Zukunftsmusik

24. August 2022, Sharon Saameli

Für manche Baumart wird der Klimawandel in der Region zur Zerreissprobe. Vom Mittelmeer her gäbe es eine Anwärterin für den freiwerdenden Platz. Doch die hat noch zwei Probleme.

Den «Baum der Zukunft» mag man mit einem zarten Pflänzchen assoziieren, einem Keimling vielleicht, der an seiner Spitze zwei oder drei Blätter trägt und sein volles Potenzial erst in Jahrzehnten zur Schau stellen wird. Vincent Fehr wird uns eines Besseren belehren, als er am Montagmorgen den Vordersteig hinunterschlendert. Der 34-jährige Ökologe arbeitet an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, die in einer gross angelegten Langzeitstudie zukunftsfähige Baumarten evaluiert. Die Baumart, die Fehr im Sinn hat, ist nicht Teil dieser Studie, da sie unter den jetzigen Bedingungen nur an bestimmten Orten vollkommen winterhart ist. Sein Argument ist vielmehr: Es gibt diesen Typus längst in Schaffhausen – er hat rund ein Dutzend Exemplare vor zehn Jahren selber hier gepflanzt, im Garten seiner Eltern, sozusagen seinem Privatlaboratorium, sowie zwei Stück direkt anschliessend beim Obertorkreisel. Und hier gedeiht dieser Zukunftsbaum nicht nur ganz prächtig; er könnte langfristig auch in den Wäldern mehr Funktionen einnehmen als die eines Lückenfüllers.

Das grössere Exemplar am Obertorkreisel drängt sich dem Auge nicht auf, trotz der inzwischen stattlichen Höhe von sieben, vielleicht acht Metern. Quercus ilex ist dessen etwas umständlicher lateinische Name, im Volksmund bekannt ist sie einfach als Steineiche. Es handelt sich um die mediterrane Schwester der hier so beliebten Stiel-Eiche, und noch wirkt sie zart im Vergleich zu den knorrigen, einheimischen Genossinnen. Doch das sei nur ihr Alter, sagt Fehr und nimmt einen Zweig zwischen die Finger. «Lässt man ihr 200, 300 Jahre Zeit, wird sie fast genauso breit und sogar noch knorriger.»

Die Dimensionen eines Baumlebens sind für einen Menschen kaum fassbar. Die Forschung orientiert sich – vorerst – an den Zeitmarken 2050, 2080 und 2100. Bis dahin wird sich das lokale Klima immer mehr dem mediterranen angleichen. Für Fehr der Hauptgrund, weshalb die Quercus ilex dereinst für die Buche in die Presche springen könnte, wenn nicht sogar: sollte.

Die Steineiche liebt das Licht, keimt aber auch im Schatten; sie verträgt Hitze und Trockenheit und gedeiht auch auf flachgründigen Böden; sie ist in der Holzwirtschaft beliebt, für die Verbrennung wie auch – wenn man ihr genügend Zeit lässt – für die Möbelherstellung; und die Früchte sind geniessbar, für viele Tiere, aber auch für den Menschen. Ihre entscheidende Eignung als Zukunftsbaum liegt aber vor allem darin, sagt Fehr, dass die Quercus ilex im Mittelmeergebiet die verbreitetste waldbildende Baumart ist. Damit könnte sie die ökologisch zentrale Rolle der Buche und sogar der einheimischen Eiche einnehmen. Zudem wird sie im künftigen Klima gegenüber den meisten unserer Laubbäume einen entscheidenden Vorteil haben: Sie ist immergrün. Das bedeutet, dass sie bereits Photosynthese betreiben kann, während die anderen noch nicht ausgetrieben haben.» Ihre Blätterform passt sie je nach Lichtverhältnissen und Wasserverfügbarkeit an: Im Schatten werden sie gross und rund, in der Sonne schmaler und sogar etwas silbriger. Und je weiter bodenwärts die Blätter wachsen, desto stacheliger bildet die Steineiche sie aus – ein natürlicher Schutz vor dem Gefressenwerden.

Die Steineiche hat nur zwei – lösbare – Probleme. Und um die zu verstehen, muss man etwas ausholen.

Das Problem der Heimat

In der Ökologie spricht man in Bezug auf den Klimawandel von einem «regime shift»: Das mediterrane Klimaregime verschiebt sich pro Jahr um ungefähr 1000 Meter in Richtung Norden – und stellt damit nicht nur die Lebensbedingungen der allermeisten einheimischen Baumarten infrage, sondern bringt auch neue Pflanzen mit sich. Das Problem: «Manche Baumarten können mit diesem Tempo schlicht nicht mithalten», sagt Fehr, «und kommt nichts neues nach, verarmt langfristig das Ökosystem.» Der Steineiche ginge es unter den künftigen Klimabedingungen in unseren Breitengraden gut. Aber sie reist nur 30 Meter pro Jahr. «Sie migriert also zu langsam das Rhônetal in Richtung Schweiz hinauf, als dass sie mit dem Klimawandel mithalten könnte.»

Die jüngere Invasionsbiologie spricht daher seit einigen Jahren von «assisted ­migration»: Der Mensch pflanzt die Steineiche bereits, um den in Zukunft befürchteten Verlust der Biodiversität einzudämmen, anstatt zuzuwarten, bis sie es von allein ins Mittelland schafft. Bereits heute finden sich Exemplare rund um den Genfersee und an Kalkhängen im Tessin. Und die Stadt Basel hat bereits ganze Steineichen-Alleen gepflanzt. Dies zeigt auch: Die Thematik der problematischen, nicht-einheimischen Arten, die sonst hauptsächlich unter dem Kampfbegriff der invasiven Neophyten verhandelt wird, hat durch den Klimawandel eine andere Relevanz erhalten. «Es kommt langsam zu einer Öffnung hin zum Gedanken, dass wir Pflanzen aus dem näheren Ausland unter sich ändernden Klimabedingungen effektiv brauchen werden», sagt Fehr.

Unter dem aktuellen Klimaregime wäre die Steineiche in Wäldern gegenüber den einheimischen Gewächsen noch nicht konkurrenzfähig. Das gilt aber nicht für urbane Räume. Umso mehr plädiert Fehr dafür, die das Licht liebende Steineiche heute schon auf städtischen Plätzen und in Parks zu pflanzen, damit sie sich von da aus allmählich etablieren kann – neben weiteren (sub-)mediterranen Arten wie etwa der Hopfenbuche oder der Blumenesche.

Nur haben die Quercus ilex und ihre südlichen Genossinnen da ein zweites Problem: unser enges Verständnis von Heimat.

Der Wald wird als Kulturerbe seit Jahrhunderten besungen und romantisiert, er ist Schauplatz von Lyrik, Sagen und Märchen. Und so zu einem Ort der Identifikation geworden, einem Ort, der zu bleiben hat, wie er ist. Selbst in der Wissenschaft stellt Vincent Fehr diese Debatte fest. «Aus ökologischer Sicht sind die sogenannt einheimischen Arten aber nur sehr bedingt einheimisch», betont Fehr, «vor 6000 Jahren sah der Wald noch ganz anders aus, vor 12000 Jahren gab es hier noch überhaupt keinen Wald.»

Eine Steineiche auf dem Walther-Bringolf-Platz etwa, oder auch auf der Burgunwiese in Neuhausen, hätte so nicht zuletzt auch einen Aufklärungszweck: Sie könnte uns dafür sensibilisieren, was die Zukunft bringt.

Baumgeschichten
Bewundert, bewirtschaftet, emotionalisiert, entstellt: In unserer Sommerserie begeben wir uns auf die Suche nach besonderen Bäumen. Mit der Steineiche (Teil 6) ist diese abgeschlossen.
Folge 1: Tanzlinde
Folge 2: Affenbaum
Folge 3: Mammutbaum
Folge 4: Haselnussbaum
Folge 5: Schüppeleiche