Der im Herbst anstehende Standortentscheid und allgemeiner Frust bringen im Weinland die vergessen geglaubte Opposition zurück.
Seit fast 50 Jahren sucht die Schweiz einen Ort, um ihre radioaktiven Abfälle zu entsorgen. Nach mehreren Neuanfängen, zwei gescheiterten Volksabstimmungen um die Jahrtausendwende und Sondierungen in insgesamt sechs Regionen (bis 2015 auch auf Schaffhauser Boden), soll in diesem September endlich Klarheit herrschen: Dann gibt die vom Bund beauftragte Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) bekannt, welchen der drei verbleibenden Standorte sie bevorzugt.
Bis zum allfälligen Baubeginn eines geologischen Tiefenlagers werden dann zwar noch einmal zwei Jahrzehnte, eine Vernehmlassung, ein Bundesrats-, ein Parlaments- und ziemlich sicher auch ein Volksentscheid ins Land ziehen. Doch der Standortentscheid ist ein Showdown, von dem es kein Zurück mehr gibt. Für die betroffene Region wird es spätestens dann ernst.
Dementsprechend wird der Herbst mit Spannung erwartet. Nicht zuletzt im Zürcher Weinland. Denn das Gebiet zwischen Marthalen, Benken und Rheinau gilt unter den drei im Rennen verbliebenen Regionen als heimlicher Favorit der Nagra (zur Auswahl stehen ausserdem «Jura Ost» bei Bözberg im Aargau und «Nördlich Lägern» in der Region Bülach). Nach einem Jahrzehnt relativer Ruhe, in der die Endlagergefahr etwas aus dem öffentlichen Fokus verschwunden war, und Diskussionen um Standortwahl und Sicherheit vor allem in geschlossenen Gremien stattgefunden haben, scheint sich nun wieder offener Widerstand zu formieren.
Fässchen beim Hinkelstein
Das Symbol dieses Widerstands: ein Stein. Mehrere Meter hoch ragt er an der vielbefahrenen Strassenkreuzung zwischen Rheinau, Marthalen und Benken aus der Wiese. Die Form erinnert an einen Hinkelstein, wie ihn der Gallier Obelix in den Comics jeweils den römischen Besatzern entgegenwirft. Aufgestellt hat dieses Ungetüm der Landwirt Jürg Rasi, Gründer der Interessensgemeinschaft «Kein Endlager im Weinland» (Like) im Jahr 2018 (ein Porträt von Rasi finden Sie in der AZ vom 9. April 2015). Der Stein wurde 2020 gar behördlich bewilligt und gilt nun als Gebäude. Und jüngst, im Februar dieses Jahres, hat Rasi das Monument mit gelben Atomfässchen und Plakaten ergänzt.
Die Symbolik ist klar: Like – bestehend aus Landwirten, die direkt vom Tiefenlager, von der enormen Baustelle und den geplanten Oberflächenanlagen betroffen wären – sehen sich als letztes Dorf des Widerstands gegen die Endlager-Römer. Im Sommer, noch vor dem Nagra-Standortentscheid, planen sie eine Demo an der Hinkelstein-Kreuzung – dort, wo die Landwirte ihre Felder haben, in deren Nähe die Oberflächenanlagen voraussichtlich gebaut würden, sollte die Wahl aufs Weinland fallen.
Gemeinsam getrennte Demo
Doch auch eine ungleich grössere und einflussreichere Widerstandsorganisation rüstet zum Protest: Kein Leben mit atomaren Risiken (Klar!). Am selben Datum, dem 28. August, plant der Verein ebenfalls eine Demonstration Kundgebung, in unmittelbarer Nähe zu den Landwirten, nur einen Steinwurf den Hügel hinauf. Die beiden Vereine haben entschieden, sozusagen getrennt und dennoch gemeinsam in Erscheinung zu treten, sagen Peter Rüegg und Käthi Furrer, als die AZ sie zum Gespräch auf dem Demogelände trifft. Während Like grundsätzlich gegen ein Tiefenlager im Weinland sei, verstehe sich Klar! Schweiz als Organisation des «konstruktiven Widerstands».
Doch was bedeutet das überhaupt? Und bringt das an diesem Punkt noch etwas? Darüber ist man sich auch vereinsintern nicht mehr so ganz einig.
Klar!, heute ein Verein mit rund 500 Mitgliedern, entstand 2003 als Zusammenschluss aus Gruppierungen, die sich in den 90er-Jahren gegen geplante Bohrungen der Nagra im Weinland eingesetzt hatten. Ihre Wurzeln hat Klar! also durchaus in der Fundamentalopposition. Und im Gegensatz zu den bürgerlich orientierten Landwirten von Like ist Klar! eher linkslastig. In den 2000er-Jahren organisierte der Verein Demos mit bis zu 1000 Teilnehmern gegen die Atomkraft – und auch «gegen Atommüll am Rhein».
Die Phase der Mässigung
Dass es um das Jahr 2011 ruhiger wurde um den Verein, hat mit einem politischen Kurswechsel auf Bundesebene zu tun. In den ursprünglich sechs potentiellen von der Nagra ausgewählten Standortregionen wurden Organe zur Mitsprache der lokalen Behörden und der Bevölkerung geschaffen, unter anderem die Regionalkonferenzen (RK). «Akzeptanz durch Partizipation», so das Ziel der für die Endlagersuche verantwortlichen Bundesämter. Klar! Schweiz gab sich erst skeptisch. Der Vorstand empfahl den Mitgliedern im Vereinsorgan, sich einzubringen in der RK und «kritische Fragen zu stellen», man werde sich aber «nicht als oppositionelles Feigenblatt für ein unverbindliches Scheinverfahren missbrauchen lassen!». Schliesslich liess man sich auf das Gremium ein. Es begann so etwas wie die parlamentarische Phase des Vereins.
Mitglieder der Regionalkonferenz Zürich Nordost, in der Klar!-Leute sitzen, haben keine Entscheidungsbefugnis, sondern nur konsultative Funktionen. Sie haben Einsicht in wichtige Dokumente, können Fragen stellen, Nagra-Experten und Bundesbeamte ins Kreuzverhör nehmen, zusätzliche Untersuchungen fordern, auf Versäumnisse hinweisen, eigene Experten aufbieten.
Das taten die Klar!-Mitglieder auch. Als zum Beispiel in den Plänen der Nagra plötzlich, wie eigentlich gesetzlich vorgesehen, kein «Testlager» mehr eingeplant war, sondern die Abfälle direkt an ihrem definitiven Bestimmungsort vergraben werden sollten, opponierten sie. Mit Erfolg. So versteht Klar! «konstruktiven Widerstand»: «Wir sagen nicht, dass das Lager auf keinen Fall hierhin kommen darf, denn die Schweiz ist per Verfassung verpflichtet, ihren Atommüll im eigenen Land zu entsorgen. Wenn dereinst das Weinland der sicherste Ort ist, nach nachvollziehbaren wissenschaftlichen Kriterien, dann müssen wir wohl damit leben. Aber so weit sind wir noch nicht. Wir stellen Bedingungen und legen den Finger auf die wunden Punkte», sagt Käthi Furrer, die Co-Präsidentin von Klar!
Oppositionskurs
Doch der partizipative Weg hat offenbar an Rückhalt eingebüsst im Verein. Drei Mitglieder des Vorstands sind für den Ausstieg aus der RK, darunter Co-Präsident Jean-Jacques Fasnacht. Auch Peter Rüegg, wie Fasnacht selbst Mitglied der RK, ist unzufrieden. «Ich habe das Gefühl, wir laufen auf im Moment, man verweigert uns die Diskussion. Und am Schluss der Sitzung gibts eine Abstimmung, wo wir dabei sind und damit einen Entscheid legitimieren, den wir gar nicht gut finden.»
Sein «Frustmoment», sagt Rüegg, sei die kürzliche Diskussion ums Tiefengrundwasser gewesen. Eine Delegation von Klar! Schweiz in Begleitung von unabhängigen Geologen traf den Zürcher Baudirektor Martin Neukom zum Gespräch, um sich dafür einzusetzen, dass über Vorkommen von Tiefengrundwasser keine Lagerungsanlagen gebaut werden dürfen. Doch sie erhielten dieselbe Antwort wie auch Markus Späth (SP) auf eine dringliche Interpellation im Parlament zum Thema: Tiefengrundwasser sei nicht nutzbar und deshalb nicht relevant. «Und das von einem Grünen! Und obwohl Neukoms leitende Geologen sagen, wir hätten recht», sagt Rüegg.
Käthi Furrer ist eher für die Option Dabeibleiben, wenn auch nicht um jeden Preis. «Ich bin vom Prinzip des ‹Marschs durch die Institutionen› geprägt: Man kann nur etwas bewegen, wenn man drin ist. Der Prozess wird mit uns sicherer als ohne uns», so die SP-Politikerin.
Auch die Basis, oder zumindest die rund 30 Leute, welche Anfang Mai an der GV von Klar! anwesend waren, befürworten immer noch mehrheitlich eine weitere Mitwirkung in der RK. Eine vom Vorstand lancierte Konsultativabstimmung ergab: 18:8 fürs Dabeibleiben, 4 Enthaltungen.
Die Zukunft der RK dürfte sowieso vom Nagra-Entscheid im Herbst abhängen. Wählt die Nagra das Weinland, bleibt die RK bestehen und kann sich voraussichtlich auch am späteren Prozess beteiligen. Fällt das Weinland aus dem Rennen, wird die RK wohl aufgelöst, wie es auch 2015 im Südranden geschehen ist.
Die Zukunft von Klar! Schweiz hingegen ist mehr oder weniger unabhängig vom Standortentscheid. Die grosse Kundgebung am 28. August (die erste Klar!-Demo seit 2008) gibt die Richtung vor: Opposition. An einem allfälligen Referendum werde man sich sowieso beteiligen, auch wenn es nicht ums Weinland gehe, sagt Furrer. Man sei mit den anderen Widerstands-Organisationen im Zürcher Unterland und am Bözberg solidarisch und wolle sich nicht gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben.
Das klingt dann aber doch mehr nach «Fundamentalopposition» als nach «konstruktivem Widerstand», nicht?
«Wir wollen nicht einfach Ja und Amen sagen, wir müssen uns einmischen und die Bevölkerung für das Thema Atommülllager sensibilisieren», so Furrers Antwort.