Bei der SVP werfen die nächsten Wahlen ihre Schatten voraus. Thomas Hurter will Ständerat werden, darum ist ein Nationalratssitz zu vergeben. Am 1. August wird klar, wer die Nase vorn hat.
Bratwürste, Schweizerkreuze und Sonnenblumen überall: Es ist 1. August, und die Schweiz wird gefeiert. Vor allem bei der SVP, wo die Hitze und die Trockenheit noch einfach nur schönes Festwetter sein dürfen.
Für die stärkste Partei ist der Nationalfeiertag dieses Jahr und in Schaffhausen besonders wichtig. Übervater Christoph Blocher und Lieblingsbundesrat Ueli Maurer besuchen den Kanton für eine Festrede.
In gut einem Jahr stehen nationale Wahlen an, und in der SVP ist zu hören, dass gewisse Weichen schon gestellt sind. Die AZ spürt Hinweisen und möglichen Kandidaten und Hoffnungsträgerinnen an drei verschiedenen Bundesfeiern nach: Bis am Ende des Tages sollte herauszufinden sein, wer auf den Schild gehoben wird. Dies ist eine Suche mit drei Stationen: Schaffhausen, wo Christoph Blocher im St. Johann spricht, Neunkirch, wo Ueli Maurer empfangen wird, und Siblingen, das Parteipräsidentin Andrea Müller gewinnen konnte.
Innerhalb der Partei ist es ein schlecht gehütetes Geheimnis, dass es bei den nächsten Wahlen um viel geht. Mehrere wichtige SVPler glauben zu wissen: Hannes Germann, der amtsälteste Ständerat der Schweiz, denkt ans Aufhören. Zum Zeitpunkt der Wahl, am 22. Oktober 2023, wird er 67 Jahre alt sein und der Kleinen Kammer seit 21 Jahren angehören. Zu hören ist, dass er sich noch ein sechstes Mal wiederwählen lassen, aber während der nächsten Legislatur zurücktreten wird.
«Rochade» ist sehr wahrscheinlich
Ob es wirklich so kommt, ist nicht ganz sicher. Germann sagt auf Anfrage, er habe sich noch nicht entschieden. Er mache seinen Job «wahnsinnig gern» und könne sich vorstellen, mindestens für eine gewisse Zeit nochmals anzutreten, und verschiedene Leute hätten dies bei ihm gewünscht. «Über kurz oder lang gibt es aber sicher Rochaden», und für seine Nachfolge brauche es «eine majorzfähige Person».
Wer das sein könnte, haben andere SVP-Stimmen der AZ verraten: Nationalrat Thomas Hurter möchte in einer Ersatzwahl den Ständeratssitz übernehmen.
Das würde heissen: Hurter und Germann lassen sich wiederwählen, aber während der nächsten Legislatur folgt die «Rochade». Die AZ hat eine Reihe Personen aus dem Führungszirkel der SVP mit diesem Fahrplan konfrontiert – und niemand hat protestiert.
Und wenn Hurter Ständerat wird, rutscht die Person in den Nationalrat nach, die hinter ihm auf dem zweiten Listenplatz steht. Wer bringt sich am 1. August in Stellung?
Nur ein Interessent aus der Stadt
Erste Station: Im St. Johann gibt Christoph Blocher eine ausschweifende Geschichts- und Mythenstunde über die Schweiz. Sein neustes Projekt, die Neutralitäts-Initiative, spricht er nicht an: Es geht wenig um die Gegenwart und noch weniger um die Zukunft.
Ein blondes Kind bringt dem Redner Wasser und dem Publikum den Text des Schweizerpsalms. Die fromme Seele ahnt es: Das Land ist in Ordnung an diesem 1. August.
Nach der Rede gibt es draussen programmgemäss «3B»: Bratwurst, Bürli und Bier. Auch für SVP-Stadtrat Daniel Preisig. Ansonsten ist niemand anzutreffen, die man auf der SVP-Shortlist für einen möglichen Nationalratssitz vermuten würde. Auch Hurter und Germann sind nicht da, haben vermutlich ihre eigenen Auftritte. Beide sollen übrigens nicht besonders gut mit Christoph Blocher auskommen, aber heute interessiert anderes.
Bei Preisig ist die grosse Frage schnell abgehakt: Nein, eine Nationalratskandidatur komme für ihn nicht in Frage. Das meint er ernst, erst beim nächsten Satz lacht er: «Ich bin zu jung!» Er werde noch etwas in der Exekutive bleiben. Er sagt «Exekutive» und nicht «Stadtrat»: Dass er irgendwann Regierungsrat werden will, ist auch nicht wirklich ein Geheimnis.
Aus Sicht der städtischen SVP gibt es einen anderen Wunschkandidaten für das Nationalratsticket: Thomas Stamm, Mitglied des kantonalen Vorstands, Grossstadtrat in Schaffhausen und Druckereiunternehmer in Schleitheim.
Die Stadt-Land-Frage ist bei der SVP nicht erst seit dem Busdepotstreit ein Thema. Stamm hat das perfekte Profil, um den Riss zwischen rural und urban zu kitten, was er bezüglich Busdepot auch versuchte. Doch Stamm feiert den 1. August anderswo und sagt am Telefon: «Nein», der Nationalrat sei für ihn kein Thema.
Die Liste wird kürzer: Wenn alle nein sagen, wird der nächste SVP-Nationalrat nicht aus der Stadt kommen. 2019 kandidierte Michael Mundt. Würde Thomas Hurter heute zurücktreten, Mundt würde aus dem Stadtparlament direkt in den Nationalrat wechseln. Doch das wird Hurter nicht tun – was auch der Grund war, warum Jungspund Mundt als damals 34-Jähriger überhaupt zur Kandidatur kam.
Für 2023 sagt er als Erster der Angefragten nicht nein. Der Banker ist eine Nachwuchshoffnung der SVP, aber er bleibt realistisch: Ob er sich ins parteiinterne Rennen um den zweiten Listenplatz einbringt, werde er davon abhängig machen, wer sonst noch Interesse habe. Zudem wird Mundt eher als möglicher Nachfolger von Daniel Preisig im Stadtrat gehandelt, falls dieser Regierungsrat würde.
Michael Mundt hat also schlechte Karten. Das Gleiche gilt für den Dörflinger Gemeindepräsidenten Pennti Aellig. 2015, vier Jahre vor Mundt stand er auf der Liste und kam dem SP-Nationalratssitz von Martina Munz gefährlich nahe. Seither haben aber sowohl die SVP als auch Aellig an Rückhalt verloren. Als er 2016 Regierungsrat werden wollte, unterlag er parteiintern gegen Cornelia Stamm Hurter. Er selbst twitterte dieses Jahr: «Mein politischer Einfluss beschränkt sich zunehmend auf die Dorfpolitik.»
«Bern», wird Ueli Maurer wenig später in Neunkirch sagen, «isch uh huere wiit wäg.» Für Mundt und Aellig dürfte das stimmen.
Auf dem Land gibt es eine Favoritin
Vor dem St. Johann ist das Festbankgespräch inzwischen abgeschweift. Jemand erklärt sinngemäss, dass früher alles besser war – sogar die Pro Velo, die damals noch IG Velo hiess und nicht die ganze Stadt regierte.
Überraschend wenige der wichtigsten SVP-Köpfe haben Blocher die Aufwartung gemacht. Aber es gibt mehr als eine Bundesfeier im Kanton.
Zweite Station: In Neunkirch ist das Publikum fast gleich gross wie bei Blocher in Schaffhausen. Die Männerriege kommt fast nicht nach mit Bratwurstgrillieren, und irgendwann entscheidet der Grillmeister: Die Würste, die er für den Ehrentisch reservieren sollte, werden jetzt auch verkauft.
Ueli Maurers Rede steckt weniger in einer mythischen Vergangenheit fest als die Blochers. Baute dieser konsequent auf dem Bundesbrief auf, ist bei Maurer immerhin die Verfassung von 1848 die Basis der Schweiz – Fortschritt. Besser als Blocher versteht es Maurer dagegen, sich bei den Corona-Skeptikern und Klimakrise-Zweiflerinnen beliebt zu machen.
Im Publikum: erneut kaum jemand, der für den zweiten SVP-Listenplatz in Frage käme. Daniel Preisig gönnt sich noch eine zweite Bundesfeier, aber er dürfte seine Meinung nicht innerhalb von einer Stunde geändert haben. Die Wilchinger Gemeindepräsidentin und Bauernsekretärin Virginia Stoll hat an Maurers Ehrentisch Platz gefunden, aber sie winkt ab: Sie sei «schon etwas zu reif» und würde sich eine Jüngere in Bundesbern wünschen. Ihre klare Favoritin: Parteipräsidentin Andrea Müller.
Diese spricht am späten Nachmittag in Siblingen, die dritte Station der Suche. Dort ist auch ein weiterer anzutreffen, der mehrmals als Anwärter genannt wurde: Andreas Gnädinger.
Es bleiben zwei
Zwischenstand: Die Liste bleibt überschaubar kurz. Mundt und Aellig können wir streichen, falls Gnädiger oder Müller in den Ring steigen. Die beiden Regierungsmitglieder Cornelia Stamm Hurter und Dino Tamagni kommen eher nicht in Frage: Sie sind noch nicht lange genug im Amt, um an einen Absprung zu denken. Auch für die Steiner Stadpräsidentin Corinne Uhlmann käme eine Kandidatur für Bundesbern dem Signal gleich, dem Städtli den Rücken kehren zu wollen – und auf Anfrage sagt sie ohne zu zögern: nein. Sie sei auch «zu alt», was durchaus eine bemerkenswerte Haltung ist: Sie wäre am Wahltag 57.
Jedenfalls ist die Altersfrage ein Argument mehr für Andreas Gnädinger (Jahrgang 1976) und Andrea Müller (1971).
Die Parteipräsidentin hat laut Virginia Stoll «frischen Wind» und einen «Richtungswechsel» in die Partei gebracht. Müller ist als Landwirtin und Energieunternehmerin eine Pionierin und bezeichnet sich als «grün-rechts», aber politisch ist der «frische Wind» eine steife Brise. Sie hält in Siblingen eine kürzere und schärfere Rede als Blocher und Maurer, positioniert sich als Hardlinerin.
Stimmt es, dass sie gerne Nationalrätin wäre? «Vorstellen sollte man sich eine Kandidatur immer können», sagt sie zurückhaltend. Aber es reiche nicht, wenn man selber wolle, und sie wisse von «einigen», die Interesse haben. Das darf als sanftes Ja bei vorsichtiger Einschätzung der parteiinternen Chancen verstanden werden. Schaue man sich bei der SVP um, sagt Müller, habe es viele gute Leute. Was sie nicht explizit sagt: Darunter hat es auch welche, die auf mehr politische Erfahrung verweisen können als die Parteipräsidentin selbst.
Ihr Amt als Thaynger Gemeinderätin legte sie Anfang dieses Jahres nach fünf Jahren überraschend nieder, nachdem sie bei der Umsetzung von Coronamassnahmen im Bildungsbereich «nicht alles mitmachen» wollte (AZ vom 20. Januar 2022, epaper.shaz.ch). Kantonsrätin ist Andrea Müller erst seit eineinhalb Jahren.
Bei ihrem möglichen Konkurrenten Andreas Gnädigner kommt das diplomatisch ausgedrückte Ja zu Nationalratsambitionen etwas deutlicher: «Könnte ich mir vorstellen.»
Das ist keine Überraschung. Gegen das Versprechen, nicht namentlich zitiert zu werden, haben mehrere SVP-Insider der AZ erzählt: Andreas Gnädinger wurde schon im Vorfeld der letzten Wahlen 2019 angefragt. Er habe Interesse gezeigt, aber letztlich abgesagt, als klar wurde, dass Thomas Hurter noch eine Legislatur durchziehen wolle. Mit anderen Worten: Andreas Gnädinger wollte nur antreten, wenn er auch Nationalrat würde.
Jetzt aber ist ein Nachrutschen während der nächsten Amtsperiode mehr als wahrscheinlich. Dazu passt auch, was Gnädinger diplomatisch ausdrückt: «Es kommt auf die Konstellation an.»
Vorboten des internen Wahlkampfs
Andreas Gnädinger oder Andrea Müller? Wenn beide wollen, entscheidet eine Delegiertenversammlung, die in der ersten Hälfte des Jahres 2023 tagen dürfte. Die Stimmen aus der Stadt könnten entscheidend werden und Gnädinger auf den Schild heben. Das Argument, Müller habe «zu wenig Erfahrung», hat die AZ in der Stadt gehört. Und dass sie vor zwei Jahren die Wahl zur Thaynger Gemeindepräsidentin (gegen Marcel Fringer, FDP) nicht schaffte, hat die Partei nicht vergessen. Alle angefragten SVP-Frauen sagen ausserdem, das Geschlecht sei in ihrer Partei nicht entscheidend. Die SVP hat eine Regierungsrätin, eine Parteipräsidentin, eine Steiner Stadtpräsidentin und eine Wilchinger Gemeindepräsidentin – das reicht für die SVP, um der SP bei jeder Gelegenheit den Spiegel vorzuhalten.
Andreas Gnädinger gilt als politisch moderat, und mangelnde Erfahrung wird ihm niemand ankreiden. Von 2005 bis 2020 sass er 15 Jahre lang im Kantonsrat, davon drei Jahre als Fraktionspräsident. Dieses Jahr wurde er in den Vorstand der kantonalen SVP aufgenommen und trat in Siblingen ein neues Amt als Finanzreferent an.
Stand heute hat Andreas Gnädinger die besten Karten. Was nicht heisst, dass ihm Andrea Müller nicht gefährlich werden könnte.
In Siblingen sitzen sich die beiden am mit «Ehrengäste» beschrifteten Tisch gegenüber, von Konkurrenz ist nichts zu spüren. Beide sagen, für das Nominationsverfahren stehe noch nicht einmal der zeitliche Fahrplan. Und doch wirft es erste Schatten voraus.
Wenn es knapp wird, könnte relevant sein, aus welchen Kantonsteilen wieviele Delegiertenstimmen kommen. Und auf dem Land bringt man sich in Stellung: Sowohl im Reiat, Andrea Müllers Heimat, als auch in Siblingen, wo Andreas Gnädinger auf eine Nomination hofft, sind kürzlich «Kreisparteien» gegründet worden. Gnädinger ist neuerdings Vorstandsmitglied im Klettgau. Der Kampf um den Nationalratssitz hat hinter den Kulissen längst begonnen.