericht anders. 

Grund dafür ist ein neues, 127-seitiges Gutachten, das der AZ vorliegt. Der forensische Psychiater Stefan Lanquillon geht darin zwar – im Falle einer Entlassung – von einem ähnlich hohen Rückfallrisiko für Delikte aus wie frühere Gutachter:innen. Er sieht vor allem ein «relevantes Risiko» dafür, dass Erich Schlatter im Winter Brände legt, um sich zu wärmen. (Nach seiner Entlassung 2013 war Schlatter in Keller in der Schaffhauser Altstadt eingestiegen, hatte dort Feuer entfacht und ganze Häuser ausgeräuchert). Gutachter Lanquillon macht aber auch unmissverständlich klar, dass die therapeutischen Möglichkeiten in der stationären Massnahme «sowohl in psychopharmakologischer, psychiatrischer als auch psychotherapeutischer Hinsicht ausgeschöpft» seien.

Das Verdikt ist so klar, dass sogar der leitende Staatsanwalt Peter Sticher, der bis anhin stets für eine Verlängerung von Schlatters Massnahme argumentiert hatte, nun gegenüber der AZ sagt: «Nach dem neusten Gutachten gibt es keine zwei Meinungen mehr. Die Massnahme ist aussichtslos.» So bleibt ihm an diesem Dienstag vor dem Obergericht denn auch nichts anderes übrig, als Schlatters Entlassung zu beantragen.

Die drei Richter:innen um Eva Bengtsson hatten keine Wahl. Ihnen blieb nur, Schlatter zu ermahnen: «Wir hoffen, dass Sie mit dieser Freiheit umzugehen wissen.»

Eine Zukunft in Frankreich?

Wie es nun weitergehen soll, ist unklar.

Erich Schlatter selbst hat einen Plan: Er will zu einem Mann namens Bernard Mercier ziehen, der in einer französischen Kleinstadt westlich von Genf lebt. Mercier und Schlatter lernten sich in den 1980er-Jahren auf einem Schloss in Frankreich kennen, wo der schillernde Rohkostguru Guy-Claude Burger mit seinen Jünger:innen lebte und eine eigentümliche Ernährungstherapie praktizierte. Die Gemeinschaft wurde später vom französischen Staat offiziell als Sekte taxiert, mehrere Menschen verloren auf dem Schloss wegen dubioser Heilsversprechen ihr Leben, und Guy-Claude Burger selbst wurde wegen verschiedener schwerer Gewaltverbrechen zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Bernard Mercier jedoch führt Burgers Erbe bis heute weiter.

Medizinische Fachleute, die regelmässig mit Erich Schlatter zu tun haben, zweifeln jedoch daran, dass das Zusammenleben von Bernard Mercier und einem Erich Schlatter ohne Neuroleptika funktionieren kann. Sie sind sich seit Jahren einig, dass Schlatter völlig unrealistische Vorstellungen seiner eigenen Fähigkeiten habe. Im hoch spezialisierten geschlossenen Pflegezentrum Bauma, in dem er bis zu diesem Dienstag lebte, war der Alltag trotz der gut eingestellten Neuroleptika, die ihm alle zwei Wochen gespritzt werden, ein steter Kampf wie mit einem Kleinkind. 

Und jetzt soll Erich Schlatter also wieder ohne Medikamente und ohne Betreuung von seiner AHV-Rente in Freiheit leben – ähnlich wie damals nach seiner Entlassung 2013. 

Vermutlich wird man in Schaffhausen noch von ihm hören.

Der Journalist Marlon Rusch hat über das Leben von Erich Schlatter ein Buch geschrieben. «Gegenterror» ist im Verlag am Platz erschienen und im Buchhandel erhältlich.

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Fragwürdige Verbündete https://www.shaz.ch/2025/09/22/fragwuerdige-verbuendete/ Mon, 22 Sep 2025 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10116 Der Gerichtshof für Menschenrechte drossle den Kampf gegen «kriminelle Ausländer» zu stark, findet die SVP. An vorderster Front im Kampf gegen Strassburg: Ständerat Hannes Germann. «What was once right might not be the answer of tomorrow.» Was einst richtig war, sei vielleicht nicht die Antwort von morgen: So ominös beginnt der Brief, den der Europäische […]

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Der Gerichtshof für Menschenrechte drossle den Kampf gegen «kriminelle Ausländer» zu stark, findet die SVP. An vorderster Front im Kampf gegen Strassburg: Ständerat Hannes Germann.

«What was once right might not be the answer of tomorrow.» Was einst richtig war, sei vielleicht nicht die Antwort von morgen: So ominös beginnt der Brief, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 22. Mai dieses Jahres erhalten hat. Darin findet sich eine pompöse Rede über «kriminelle Ausländer», welche die «Gastfreundschaft ausgenutzt haben» und «ein Gefühl der Unsicherheit vermitteln» würden. Der EGMR schränke die Nationen in ihrer Entscheidungsfreiheit ein – besonders bei der Ausschaffung und Überwachung von Migrant:innen. Unterzeichnet ist die Wutrede von neun europäischen Regierungschefs, und ihre Botschaft ist unmissverständlich: Der Gerichtshof soll gezügelt werden.

Man braucht nicht zweimal raten, wer hierzulande an diesem Brief Gefallen findet: Die SVP hat ihren Feldzug gegen die «fremden Richter» schon vergangenes Jahr lanciert. An vorderster Front kämpft ein bekanntes Gesicht mit: der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann. In einer Motion fordert er, dass der Bundesrat dem Beispiel der europäischen Regierungschefs folge. Am kommenden Dienstag befindet der Ständerat über den Vorstoss.

Die Grenzen «längst überschritten»

In der Motion moniert Germann, man suche die Unterschrift des Bundesrats auf dem offenen Brief vergeblich – und das «trotz der Erklärung des National- und Ständerats an die Adresse des EGMR nach dem Klimaseniorinnen-Urteil». Dabei handelte es sich um das erste Urteil eines internationalen Gerichts, das einen Staat, namentlich die Schweiz, wegen unzureichendem Klimaschutz der Menschenrechtsverletzung schuldig sprach. Als Mitgliedstaat des Europarats habe die Schweiz eine Verantwortung, sich aktiv an dieser Debatte zu beteiligen, so Germann. Der EGMR habe die Grenzen des Zulässigen «längst überschritten».

Germann reiht sich mit seiner Forderung in eine Gruppe fragwürdiger Verbündeter ein. Federführend waren Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni. Beide Länder hatte der EMGR wiederholt für ihren Umgang mit Migrant:innen verurteilt. Meloni steht an der Spitze der Partei Fratelli d’Italia, die gemäss mehreren Einschätzungen wie jener der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung als rechtsextrem gilt. Für ihre Positionen zur Migration, aber auch für den Umgang mit Minderheitsgruppen, wird sie immer wieder kritisiert.

Die AZ hätte gerne erfahren, wie der altgediente Ständerat die politische Nähe zu einer solchen Regierungschefin rechtfertigt. Germann liess sich bis Redaktionsschluss nicht zu einer Stellungnahme bewegen.

Der zweite Schaffhauser Ständerat, Severin Brüngger, sagt auf Anfrage der AZ, er stehe «voll und ganz» hinter den Menschenrechten, aber die im Brief angesprochenen Anliegen seien aus seiner Sicht berechtigt.

Der EGMR hat in den letzten Jahren mehrfach Urteile zu Asyl- und Migrationspolitik gefällt: 2020 verurteilte er die polnische Regierung, weil Schutzsuchende an der Grenze zu Belarus abgewiesen worden waren, ohne deren Fluchtgründe zu prüfen. Zwei Jahre später rügte er auch Griechenland: 2014 war ein Boot mit Flüchtenden vor der Insel Farmakonisi von den Behörden zurückgedrängt worden, elf Personen kamen dabei ums Leben. Manchen Politiker:innen gehen solche Urteile zu weit – auch in der Schweiz. Bereits im Mai winkte der Nationalrat einen Vorstoss von FDP-Ständerat Andrea Caroni durch, der das Urteil über die Klimaseniorinnen als «ausufernde und übergriffige Rechtsprechung» bezeichnete.

Mitarbeit: Sharon Saameli

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Revierkampf https://www.shaz.ch/2025/09/18/revierkampf/ Thu, 18 Sep 2025 11:32:38 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10112 Platzhirsch Samuel Gründler misst sich mit dem Staatsbetrieb SH Power. Dabei geht es auch um die Frage, wer die lauteste Röhre hat. Wer soll in Schaffhausen den Boden aufreissen, Rohre verlegen und Wärme liefern? Die öffentliche Hand oder private Unternehmer? Darüber diskutiert die Stadt gerade. Im Grunde aber steht hinter dieser Debatte ein einziger Mann: […]

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Platzhirsch Samuel Gründler misst sich mit dem Staatsbetrieb SH Power. Dabei geht es auch um die Frage, wer die lauteste Röhre hat.

Wer soll in Schaffhausen den Boden aufreissen, Rohre verlegen und Wärme liefern? Die öffentliche Hand oder private Unternehmer? Darüber diskutiert die Stadt gerade. Im Grunde aber steht hinter dieser Debatte ein einziger Mann: Samuel Gründler. Der Privatunternehmer will Wärmeverbünde bauen, und er war zuerst da.

Vielleicht haben die städtischen Werke nur wegen ihm angefangen, auf klimafreundliche Wärme umzurüsten. Jetzt wollen sie ihr Revier verteidigen und brauchen dafür Geld: Am 28. September soll die Stimmbevölkerung dem Staatsbetrieb einen 110-Millionen-Kredit für den Ausbau der Wärmeversorgung zusprechen. Und Platzhirsch Samuel Gründler, dessen Pläne durch ein Ja blockiert würden, tritt ihm entschieden entgegen: Er heizt den trägen Abstimmungskampf auf – schaltet mit seinen Geschäftspartnern teure Publireportagen in der Tageszeitung, teilt gegen die Behörden aus, samstags steht er in der Altstadt und verteilt reisserische Flyer. Was treibt ihn an?

Harter Nacken

Samuel Gründler steht an diesem Montagnachmittag vor der neuen Zentrale im Grubenquartier, die er mit seinen Partnern aufbaut. Es ist seine Schicksalsschmiede: Drinnen erhebt sich ein schwindelerregender, vierstöckiger Maschinenraum, in der Mitte die Heizkessel, in denen Feuer lodert, daneben gewaltige Wärmespeicher und selbstverständlich viele, viele Rohre. Bauarbeiter klettern auf Gerüsten herum, überall hämmert und pocht es. Diese Woche noch soll die Energiezentrale in Betrieb gehen und Wärme in hunderte, und vielleicht dereinst in bis zu 2000 Haushalte und Institutionen im Grubenquartier liefern. Gründler reicht einen Helm und führt die Stahltreppen hoch: «Jetzt machts Freude», sagt er enthusiastisch. Eineinhalb Jahre hätten sie Blut und Wasser geschwitzt, doch nun zeige sich: keine Probleme, alles laufe bisher nach Plan. Er weist auf einige technische Details hin: «Etliche Optimierungen, die über den Stand der Technik hinausgehen. Wir machens besser als das Lehrbuch.»

Gründler ist eine erstaunliche Persönlichkeit. Steht man ihm gegenüber, kann man sich vorstellen, wie er in Amtsstuben regelmässig für rote Köpfe und Schnauben sorgt. Er kämpft gerne, das sagt er auch von sich selbst. Man kann ihn herausfordern, er lässt sich nicht aus der Reserve locken. Stattdessen spricht er entwaffnend geradeheraus. Er strahlt in seinem Fachbereich eine Dominanz aus, die ihm auch als Arroganz ausgelegt wird. Dabei stützt er sich auf seine Erfahrung.

Vor gut zehn Jahren übernahm er das Ingenieurbüro seines Vaters. Das Büro war Lokalpionierin für innovative Energielösungen, schon vor über 40 Jahren baute es den ersten Wärmeverbund, als noch niemand etwas davon wissen wollte. En vogue sind sie erst seit Kurzem. Samuel Gründler erkannte vor ein paar Jahren, dass die Kund:innen auf Wärmeverbünde umsatteln wollen und sich hier ein hochprofitables Geschäftsfeld abzeichnet. Und in Schaffhausen gab es dafür eine Nische, die brach lag. Also begann Gründler zu planen, mehrheitlich zusammen mit dem Marthaler Baggerunternehmer Matthias Stutz. Beim Energieverbund in den Gruben (Schaffhausen Ost) ist zudem die Gloor AG dabei. Es ist ihr gemeinsames Grossprojekt.

Samuel Gründler ist ein Macher, das sagen alle, die ihn kennen. «Ich habe mein Leben in den letzten vier Jahren diesen Wärmeverbünden gewidmet. Ich habe im Schnitt sicher 70 Stunden die Woche gearbeitet», sagt er, der nebenbei noch diverse ehrenamtliche Ämter – und Familie – hat. Verfolgt Gründler eine Mission, schafft er Fakten.

In die Ecke gedrängte Beamte

Seit einigen Jahren treibt Gründler den Stadtrat vor sich her. Bis 2021 sass die Stadt gemütlich wiederkäuend auf ihrem Gasnetz und baute dieses sogar weiter aus, statt auf erneuerbare Energien umzusteigen. Doch dann kam als neuer Platzhirsch Samuel Gründler: Er überrumpelte den Stadtrat mit seinen Ambitionen. Aufgeschreckt rückte die Stadt bald schon mit einer eigenen Planung nach: dabei reservierte sie gewisse Gebiete für sich, um dort in Zukunft selbst einmal Wärmeverbünde zu planen. Seither und deshalb kommt sie sich mit Gründler ins Gehege. Unter Druck erteilte der Stadtrat Gründler schliesslich freihändig Konzessionen, um in gewissen Gebieten Rohre zu verlegen. Im Nachhinein stellte sich allerdings heraus, dass man diese Konzessionen für Dritte hätte ausschreiben müssen. Das wird die Stadt nach eigener Auskunft künftig auch machen. Doch Gründler gibt sich mit den Revieren, die ihm bereits zugefallen sind, nicht zufrieden. Er will mehr.

Draussen, vor der Zentrale in den Gruben. Samuel Gründler zeigt auf Wohnhäuser in der Umgebung: «Diesen Block dort oben dürfen wir anschliessen, jenen daneben nicht. Das macht doch keinen Sinn. Das hat einfach einer am Schreibtisch so eingezeichnet.»

Er meint damit die Gebiete Alpenblick/ Niklausen sowie Buchthalen, für die er unbedingt eine Konzession will. Der Stadtrat jedoch lehnte dies ab (der Stadtratsbeschluss liegt der AZ vor). Doch das will Gründler nicht akzeptieren. Er ist der Ansicht, er habe keine anfechtbare Absage bekommen, diese sei deshalb nicht rechtsgültig. Er spekuliert also einfach weiter auf diese Gebiete. Und um diese geht es ihm im Kern.

Gruben und Ungarbühl / Emmersberg (grün, blau) wurden dem Energieverbund Ost bewilligt, die orangen Gebiete würde er ebenfalls gerne von der Zentrale (rot markiert) aus beheizen. Dort plant die Stadt jedoch in grossen Teilen eigene Wärmeverbünde. Quelle: Energieverbund Ost
Gruben und Ungarbühl / Emmersberg (grün, blau) wurden dem Energieverbund Ost bewilligt, die orangen Gebiete würde er ebenfalls gerne von der Zentrale (rot markiert) aus beheizen. Dort plant die Stadt jedoch in grossen Teilen eigene Wärmeverbünde. Quelle: Energieverbund Ost

Vor ein paar Jahren noch sagte Gründler gegenüber der AZ, es gehe ihm bei seinem Kampf primär um die Energiewende (Ausgabe vom 30. Juni 2022). In der Tat: dass ihm die Ökologie am Herzen liegt, ist unbestritten. Gründler hat – vor dem Studium zum Energieingenieur – Biologie an der ETH und Fischbiologie in Schweden studiert, er kämpft im Schaffhauser Fischereiverein (und, bis vor Kurzem, im Schweizerischen Vorstand) allen Widerständen zum Trotz gegen das Fischsterben. Vor Kurzem aber ist er der FDP beigetreten, im vergangenen Wahlkampf unterstützte er Severin Brüngger – beide sind nicht für ihren Kampf fürs Klima bekannt. Gründler ist enttäuscht von der GLP. Er sieht seine Philosophie des freien Marktes, wo die beste Lösung obsiegen soll, aktuell einzig bei der FDP vertreten. Auch könne er zwischen lokalen und nationalen Themen unterscheiden: «Und sonst kann ich auch wieder austreten, da bin ich relativ emotionslos.»

Der Privatunternehmer richtet sich nach seinen persönlichen Massstäben. Er verhehlt nicht, dass es ihm bei der Abstimmung um den Rahmenkredit für SH Power um sein eigenes Geschäft geht. Um die Gebiete, die er rund ums Grubenquartier erschliessen möchte. Seine Zentrale sei darauf ausgelegt, sagt er. Nur so könnten laut ihm all seine Kund:innen von einem niedrigeren Tarif profitieren. Und um diese gehe es ihm. «Ich will in den Spiegel schauen können. Ich möchte mir nicht vorwerfen lassen, dass wir uns nicht für unsere Kunden eingesetzt haben.»

Zwei Hüte

Das tut Gründler gründlich. Er wird nicht müde, Spitzen gegen die Führung von SH Power zu setzen. Im Grundsatz wirft er ihr vor: Ihr fehle strategische Weitsicht und die Erfahrung aus dem Betrieb von eigenen Wärmeverbünden. Auf einer Timeline auf seiner Website zeigt Gründler auf, wie die Konfliktlinie mit der Stadt verlief: demnach wurde sein Projekt blockiert, ausgebremst und – so kann man es verstehen – kopiert. Tatsächlich zeigen die zeitlichen Abläufe, wie die Stadt versuchte, ihre bedrohte Position als Alphatier zu stärken.

Der kritisierte Werkreferent selbst, Stadtpräsident Peter Neukomm – nach dem wortwörtlich der Platzhirsch im Munotgraben benannt ist – möchte auf Anfrage der AZ festhalten, dass SH Power auf Stadtgebiet der grösste und wichtigste Betreiber von Wärmenetzen sei. Der Rahmenkredit sei zwingend nötig für eine schnelle Erschliessung diverser Quartiere. «Wir bedauern, dass die Städtischen Werke SH Power nun im Abstimmungskampf mit unlauteren Unterstellungen angegriffen werden. Aus unserer Sicht braucht es ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander.»

Samuel Gründler indessen schiesst aus allen Rohren. Dabei hat er auch noch zwei Hüte auf: Er berät mit seinem Ingenieurbüro Gemeinden, Gewerbe und Industrie, aber auch Privatkunden und empfiehlt ihnen die beste Wärmelösung. Und wenn er einen Wärmeverbund von SH Power für teuer hält, dann sagt er das auch. 

Man kann Gründlers Frust gegenüber dem Behördenapparat nachvollziehen. Aber letztlich geht es um den öffentlichen Grund und Boden, den er aufreissen will. Gründler erwidert, er wolle dies ja nur, weil seine Wärmeverbünde einem Bedürfnis in der Bevölkerung entsprechen.
Was ihn antreibt, ist ein starker Glaube an Fairness – respektive an das, was er selbst dafür hält. Die Frage ist nur: Überschätzt er sich?

Ruf und Risiko

Denn natürlich geht es vor allem um extrem viel Geld. Gründlers verschiedene Wärmeverbund-Aktiengesellschaften, an denen er beteiligt ist, speisen sein Ingenieurbüro mit Aufträgen und zahlen dafür. Sein Büro hat 17 Angestellte, die Hälfte arbeitet laut Gründler dieses Jahr am Wärmeverbund in der Gruben mit. Als Mitbesitzer der Aktiengesellschaften werde er aber nicht reich, sagt er: «In den nächsten 15 bis 20 Jahre müssen wir die Bankschulden zurückzahlen. Erst danach unsere eingebrachten Eigenmittel. Bis der Wärmeverbund frühestens einen Gewinn ausschütten kann, wird es mindestens 30 Jahre dauern.»

Grosse Wärmeverbünde sind ein risikoreiches Unterfangen. Ja, sagt Gründler, er sei schon risikoaffin. «Ohne Risiko könntest du keine Wärmeverbünde bauen. Sonst müsste man so viel auf den Energiepreis draufschlagen, dass man keine Kunden findet. Aber durch unsere jahrzehntelange Erfahrung können wir das Risiko gut kalkulieren. Darum schlafe ich gut.»

Kritische Stimmen sagen, Gründlers Expansionsgelüste in der Gruben seien vermessen. Sie bezweifeln, dass er es baulich überhaupt stemmen könnte, auch noch ganz Alpenblick / Niklausen und insbesondere Buchthalen zu beliefern. Die Stadt ihrerseits will letzteres Quartier fernwärmetechnisch nachhaltig mit einer Rheinwasseranlage erschliessen. Gründler indessen heizt anfangs noch ausschliesslich mit weniger ökologischen Holzschnitzeln. Diese will er bald mit Wärmepumpen ergänzen, der Kanton hat ihm bereits die nötige Konzession zur thermischen Grundwassernutzung erteilt. Darüber, ob Holzschnitzel im Winter tatsächlich so unökologisch sind, lässt sich laut Gründler streiten: «Im Vergleich zum begehrten Winterstrom ist das Holz lokal verfügbar.» Er ist fest von seiner Strategie überzeugt. Und: «Wenn jemand eine bessere hat, soll dieser bauen dürfen. Die beste Lösung sollte gewinnen.»

Erstunterzeichner Martin Hongler übergibt Stadtpräsident Peter Neukomm am 23. Mai 2024 die Volksmotion «Wärmeverbünde JETZT!». Foto: Robin Kohler
Erstunterzeichner Martin Hongler übergibt Stadtpräsident Peter Neukomm am 23. Mai 2024 die Volksmotion «Wärmeverbünde JETZT!». Foto: Robin Kohler

Für Letzteres hatte sich vergangenes Jahr auch die Volksmotion «Wärmeverbünde JETZT!» eingesetzt. Ihr geistiger Vater, Martin Hongler, hatte die Trägheit und Abwehrhaltung von SH Power bei der Energiewende kritisiert. Auf Nachfrage sagt Hongler, nun auf die städtischen Werke einzudreschen und Zweifel an der Institution zu säen, halte er für schlechten Stil. Er sieht es unideologisch: «Für mich sind Wärmeverbünde nicht besser oder schlechter, wenn sie privat oder vom Staat erstellt werden. Das Ziel war von Anfang an, dass es schnell geht.» Und das sei nur möglich, wenn man SH Power den Rahmenkredit zuspreche.

Platzhirsch Samuel Gründler ist offenbar anderer Meinung. Draussen, an der Betonwand der Energiezentrale in den Gruben hängen zwei überdimensionale Plakate: Das eine empfiehlt ein «Nein zum Rahmenkredit», das andere nennt nur drei Worte: «Innovativer, schneller, günstiger». Der Komparativ wird bei Gründler gross geschrieben. Und genau das ist dieser Revierkampf zwischen SH Power und Privatunternehmer Samuel Gründler im Grunde: ein Rohrvergleich.

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Prost, Rösli https://www.shaz.ch/2025/09/14/prost-roesli/ Sun, 14 Sep 2025 00:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10073 Nach 19 Jahren verabschiedet sich die Wirtin Rosa Haug von ihrer Stammbeiz. Wir trafen die legendäre Geheimnishüterin in Thayngen zur «Uustrinkete». Im Dorfkern von Thayngen, nur drei Häuser vom zentralen Kreuzplatz-Kreisel entfernt, gibt es einen alten Kiosk. Wer die Tür aufstösst, dem wickelt sich sofort die 17-jährige Katze Daisy um die Waden wie ein loses […]

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Nach 19 Jahren verabschiedet sich die Wirtin Rosa Haug von ihrer Stammbeiz. Wir trafen die legendäre Geheimnishüterin in Thayngen zur «Uustrinkete».

Im Dorfkern von Thayngen, nur drei Häuser vom zentralen Kreuzplatz-Kreisel entfernt, gibt es einen alten Kiosk. Wer die Tür aufstösst, dem wickelt sich sofort die 17-jährige Katze Daisy um die Waden wie ein loses Stück Garn, das Maunzen hoch und zuckersüss. Jeder Gast wird von ihr begrüsst – und jeder Gast kennt Daisy beim Namen, bückt sich zu ihr hinunter und krault sie hinter den Ohren.
Der zweite Gruss, wenn man die Schwelle übertreten hat, stammt von der 76-jährigen Rosa Haug. Sie ist die Besitzerin und Namensgeberin des Kiosks «Rösli», zu dem auch eine kleine Raucherstube im Hinterzimmer gehört.

Die Beiz befindet sich, zwischen Wohnhäuser gequetscht, an der Strasse «in Liblose». Und lieblos – kaum etwas würde weniger zu Rosas Stammbeiz passen. Nicht, weil das Etablissement so umfassend dekoriert ist (das ist es, inklusive handgemalter Katzenporträts und Blüemli-Tischdecken). Sondern weil sich die Stühle in Rosas Stube nun seit zwei Jahrzehnten regelmässig bis zum letzten Platz füllen, die Tische gedeckt mit Biergläsern und Colaflaschen, und mittendrin Rosa.

Jetzt, nach 19 Jahren Betrieb, ist Schluss mit dem «Rösli».

Bis zum Boden des Glases

An einem Wochenende Ende August bitten Rosa und Ehemann Erich zum letzten Mal zu sich. Rosa hat die Regalwand im Erdgeschoss nochmals aufgefüllt, bevor die Stammgäste sie zwecks «Uustrinkete» schliesslich leeren.

Den ganzen Tag über gehen die Leute ein und aus – sie bezahlen in klirrender Münze, wenn sie sich ein neues Päckli Glimmstängel holen oder einen Kaffee, der hier noch immer vier Franken kostet. Neumodische E-Zigaretten findet man an diesem Kiosk keine. Die Gäste streichen Daisy im Vorbeigehen übers matte Fell. Sie wünschen dem Ehepaar alles Gute, jetzt, wo für sie ein neuer Lebensabschnitt anfängt. Das Ende ihres Lokals hatte das Paar lediglich mit einem Zeitungsinserat im Dorfblatt angekündigt. Mittlerweile ist das Gebäude verkauft.

In einem der Regale steht eine riesige Flasche knallgrüner Trojka-Vodka, die an reuevolle Teenage-Eskapaden und damit einhergehende (ebenso bunte) Sauereien erinnert. «Der ist noch übrig von der letzten Fasnacht, dort war er immer beliebt», sagt Rosa. Früher lud das Paar regelmässig in den umgebauten Partykeller ein, zu Weihnachten verteilten sie Süssigkeiten an die Kinder.

«Ich sitze zu viel», meint Rosa, als sie sich an einem der vorderen Tische niederlässt. «Ich trinke und plaudere, räuchele gern.» Tatsächlich steckt eine frische Zigarette zwischen den pink manikürten Fingern. Rosas Stimme liefert den Beweis für die jahrelange Gewohnheit. «Ich bewege mich zu wenig. Ich will wieder mehr schwimmen gehen, spazieren, es einfach langsam angehen lassen.» Die Worte langsam und Rosa scheinen sich abzustossen wie zwei gleichgepolte Magnete.

Die Schankwirtin kann auf einen gewundenen Lebensweg zurückblicken: Geboren in St. Gallen, erlaubten die Eltern ihr zunächst nicht, eine «richtige» Ausbildung zu absolvieren. In Basel machte sie die Haushaltslehre, eine damals weit verbreitete Ausbildung für künftige Hausfrauen. Danach nahm sie Reissaus: nach Genf, für ein Au-pair-Jahr. Ein kleiner Akt der Rebellion, wie sie hinzufügt. Das Französisch könne sie auch heute noch gebrauchen.

Eine Zeit lang verdiente sie sich in Genf ihr Geld als Tellerwäscherin, dann im Verkauf. Zurück in der Ostschweiz heuerte die junge Frau bei einer Taxi-Firma an, aus dem gesparten Lohn bezahlte sie die Fahrstunden – diesmal ein grosser Akt der Rebellion. Elf Jahre lang war sie als Taxifahrerin selbständig und hatte eigene Angestellte unter sich.

Es gibt viele Parallelen zwischen dem Dasein als Chauffeuse und Gastwirtin, erzählt sie. «Du musst in beiden Fällen mit den Leuten reden, aber oftmals auch einfach zuhören können.» Und noch eine Eigenschaft ist das sprichwörtliche Gold wert: «Wenn einer zum Beispiel fragte, ob die Frau schon zuhause sei, zuckte ich nur mit den Schultern. Dabei war die schon längst mit einem anderen heimgegangen.» Weitere Gäste betraten die Beiz, in den Hemdfalten noch immer das schwere Parfüm eines anderen Stammgasts. Rosa hielt dicht.

«Man hat eben schon viel erlebt», setzt Rosa an. Ein paar Schlucke des Portweins, den Ehemann Erich eigentlich für sich selbst eingeschenkt hat, lockern ihre Zunge. Er tut nur so, als würde ihn der Diebstahl ärgern. «Als Taxifahrerin musste ich mal einen ins Puff bringen!», erzählt sie dann. «Ich durfte in der Küche warten, während er … sein Zeug erledigte.»

«Da hab ich mir gedacht:
Du bist ein Arschloch, was du kannst, kann ich auch.»

Rosa Haug

Wie so oft in ihrem Leben war es eine Reihe von Zufällen, die Rosa in den Randkanton und zum heutigen Betrieb führten: Nachdem sie mit ihrem ersten Ehemann nach Kanada ausgewandert war, kehrte sie anderthalb Jahre später zurück in die Schweiz. Alleine – die Ehe war zerbrochen. Die gemeinsame Tochter hatte sich in Thayngen niedergelassen, also tat sie es ihr gleich. Und lernte Erich kennen.
«Wir haben uns oft draussen auf ein Bänkli gesetzt und einfach geredet», erinnert sie sich. «Anfangs war ich noch etwas scheu, und überhaupt, von den Männern wollte ich damals nichts mehr wissen.» Trotzdem erlaubte sich die heute 76-Jährige irgendwann doch, eine neue Liebe entstehen zu lassen. Seit 2007 sind die beiden verheiratet.

Das «Rösli» führt Rosa seit 2006. «Die Eröffnung war am 1. Juni, das vergesse ich nicht. Wie ich damals zitterte und mich fragte: Schaff ichs oder schaff ichs nicht?» Rosas Zigarette ist fast heruntergebrannt. Im letzten Moment schnippt sie die bröckelige Glut von der Spitze.

37 Gläubiger

Am Anfang besassen Erich und sie das grosse Haus nur zum Wohnen, das Untergeschoss vermieteten sie an einen Musikfachverkäufer, der sich auch als Kiosk-Betreiber versuchte. Und der massenhaft Schulden anhäufte. «Irgendwann holte ich mir einen Auszug vom Betreibungsamt und merkte: Ich bin etwa an 37. Stelle in der Warteliste von Gläubigern», erinnert sie sich. Der Mieter machte sich schliesslich aus dem Staub. Noch heute schwingt Trotz in ihren Worten mit: «Da hab ich mir gedacht: Du bist ein Arschloch, was du kannst, kann ich auch.» Bewilligungen wurden eingeholt, Schulungen gemacht; das «Rösli» entstand.

Wie sich der Aschenbecher während Rosas Erzählungen füllt, tun es auch die Sitzplätze in der Stube. Seit der Pandemie habe sich die Beiz nie mehr ganz erholt, erzählt Erich. «Die Jungen kommen nicht mehr, die Alten sterben Stück für Stück weg.» Jetzt werde es Zeit. «Ich denke, die Leute kommen hierher, weil sie von uns akzeptiert werden», sagt er. Sie fühlen sich wohl im «Rösli». Es ist ein Treffpunkt, wo man für ein paar Stunden vergisst, in welchem Jahrzehnt man eigentlich zuhause ist.

Manche kommen schon so lange her, wie die Beiz existiert – etwa Wolfgang, von Freunden «Wolfi» genannt. «Ich weiss noch nicht, wo ich nachher hingehe», sagt er, und dreht ein hohes Bierglas in der Hand. «Die Anzahl Restaurants hier ist überschaubar. Vielleicht gehe ich rüber zum Take Away.» Es sei nun mal der Lauf der Dinge, dass ein weiterer Betrieb die Türen schliesse. «Rösli hat es auch mal verdient, aufzuhören. Ich kenne beide schon lange. Ich mag es ihnen gönnen.»

Wie immer erhebt sich die Wirtin auch an diesem Abend aus ihrem Metallstuhl und geht zur Kundschaft. «Prost, Rösli!» schallt es aus den Reihen. Rosa prostet zurück. Sie kennt jeden Gast beim Namen, als sie einem nach dem anderen das volle Glas zum Anstossen hinstreckt. «Isch Ziit worde», sagt sie dann, «ich bi scho e Fliissigi gsi.»

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Der Kulturort und das Sauna-Separée https://www.shaz.ch/2025/09/12/der-kulturort-und-das-sauna-separee/ Fri, 12 Sep 2025 00:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=10086 Nun ist klar, wer ins Gaswerkareal kommt. Unter anderem ein Sauna-Paradies, das ein bisschen Sonderbehandlung geniesst. Jetzt steht fest, wer auf dem Gaswerkareal einziehen wird. Am vergangenen Dienstag informierte die Immobilienabteilung der Stadt über das Zwischennutzungs-Projekt. Von 52 Interessent:innen hat die Stadt 30 ausgewählt, die eine Fläche in den leeren Räumlichkeiten mieten können – sei […]

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Nun ist klar, wer ins Gaswerkareal kommt. Unter anderem ein Sauna-Paradies, das ein bisschen Sonderbehandlung geniesst.

Jetzt steht fest, wer auf dem Gaswerkareal einziehen wird. Am vergangenen Dienstag informierte die Immobilienabteilung der Stadt über das Zwischennutzungs-Projekt. Von 52 Interessent:innen hat die Stadt 30 ausgewählt, die eine Fläche in den leeren Räumlichkeiten mieten können – sei es als Atelier, als Werkstatt, als Tonstudio oder als Skaterhalle. Auch die Gaskugel soll erhalten bleiben und zugänglich gemacht werden. Verwaltet und betreut wird das Areal von einem neu gegründeten Verein, dem «Kollektiv Gaswerkareal».

Damit ist dem Immobilienreferat und dem Stadtrat geglückt, was ursprünglich geplant war: die Verantwortung abgeben und trotzdem das Sagen haben.

Die Ausschreibung im April sorgte nämlich für einige Fragezeichen. Während bei Zwischennutzungen sonst oft eine Trägerschaft gesucht wird, die das Areal bespielt, zäumte die Stadt das Pferd von hinten auf: Wohl um zu verhindern, dass das Gaswerkareal ein nischiger Szeneort wird, parzellierte sie alle Räumlichkeiten und schrieb sie einzeln aus. Aus den ausgewählten Mieter:innen sollte sich dann wenn möglich ein Grüppchen finden, das bereit wäre, die Hauptmieterschaft zu übernehmen: das Areal verwalten, es lebendig gestalten – und je nachdem auch noch das finanzielle Risiko tragen. Die Stadt wollte den Fünfer und das Weggli: Kontrolle, aber auch idealistische Eigeninitiative der Mietenden.

Der Verein VSR, der bis vor Kurzem die Kammgarn West betrieb, kritisierte diesen Prozess in der AZ (Ausgabe vom 2. Mai 2025). Er bewarb sich deswegen nicht auf die Zwischennutzung. Aus seinem erweiterten Umfeld aber fand sich eine Gruppe zusammen, die sich vorstellen konnte, die Trägerschaft zu übernehmen: Rund 30 Personen zählt das «Kollektiv Gaswerkareal». Einige wollten Mieter:innen werden, andere vor allem das Zusammenleben mitgestalten.

Und man hat sich mit der Stadt gefunden. Der frischgegründete Verein muss nicht als Hauptmieter auftreten, die Einzelmieter:innen unterschreiben ihre Verträge mit der Stadt direkt – das Risiko für leerstehende Räume trägt die Stadt selbst. Dem Verein kommt die Rolle als Arealbetreuer zu.

Extrawürstli?

Derzeit scheint es also, als sei für alle eine glückliche Lösung gefunden. Für die Zwischennutzer:innen, als auch für den Stadtrat. Dort dürfte sich einer besonders freuen: der zuständige Immobilienreferent Daniel Preisig.

Genau fünf Minuten nachdem die Stadt ihre News zum Gaswerkareal per Mail abgeschickt hatte, wurde eine weitere professionelle Medienmitteilung versandt. Absender: der Verein «Lindlisauna». Die Lindlisauna wird auf dem Gaswerkareal einziehen, und zwar in die Direktorenvilla – ein Filetstück des Areals. Stadtrat Daniel Preisig ist bereits Mitglied des extra gegründeten Vereins.

Dazu muss man wissen: Preisig ist Saunierer aus Leidenschaft und auch bekannt als der «Saunareferent». Bei der Lindlisauna handelt es sich um den neugegründeten Schwesternverein der «RhySauna» – letzterer betreibt die Sauna, die Stadtrat Preisig 2018 in die Rhybadi pushte. Dort ist Preisig ebenfalls Mitglied, bei der RhySauna GmbH ist er Gesellschafter. Zudem präsidiert er den Verein Saunamarathon. Wie die AZ vor einigen Monaten aufzeigte, versucht der Stadtrat auch beim Neubau der KSS, auf einen grösseren Sauna-Bereich hinzuwirken (siehe Ausgabe vom 15. Mai 2025).

Und nun ist also auf dem Gaswerkareal eine Expansion der Schaffhauser Saunalandschaft gelungen. Laut Preisigs zuständigem Immobilienchef Florian Keller hat die Lindlisauna die Jury besonders deshalb überzeugt und sich gegen andere Ideen durchgesetzt, weil sie den Ort für ein breites Publikum zugänglich mache. Preisig trat laut eigener Aussage in den Ausstand, als der Stadtrat über den Antrag abstimmte.

Ein bisschen Sonderbehandlung kriegt der Lindlisauna-Verein trotzdem. Der Verein ist nicht Mitglied des «Kollektivs Gaswerkareal». Und anders als alle anderen Mieter:innen wird er auch nicht vom Kollektiv als Arealbetreuerin verwaltet, sondern separat, direkt von der Stadt. Eine etwas eigentümliche Konstellation: Der Immobilienreferent vermietet inzwischen städtische Liegenschaften an zwei Saunavereine, in denen er Mitglied ist. Laut Florian Keller indessen hat der Spezialfall Lindlisauna gute Gründe: Es gehe um die Wasser- und Gasanschlüsse, und darum, dass der Saunaverein selbst untervermieten will. Die obere Wohnung in der Direktorenvilla soll nämlich privat bewohnt werden – von einer Sauna-affinen Person.

Die Sonderbehandlung der Lindlisauna dürfte aber auch vor allem daran liegen, dass sie ein riesiges, ein Stück weit eigenständiges Projekt ist. Ein Leuchtturm für Schaffhausen, so heisst es in den Medienunterlagen des frischgegründeten Saunavereins, der bereits einen professionellen Online-Auftritt hat.

Das Team legt sich tüchtig ins Zeug, das wird klar, wenn man mit dem ehrenamtlichen Vereinspräsident Beat Fäh spricht. Startkapital: 25 000 Franken – die Lindlisauna erhält es vom Schwesterverein RhySauna als zinsloses Darlehen. Damit ist ein wahres Sauna-Paradies auf 140 Quadratmetern Gartenfläche geplant – viel grösser als in der Rhybadi. Die Villa selbst dient als Clubhaus: Mit Empfang, Bistro, Veranstaltungsraum und Garderoben – und mit öffentlichen Duschen im Aussenbereich, die auch die Rheinschwimmer:innen nutzen dürfen.

Daniel Preisig darf sich also zufrieden den Filzhut aufsetzen.

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