Wirtschaft Archive - Schaffhauser AZ https://www.shaz.ch/category/wirtschaft/ Die lokale Wochenzeitung Wed, 02 Jul 2025 15:43:13 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.4.7 https://www.shaz.ch/wp-content/uploads/2018/11/cropped-AZ_logo_kompakt.icon_-1-32x32.jpg Wirtschaft Archive - Schaffhauser AZ https://www.shaz.ch/category/wirtschaft/ 32 32 Die Winzer und der heilige Gral https://www.shaz.ch/2025/06/30/die-winzer-und-der-heilige-gral/ Mon, 30 Jun 2025 10:09:56 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9584 Alkoholfreier Wein wird zum Hoffnungsträger einer rückläufigen Branche. Und in Schaffhausen? Eine Spurensuche. Kürzlich bei einem Schaffhauser Weinhändler: Eine Freundin von mir trinkt keinen Alkohol, zu ihrem diesjährigen Geburtstag war ein edler, alkoholfreier Wein darum die Idee, die mich retten sollte. Auf der Suche nach dem perfekten Geschenk stand ich also in diesem kleinen Weingeschäft […]

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Alkoholfreier Wein wird zum Hoffnungsträger einer rückläufigen Branche. Und in Schaffhausen? Eine Spurensuche.

Kürzlich bei einem Schaffhauser Weinhändler: Eine Freundin von mir trinkt keinen Alkohol, zu ihrem diesjährigen Geburtstag war ein edler, alkoholfreier Wein darum die Idee, die mich retten sollte. Auf der Suche nach dem perfekten Geschenk stand ich also in diesem kleinen Weingeschäft und schaute mich um. Schon strahlte mir der Verkäufer entgegen und führte mich direkt zum alkoholfreien Bereich: Ein breites Regal war da, vom Holzboden bis unter die Decke gefüllt mit Weinflaschen. Tropfen aus Südfrankreich und aus Deutschland. Allesamt mit null Prozent. Doch kein einziger aus der Region.
Kürzlich bei einem Schaffhauser Weinhändler: Eine Freundin von mir trinkt keinen Alkohol, zu ihrem diesjährigen Geburtstag war ein edler, alkoholfreier Wein darum die Idee, die mich retten sollte. Auf der Suche nach dem perfekten Geschenk stand ich also in diesem kleinen Weingeschäft und schaute mich um. Schon strahlte mir der Verkäufer entgegen und führte mich direkt zum alkoholfreien Bereich: Ein breites Regal war da, vom Holzboden bis unter die Decke gefüllt mit Weinflaschen. Tropfen aus Südfrankreich und aus Deutschland. Allesamt mit null Prozent. Doch kein einziger aus der Region.

Erst diesen Frühling meldete das Bundesamt für Landwirtschaft (BLV): «Im Jahr 2024 ist der Weinkonsum gegenüber dem Vorjahr um knapp acht Prozent und damit signifikant gesunken.» Das Amt sprach gar von einem «besorgniserregenden Trend». Bis zu dem Zeitpunkt hatte sich der Bund eher Gedanken um unsere Leber gemacht. Nun bemängelt er, dass wir nicht mehr genug bechern?

Die Sorgen gelten natürlich etwas anderem: dem Überleben der Weinbranche. Es sind Sorgen, die auch die Weinbauern in Schaffhausen teilen. Auch hier verzeichnet man teils holprige Verkaufszahlen. Und diese zwingen die Winzer:innen zum Nachdenken: Wenn die Menschen ihr Interesse am Zechen verlieren, suchen sie ihr Glück dann im alkoholfreien Wein?

Von Hundert auf Null

Die AZ hat in Schaffhauser Rebbergen und Kellereien nach den Gründen für die aktuellen Abwärtstrends gesucht – und nach dem Geheimnis der null Prozent.

Schauen wir aber zuerst kurz ins Glas: Die Produktion von alkoholfreiem Wein ist gesamtschweizerisch noch immer ein Nischengeschäft, auch wenn es auf dem Papier nach der idealen Lösung klingt. Denn er ist mehr als nur Traubensaft: Wein, für den sich keine Abnehmer:innen finden, lässt sich mit einem speziellen Verfahren in die alkoholfreie Variante umwandeln. Doch ganz so simpel – wie so oft im Leben – ist es nicht. Das Entalkoholisierungsverfahren entzieht dem gegärten Wein nicht nur seine Prozente bis in die letzten Dezimalstellen, sondern auch Aromastoffe und vor allem Flüssigkeit, nämlich bis zu 20 Prozent des Ursprungvolumens.

Für Stephan Keller, Geschäftsführer der Rötiberg-Kellerei in Wilchingen, sind das bereits genügend Argumente, die gegen eine alkoholfreie Produktion sprechen. «Was ich bisher in der Branche und von Kunden herausgehört habe, ist, dass die Begeisterung noch fehlt.» Weil man durch das Entziehen des Alkohols die schönen fruchtigen Aromen verliere, könne man den alkoholfreien Wein nicht mit dem gleichen Genusserlebnis trinken. Eine weitere Krux daran: «Viele Konsumenten kaufen einen solchen Wein im Glauben, er sei günstiger als herkömmlicher Wein, immerhin enthält er keinen Alkohol. Dabei ist das Gegenteil der Fall», sagt Keller. «Die Fragen für uns Produzenten lauten also: Ist der Konsument bereit, diesen Aufpreis zu bezahlen? Und wie kann man einen alkoholfreien Wein zu den Bedingungen herstellen, damit die ganze Aromatik erhalten bleibt?»

Es sind Fragen, an denen viele Produzent:innen noch immer herumrätseln – oder an die sie sich gar nicht erst herantrauen.

Die GVS Weinkellerei sagt auf Anfrage: «Alkoholfreie Weine werden wir kurz- und mittelfristig wohl nicht im Haus produzieren.» Und bisher habe es auch keine Produzent:innen gegeben, die hier in der Region hätten liefern können. Dennoch stellt auch Bereichsleiterin Ursula Beutler fest, dass die Nachfrage gesamthaft zwar noch klein sei, aber spürbar steige. Man sei daher «sehr daran interessiert, diese Entwicklung weiterzuverfolgen».

Durch die Membran

Trotz aller Hindernisse: Auch hier suchen die ersten Winzer im Bodensatz nach Hinweisen, wie es mit der Weinbranche weitergehen könnte. Christoph Stoll vom Weingut Stoll in Osterfingen ist der erste Produzent, der die Flaschen mit seinem eigenen «null.zéro.nullo»-Wein befüllt und für den Vertrieb bereitgestellt hat – gemeinsam mit seinem Mitarbeiter, dem Jungwinzer Jonas Wehner.

Während des Besuchs führen die beiden aus dem Dorf heraus, hoch in die Rebberge. Knapp fünfeinhalb Hektaren gehören Stoll, «das ist etwa ein Siebtel der gesamten Fläche in Osterfingen», ergänzt er, und deutet mit einer Handbewegung auf die weitläufigen Felder. Für ihn – wie für so viele Winzer:innen – ist der Weinanbau ein Generationenprojekt, eine Erbschaft. «Die ältesten Rebstöcke stammen aus 1974», bemerkt er stolz.

Stoll und vor allem sein Mitarbeiter Wehner erkennen, welche Nische sich mit alkoholfreiem Wein bedienen lässt. «Vor ein, zwei Jahren hat überhaupt niemand in der Schweiz alkoholfreien Wein angeboten. Selbst heute kann man die Schweizer Hersteller an einer Hand abzählen», so Wehner. Auch das zweiköpfige Team wusste um die Schwierigkeit, den ursprünglichen Geschmack des Weines zu erhalten, Stoll wollte darum anfangs noch auf die Bremse treten. Doch Wehner kennt den Markt im benachbarten Deutschland und hat Kontakte zu Weinbauern, die den Sprung bereits gewagt haben und mit Erfolg belohnt wurden. Er setzt zu einer technischen Erklärung an: «In der grossen Produktion hat sich ein Destillationsverfahren unter Vakuum durchgesetzt, eine Methode, bei der Alkohol relativ schonend verdampft wird.»

Die beiden experimentieren derzeit mit einer weniger gängigen Methode, der sogenannten osmotischen Destillation, bei der nicht mit Hitze gearbeitet wird, sondern mit einer Membran. «Diese Methode eignet sich besser für unsere kleineren Mengen an Wein.» Eine eigene Filteranlage besitzen sie noch nicht – das Ganze funktioniert als Leihgabe von befreundeten Winzern.

Im ersten Versuch wurden knapp 160 Liter des neuen Weins produziert, aktuell, im zweiten Versuch, bereits 600 Liter. «Die Gastronomie hat schon länger Interesse, aber gerade bei Privatkunden merken wir: Das Bedürfnis fällt ihnen oft erst auf, wenn man den neuen Wein anbietet», so Stoll. «Ich war tatsächlich auch erstaunt, wie viele Leute positiv darauf reagierten und den Wein mitnahmen.»

Die Sache mit dem Aroma

Stoll und Wehner tüfteln also auf einem Gebiet, auf das sich viele ihrer Branchenkolleg:innen noch nicht gewagt haben. Ob sich der ganze Aufwand auszahlen wird, bleibt abzuwarten.

Ein paar Gemeinden weiter hat indes ein deutlich grösserer Player das Feld betreten, das dürften aufmerksame Anwohner:innen bemerkt haben: Auf dem Gelände des Weingiganten Rimuss-Strada in Hallau entsteht ein neuer Anbau, speziell für das Entalkoholisieren und die Aromagewinnung von Wein. Letzteres kann der Betrieb im Lizenzmodell nutzen. In den nächsten Jahren sind ihm damit die Exklusivrechte an dem «mutmasslich besten» Verfahren für alkoholfreien Wein sicher – so nennt es der Rimuss-Strada-Geschäftsführer Micha Davaz überzeugt. Bereits im Frühjahr 2026 soll die erste Ladung des neuen Tropfens bereitstehen.

Zwar gibt es die Rimuss-Party-Linie noch immer, das ist seit eh und je der Traubensaft, der mit Kohlensäure ergänzt wird. Einige seiner neueren Rimuss-Produkte entstehen allerdings bereits auf Basis von entalkoholisiertem Wein. Diese Schaumweine sind die trockeneren, erwachsenen Geschwister des Partysekts, bisher musste dafür auf externe Lieferanten zurückgegriffen werden. «Eine solche Entalkoholisierungsanlage finanzieren wir nicht einfach im Glauben daran, dass der Wein sofort durch die Decke geht. Die Rimuss-Produkte liefern uns eine Grundauslastung für die Anlage. Jetzt kaufen wir den entalkoholisierten Wein also noch ein, in Zukunft können wir diesen Teil aber selbst abdecken.»

Auch wenn die Weinbranche in der Deutschschweiz vergleichsweise gut dastehe, sei der Wandel sehr real, der Druck spürbar. Rimuss-Strada arbeitet, allein in der Klettgau-Region, mit über 100 Weinbauern zusammen, die dem Hersteller ihre Trauben liefern. Dieser Verantwortung sei man sich bewusst. «Und wir wollen Lösungen haben, um weiterhin ein Abnehmer dieser Trauben bleiben zu können.»

Auf der Suche nach dem Gral

Mit seiner patentierten Anlage, die den Alkohol nicht nur entzieht, sondern eine anschliessende «Aromarückgewinnung» beinhaltet, glaubt Rimuss-Strada nun eine Lösung gefunden zu haben. Quasi den heiligen Gral des alkoholfreien Weins also.

«Es gibt solche, die der Meinung sind, alkoholfreier Wein sei nicht mehr richtiger Wein, während andere darin eine grosse Chance sehen», so Davaz. «Ein deutscher Experte sagte vor Kurzem sogar, er sei überzeugt davon, dass in zehn Jahren jedes Weingut eine alkoholfreie Alternative im Angebot haben wird. Ob das tatsächlich so kommt, weiss ich nicht – aber es gibt eine Richtung an.»

Der alkoholfreie Wein, den ich meiner Freundin in die Hand drückte, kommt aus Süddeutschland, aus der Nähe von Frankfurt am Main. So wie die Segel gesetzt sind, könnte sich das schon bis zu ihrem nächsten Geburtstag ändern – dann kann ich ihr einen Wein aus der Schaffhauser Weinregion mitbringen.

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Wie elitär ist Marktgemüse? https://www.shaz.ch/2025/05/26/wie-elitaer-ist-marktgemuese/ Mon, 26 May 2025 15:40:49 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9433 Auf dem Wochenmarkt einkaufen ist ein Luxus, den sich nur wenige leisten. Aber ist das Gemüse da wirklich teurer als bei Migros und Coop? Wir haben getestet – und wurden überrascht. Über Lebensmittelpreise lässt sich hervorragend diskutieren – niemand hat keine Meinung dazu. Aktuell gibt es auch gute Gründe dafür: Der Landesindex der Konsumentenpreise steigt […]

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Auf dem Wochenmarkt einkaufen ist ein Luxus, den sich nur wenige leisten. Aber ist das Gemüse da wirklich teurer als bei Migros und Coop? Wir haben getestet – und wurden überrascht.

Über Lebensmittelpreise lässt sich hervorragend diskutieren – niemand hat keine Meinung dazu. Aktuell gibt es auch gute Gründe dafür: Der Landesindex der Konsumentenpreise steigt weiter und die Eier beispielsweise wurden vor Ostern so knapp, dass die Schweiz mehr importierte, um einen Preisanstieg wie in den USA zu verhindern.

Wie und wo kaufen wir also ein und warum? Je nachdem, mit wem man spricht, ist Gemüse vom Markt entweder teurer als beim Grossverteiler – aber auch besser – oder aber es ist nicht teurer, weil ja keine Zwischenhändler bezahlt werden müssen. Beobachtbarer Fakt ist: Der Wochenmarkt zieht mehrheitlich Menschen aus privilegierten Schichten an. Ist der Preis der Grund dafür?

Wir wollten es genauer wissen und haben eine grosse Einkaufstour gestartet: Auf dem Wochenmarkt sowie bei den Grossverteilern Migros und Coop.

Auch den Unverpackt-­Laden PeperOhni, den Gemüse-Stand Bogos-Markt am Fronwagplatz und das Bio-Geschäft Viva Natura an der Vorstadt haben wir besucht. Sie laufen aber ausser Konkurrenz, weil sie entweder nicht alle Produkte führen, die wir vergleichen wollen – oder dann Spezialitäten anbieten, deren Preise mit dem üblichen Produkt zu vergleichen unfair wäre.

Wir haben die eine oder andere Überraschung erlebt – und spannende Gespräche geführt, gerade mit Verkäufer:innen auf dem Markt. Einige waren unserer Methode gegenüber skeptisch. «Testen Sie denn auch die Qualität?», fragte eine Biolandwirtin. «Essen Sie mal dieses Rüebli, das ist einfach etwas anderes!» Wir nahmen die uns herausfordernd entgegengestreckte (vorzügliche) Karotte entgegen, den thematischen Input mussten wir hingegen ablehnen. Herauszufinden, wo das Gemüse am besten ist, würde den Rahmen dieses Tests sprengen und ist darüber hinaus hoch subjektiv. (Treue Leser:innen erinnern sich vielleicht, dass wir für Erdbeeren und weissen Spargel auch schon den Geschmackstest gemacht haben, Sie finden die entsprechenden Ausgaben vom 17. Juni 2021 und 28. Mai 2022 in unserem Archiv.)

Wir schrieben uns aber hinter die Ohren, möglichst Gleiches mit Gleichem zu vergleichen. Für unseren Preisvergleich schlüpfen wir in die Rolle eines preisbewussten, aber prinzipientreuen Kunden und setzen uns diese Regeln:

  • Wir vergleichen Bio mit Bio und herkömmliche Landwirtschaft (IP Suisse oder Suisse Garantie) mit herkömmlicher Landwirtschaft. Wo immer möglich, kaufen wir regional ein.
  • Nur Produkte aus der Schweiz kommen in den Test – was schwieriger umzusetzen ist, als wir dachten.
  • Ist ein Produkt nicht verfügbar, setzen wir den Preis der Konkurrenz ein, die das Produkt hat. Zum Beispiel hat Migros gerade keine Biogurken aus der Schweiz, also verwenden wir den Coop-Preis. Beide Grossverteiler haben keine einheimischen Bio-Zwiebeln, also haben wir für die Berechnung den gleichen Preis wie beim Wochenmarkt eingesetzt.
  • Wir vergleichen nicht die verschiedenen Marktstände oder die unterschiedlichen Rüebli in der Migros miteinander, sondern suchen jeweils das günstigste Produkt, das den genannten Anforderungen entspricht.
  • Aktionen ignorieren wir. Sie hätten beim Gemüsekorb nur je 70 Rappen zu Gunsten von Migros und Coop ausgemacht.

Mit diesen Regeln stellen wir einen Korb voller Gemüse wie im Bild zusammen. Er enthält: je ein Kilogramm Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten, Fenchel und Lauch, je einen Bund Radieschen und Bundzwiebeln, eine grosse Gurke, einen Kopfsalat und ein Kilo Äpfel (Gala, Topaz oder eine vergleichbare Sorte). Weil die Eier­preise gerade in aller Munde sind, legen wir noch sechs Eier dazu.

Die Spargeln, die Sie im Foto unseres Korbs sehen, gehören da nicht hinein. Spargeln – wie auch Erdbeeren, die wir uns ebenfalls angeschaut haben – sind so teuer, dass sie den Preisvergleich des Gemüskorbes dominieren würden. Deshalb vergleichen wir Spargeln und Erdbeeren separat.

Der Trick mit der Zwiebel

Wir sind überrascht, wie gross die Preisspannweite bei manchen Produkten ist – und wie klein bei anderen. Der Bio-Lauch kostet an den Marktständen entweder 6.50 oder 7 Franken pro Kilo – nur einer verlangt 8.20 Franken für den Lauch, den er interessanterweise von einem Produzenten hat, der ihn am eigenen Stand für 7 Franken anbietet. Die teuersten Zwiebeln des Marktes (6.40 Franken) kommen nicht aus der Schweiz und fallen aus dem Test. Die günstigsten gibt es für 3 Franken beim Stand von Bauer Grob, ein Landwirt ohne Bio-Zertifikat. Als wir aber nachfragen, sagt er: Doch, die Zwiebel, das sei sein einziges Bio-Produkt, er schreibe das aber nicht extra an – ein kleiner Trick für Sparsame.

Die Bundzwiebeln und die Radieschen werden pro Bund verkauft und stellen uns vor ein Problem: Der Preis ist fast überall gleich, aber die Grösse variiert. Bei den Radieschen ist der Unterschied so gross, dass wir den Preis auf ein Normgewicht umrechnen müssen, wir nehmen den grosszügigen Bund vom Ruppenhof für drei Franken als Messlatte. Bei den Bundzwiebeln sind die Unterschiede kleiner und wir bleiben beim Bundpreis ohne Anpassung – möchten aber den schönsten und grössten Bundzwiebelbund lobend erwähnen, den es für 3.60 Franken bei Viva Natura gibt. Für Gurkenpreise letztlich schaffen wir das Mass der Schaffhauser Markt-Normgurke: 400 Gramm.

So entsteht unser Testergebnis. Der oben geschilderte Gemüsekorb inklusive sechs Eier kostet in Bio-Qualität:

  • auf dem Markt: genau 50 Franken
  • in der Migros: 48.55 Franken
  • im Coop: 50.95 Franken

In beiden Grossverteilern fanden wir nicht ganz alle Produkte in Schweizer Bioqualität und haben regelgemäss den Konkurrenzpreis eingesetzt – oder den besten Preis vom Markt, wenn etwas weder in der Migros noch im Coop zu finden war.

Der gleiche Korb kostet ohne Bio-Knospe, aber möglichst regional:

  • auf dem Markt: 36.80 Franken
  • in der Migros: 27.75 Franken
  • im Coop: 29.30 Franken

Bio ist auf dem Markt günstiger

Überraschend: Die Preise beim Bio-Korb sind fast identisch. Der angeblich teure Markt hält problemlos mit den Grossverteilern mit. Dabei ist der «Trick», die nicht als Bio angeschriebene Biozwiebel bei Bauer Grob zu kaufen, noch nicht einmal berücksichtigt; er würde den Marktkorb um zwei Franken günstiger und zum Testsieger der Bio-Körbe machen. Betrachten wir Bio-Qualität, ist die Mär vom teuren Wochenmarkt also widerlegt.

Es gibt einen anderen Faktor, der je nach Situation für oder gegen den Markt spricht: das Einkaufserlebnis. Viele schätzen es, sich Zeit für einen gemütlichen Spaziergang über den Wochenmarkt zu nehmen. Gleichzeitig ist genau das auch ein Privileg.

Bei herkömmlich – also in IP-Suisse- oder vergleichbarer Qualität – produzierten Lebensmitteln sind hingegen Migros und Coop deutlich günstiger als der Wochenmarkt. Letztlich gibt es ein Produkt, das uns überrascht hat: die Eier. Sie sind auf dem Wochenmarkt sowohl in Bio-Qualität (ab 4.80 Franken für sechs Eier) als auch ohne Knospe (4.20 Franken) günstiger als bei Migros und Coop. (Wir haben mittelgrosse Eier verglichen, sowohl auf dem Markt als auch im Laden gibt es kleine für weniger Geld.) Bei den Grossverteilern finden wir zwar günstigere Eier – aber nur, wenn wir entweder schlechtere Haltungsbedingungen als bei Freiland-Eiern in Kauf nehmen oder Eier aus dem Ausland akzeptieren.

Die saisonalen Luxusprodukte

Spargeln und Erdbeeren: Zwei teure Produkte, bei denen die Preise weit auseinanderklaffen.
Spargeln und Erdbeeren: Zwei teure Produkte, bei denen die Preise weit auseinanderklaffen.

Zu guter Letzt ein Blick auf zwei saisonale Produkte mit hohen Preisen – und grossen Unterschieden: Erdbeeren und Spargeln.

500 Gramm Erdbeeren (Bio / nicht Bio):

  • auf dem Markt: 11.20 Fr. / 6 – 7.50 Fr.
  • in der Migros: 12.40 Fr. / 6.50 Fr.
  • im Coop: 8.50 Fr. / 6.50 Fr.

Die Bio-Preise gehen hier weit auseinander, während die herkömmlichen Erdbeeren preislich überall ähnlich sind. Auch hier sind die Preise auf dem Wochenmarkt sehr konkurrenzfähig. Die Erdbeeren von Eichenberger Obst aus Uhwiesen, von der AZ-Redaktion im Test einst zu den geschmacklich besten gekürt, kosten übrigens 7.50 Franken.

1 Bund grüne Spargeln à 500 Gramm (Bio / nicht Bio):

  • auf dem Markt: 15 Fr. / 9–11 Fr.
  • in der Migros: – / 10.90 Fr.
  • im Coop: – / 12.95 Fr.

Beide Grossverteiler führen zwar Bio-Spargeln, sogar günstiger als die aus herkömmlicher Landwirtschaft – aber sie kommen nicht aus der Schweiz. Schweizer Bio-Spargeln finden wir dafür noch bei Viva Natura für 14.95 Franken und sehr schöne nicht-biologische beim Bogos-Markt und bei PeperOhni für 10 beziehungsweise 11 Franken. Und der Geheimtipp zum Schluss: Auf dem Markt finden wir am kleinen Spargelstand der Familie ­Vetterli-Luttiger violette Spargeln für 8 Franken pro Bund, und grüne gibt es, wenn man nicht die allerschönsten haben muss und mit Kilogramm-Bünden zufrieden ist, sogar für umgerechnet 7 Franken auf 500 Gramm.

Die Spargeln unterstreichen also, was Bio-Gemüsekorb, Eier und Erdbeeren schon gezeigt haben: Der Schaffhauser Wochenmarkt muss sich mit seinen Preisen überhaupt nicht verstecken.

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Der nächste US-Riese ist da https://www.shaz.ch/2025/02/13/der-naechste-us-riese-ist-da/ Thu, 13 Feb 2025 12:40:11 +0000 https://www.shaz.ch/?p=9178 Der Autozulieferer Aptiv verlegt seinen Hauptsitz an den Rhein. Der Grund: Schaffhausen ist billiger als die notorischste Steueroase Europas.

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Der Autozulieferer Aptiv verlegt seinen Hauptsitz an den Rhein. Der Grund: Schaffhausen ist billiger als die notorischste Steueroase Europas.

Es ist ein grosser Coup für den Wirtschaftsstandort Schaffhausen: Der Autozulieferer Aptiv hat auf Anfang Jahr seinen Hauptsitz von der irischen Hauptstadt Dublin an den Rhein verlegt. Der Konzern hat vergangenes Jahr einen Umsatz von rund 20 Milliarden US-Dollar erzielt und beschäftigt weltweit rund 160 000 Menschen.

Seinen Umzug hat der Konzern nicht an die grosse Glocke gehängt, sondern gab ihn lediglich Ende vergangenen Jahres gegenüber seinen Aktionär:innen bekannt. So steht es in Unterlagen, die das Unternehmen bei der US-Steuerbehörde SEC eingereicht hat und die der AZ vorliegen. Darin verkündete Aptiv-CEO Kevin Clark, dass der Konzern zwar weiterhin in New Jersey in den Vereinigten Staaten zu Hause sei, aber seinen Steuersitz von Dublin in die Schweiz verlegen werde. Clark schreibt weiter, dass die Aptiv Technologies AG, die seit Juni 2023 in Schaffhausen domiziliert ist, «beträchtliche Erträge» durch das Verwalten der Patente von Aptiv erwirtschaftet. Aptiv hat seine Büros an der Spitalstrasse und beschäftigt gemäss Angaben von vergangenem Jahr rund 25 Angestellte in Schaffhausen.

Die Verlegung des Hauptsitzes ist gleich aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens, weil mit Aptiv nun ein weiterer US-Konzern seinen Hauptsitz in Schaffhausen hat; US-amerikanische Firmen wie Tyco, Garmin oder Groupon zahlen heute bereits mehr als 16 Prozent aller Steuereinnahmen im Kanton. Und zweitens, weil der Vorgang unterstreicht, dass Schaffhausen als Steuerparadies im internationalen Wettbewerb ganz vorne mitmischt.

Attraktiver als Irland

Für lange Zeit galt die irische Hauptstadt als die europäische Steueroase schlechthin. In Schaffhausen verglich der Regierungsrat den hiesigen Wirtschaftsstandort in der Vergangenheit gerne mit Irland – um zu zeigen, dass man weiter an Attraktivität gewinnen müsse. Insbesondere US-amerikanische Techkonzerne fühlten sich wohl an der Ostküste Irlands: Apple, Google, Intel, Meta, Amazon – sie alle haben ihren Hauptsitz in Dublin, zum Teil seit Jahrzehnten. Dublin lockte mit rekordtiefen Steuersätzen und lukrativen Steuergeschenken. Fast ein Drittel aller Steuereinnahmen von Irland gehen auf eine Handvoll US-Konzerne zurück. 

Der Fall von Apple ist dabei besonderes notorisch: 2016 entschied die EU-Kommission, dass Apple insgesamt 13 Milliarden (plus Zinsen) nachzahlen müsse. Grund dafür war ein Steuerdeal mit den irischen Behörden, die den Techkonzern für zehn Jahre faktisch komplett von allen Steuern entlastete. Im vergangenen September bestätigte der Europäische Gerichtshof den Entscheid der EU-Kommission nach einem langen Rechtsstreit.

Aptiv verlegte seinen Hauptsitz erst vor sechs Jahren aus den Vereinigten Staaten nach Dublin; nun ist Schaffhausen offensichtlich zur noch attraktiveren Option geworden. Auf seiner Website schreibt das Unternehmen: «Aptiv hat ein neues Zuhause in Schaffhausen, Schweiz, gefunden – eine Stadt, die unser Engagement für Innovation, Nachhaltigkeit, Vielfalt und Integration widerspiegelt.» Die Gründe hinter dem Umzug dürften allerdings handfester sein. In den Unterlagen der US-Börsenaufsicht zählt der Aptiv-CEO die Vorteile der Schweiz auf. Kurz: es geht um Steuererleichterungen und «verstärkte Anreize durch den Kanton Schaffhausen».

Er bezieht sich dabei auf ein millionenschweres Steuergeschenk, über das die AZ im August 2024 als erstes Medium berichtete. Gemäss dem Jahresbericht des Unternehmens für das Jahr 2023 erhielt es vom Kanton Schaffhausen eine Steuererleichterung von schätzungsweise 330 Millionen Franken für den Zeitraum von zehn Jahren. Zudem zügelte Aptiv mindestens 950 Patente sowie rund 50 Markennamen nach Schaffhausen, was einen weiteren Steuervorteil von schätzungsweise 1,8 Milliarden Franken bedeutete (AZ vom 15. August 2024). 

Eigentlich hätte die Einführung der OECD-Mindeststeuer, welcher die Schweizer Stimmbevölkerung im Juni 2023 zugestimmt hat, genau solche Steuergeschenke verhindern sollen. Doch die Schweiz hat – im Gegensatz zur EU und somit Irland – einen Teil der Steuerreform nie umgesetzt, nämlich die internationale Ergänzungssteuer. Weil auch die Vereinigten Staaten diese Steuer nicht umgesetzt haben, so schrieb die AZ damals, führe das dazu, dass Schaffhausen trotz Mindeststeuer weiterhin sehr attraktiv für US-Konzerne bleiben werde, die hier ihre Beteiligung an anderen Unternehmen steuergünstig parkieren wollen. 

Die Unterlagen der US-Steuerbehörden bestätigen nun diese Interpretation. Aptiv schreibt darin, dass die Schweiz ein stabiles und unternehmensfreundliches Umfeld biete, «was angesichts des Risikos, dass die Vorschriften der Europäischen Union in Bereichen wie Steuern (einschliesslich der Umsetzung der zweiten Säule der OECD-Steuerreform) […] restriktiver werden, besonders vorteilhaft sein dürfte». 

Mit anderen Worten: Aptiv geht davon aus, dass sich hier künftig mehr Steuern sparen lassen als in Irland. 

Weil mit Donald Trump nun ein Präsident an der Macht ist, der sich dezidiert gegen das internationale Steuerabkommen positioniert – Trump hat am ersten Tag ein Dekret erlassen, welches das Steuerabkommen für nichtig erklärt – und Ländern, welche die internationalen Ergänzungssteuern auf US-Firmen anwenden wollen, mit Vergeltungsmassnahmen droht, dürfte sich an dieser Situation so schnell auch nichts ändern. 

Das hat man auch auf der irischen Insel registriert. In der irischen Wirtschaftswochenzeitung Business Post zieht ein Wirtschaftsanwalt als Reaktion auf den Umzug von Aptiv in die Schweiz ein ernüchterndes Fazit. Irland bleibe zwar attraktiv, aber «unsere niedrigen Unternehmenssteuern sind nicht mehr der entscheidende Faktor, der er einmal war».

Derweil wird das Klima für Konzerne im Steuerparadies Schaffhausen immer gemütlicher.

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Martin Ebner – Der Profi https://www.shaz.ch/2024/11/13/martin-ebner-der-profi/ Wed, 13 Nov 2024 06:00:00 +0000 https://www.shaz.ch/?p=8964 Martin Ebner – Börsenakrobat, «Ritter des Shareholder Value» und Freund von Christoph Blocher – kauft die Sparte Maschinenbau von Georg Fischer. Der Konzern wird radikal umgebaut. Die logische Entwicklung in einer Ära, die Martin Ebner bestimmte. «Mit einem komischen Gefühl stellte ich fest, dass man mit der Bewirtschaftung seiner Finanzen viel mehr verdienen kann als […]

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Martin Ebner – Börsenakrobat, «Ritter des Shareholder Value» und Freund von Christoph Blocher – kauft die Sparte Maschinenbau von Georg Fischer. Der Konzern wird radikal umgebaut. Die logische Entwicklung in einer Ära, die Martin Ebner bestimmte.

«Mit einem komischen Gefühl stellte ich fest, dass man mit der Bewirtschaftung seiner Finanzen viel mehr verdienen kann als mit seriöser handwerklicher oder, in meinem Fall, medizinischer Arbeit.»
– Toni Ebner, Arzt, Ehrenpräsident des FC Freienbach und Bruder von Martin Ebner

Wenn es noch so ist, wie die Wirtschaftsmagazine früher bewundernd schrieben, dann lässt Martin Ebner seine vier Mitarbeiter noch heute jeden Tag um acht Uhr früh zum Appell antreten, damit sie ihm Bericht über die neusten Vorgänge an der Börse erstatten. Sein Büro liegt seit bald dreissig Jahren in einem bunkerartigen Haus aus rotem Sichtbackstein, Metall und schalldichten Fensterfronten, durch einen unterirdischen Gang mit dem Büro im Nachbarbunker verbunden. Durch die Fenster sieht man auf den oberen Zürichsee, und an seinem Ufer liefert sich Freienbach, wo Martin Ebners Büro liegt, mit den Nachbardörfern Wollerau und Feusisberg ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den tiefsten Steuersatz der Schweiz für hohe Einkommen.

Nichts an Martin Ebner strahlt Gemütlichkeit aus, am wenigsten seine eisblauen Augen, die immerzu in Alarmbereitschaft scheinen, wie wahrscheinlich auch diese Woche beim Appell, als es hiess: der Aktienkurs des Schaffhauser Traditionsunternehmens Georg Fischer stieg um knapp 16 Prozent.

Dieser Höhenflug entsprach wohl genau dem, was Martin Ebner erwartet hatte. Schliesslich hatte seine Fünf-Mann-Firma gerade die Georg Fischer um die 3400 Angestellte umfassende Abteilung Maschinenbau erleichtert. Er kaufte sie über seine Beteiligungsgesellschaft Patinex für 630 bis 650 Millionen Franken. Ein recht niedriger Preis für eine Abteilung mit einem Umsatz von 900 Millionen Franken, die im Moment zwar wie die ganze Maschinenbaubranche um Aufträge kämpft, aber stabil dasteht, zumal die letzten Jahre ziemlich rentabel waren.

Ein steigender Aktienkurs von GF bedeutet für Martin Ebner einen steigenden Marktwert einer Firma, und auf steigende Marktwerte zu wetten, die steigende Dividenden ermöglichen, ist die Kraft seiner Karriere. Vielleicht donnerte, wie üblich bei ihm, wenn ein Deal in trockenen Tüchern liegt, Beethovens fünfte Sinfonie durchs Büro.

Es gehört zu den gesellschaftlichen Errungenschaften unser Zeit, dass fünf Leute wie bei Ebners Patinex gigantische Vermögensberge verwalten, die Einfluss über unzählige Firmen und zehntausende Arbeitsplätze ausüben. Aktienpakete mit dem Wert mehrerer Milliarden, die einem einzigen Zweck dienen: mehr Gewinn für die Aktionäre. Eine Einsicht, die Martin Ebner wie kaum ein anderer in der Schweiz beliebt machte. Eine Einsicht auch, die nun das Ende von Georg Fischer als traditionelles Industriekonglomerat beschliesst.

Der Ritter des Shareholder Value
In den Achtziger- und Neunzigerjahren eilte Martin Ebner von Firma zu Firma wie ein Wettsüchtiger zur Pferderennbahn und kaufte riesige Aktienpakete. Alusuisse, Roche, Lonza, ABB, Credit Suisse, Nestlé, Schweizerische Bankgesellschaft (heute UBS) oder die Winterthur-Versicherung – Ebners Torpedos, so schrieb die Bilanz einmal, hätten manche Aushängeschilder der Nation beinahe zum Kentern gebracht.

1985 gründete Ebner seine BZ Bank. Sein Geschäftsmodell bestand darin, sehr grosse Summen in sehr wenige grosse Konzerne zu investieren und das Management als Grossaktionär unter Druck zu setzen: um die Dividenden zu erhöhen oder den Aktienkurs weiter hochzutreiben durch Fusionen, Verkäufe, Entlassungen. Die Angestellten bei seinen Käufen kannte er meist nur aus Bilanzen und Geschäftsbüchern. Das Modell hatte Ebner aus den USA importiert, wo er studiert hatte.

Wo immer Martin Ebner hinkam, warf er einen neuen Begriff ein: Shareholder Value. Seiner Überzeugung nach war das oberste Ziel eines Unternehmens, möglichst hohe Erträge an die Aktionäre auszuschütten. Nachdem er ein grosses Paket der Schweizerischen Bankgesellschaft gekauft hatte, der damals zweitgrössten Bank des Landes, legte er sich mit Nikolaus Senn an, dem Verwaltungsratspräsidenten. Ebner hatte höhere Dividenden gefordert, was Senn ablehnte. «Im Gehabe ist Senn ein Sozialist», sagte Ebner. «Das ist ja offensichtlich. Der war ein reiner Umverteiler.»

«Herr Ebner ist eingleisig», erwiderte Nikolaus Senn. «Er ist zu sehr auf Gewinnmaximierung und Shareholder Value eingefahren. Bei ihm dreht sich das ganze Leben nur darum. Kapital ist nicht nur da, um den höchsten Gewinn hinauszudrücken. Kapital ist dazu da, um Arbeit zu beschaffen, um die Volkswirtschaft als Ganzes weiterzubringen. Das andere ist ein rein egoistisches Vorgehen.»
«Der Markt sagt nun mal, zuoberst setzen wir die Rendite, und alles andere muss sich unterordnen», sagte Ebner.

Das Schweizer Fernsehen bezeichnete ihn als «Ritter des Shareholder Value». Der Neuenburger FDP-Nationalrat Claude Frey beschimpfte ihn als «salaud» – als Sauhund. «Sein Verhalten ist anti-schweizerisch», sagte der FDP-Mann. «Ich wäre gern dabei, wenn man ihn an die Grenze stellt. Aber leider hat er einen Schweizer Pass. Für mich ist er ein Totengräber des Liberalismus.» Ebner selber bezeichnete sich als Nonkonformist.

1999, vierzehn Jahre nach der Gründung der eigenen Bank, besassen Martin und seine Frau Rosmarie Ebner ein Vermögen von fast 5 Milliarden Franken. Ihr Imperium verwaltete über 30 Milliarden Franken.

Das Ende einer Ära bei GF
Als Martin Ebner die Sparte Maschinenbau von Georg Fischer kaufte, schrieb ein Analyst der Zürcher Kantonalbank: «Die langjährigen Wünsche der Investoren nach einer Fokussierung werden nun erfüllt.» Auch bei der NZZ war man angetan. «Endlich kein Konglomerat mehr», hiess es. «Georg Fischer erntet Begeisterung für seine Verkaufspläne.»

Das Management des GF-Konzerns verkauft neben dem Maschinenbau auch die letzte übriggebliebene Giesserei-Abteilung, die vor allem Teile aus Leichtmetall für die kriselnde Automobilindustrie produziert. Noch steht der Käufer nicht fest, aber die Konzernleitung geht von einem ausländischen Interessenten aus.

Die Ära als traditionelles Industriekonglomerat ist vorbei: Szene aus der längst geschlossenen GF-Giesserei im Schaffhauser Mühlental. © GF-Archiv

Georg Fischer will nur noch auf eine einzige Sparte setzen: Rohrleitungen (für den Transport von Flüssigkeiten, insbesondere auch Trinkwasser; aber auch um Heiz- und Kühlsysteme zu betreiben). Der Umsatz dieses Bereichs lag letztes Jahr bei 2,2 Milliarden Franken. Gut halb so viel wie der Umsatz des gesamten Konzerns vor den Verkäufen betrug. Die Pläne des GF-Managements sind ehrgeizig: Sie wollen Marktführer im weltweiten Geschäft in der Flüssigkeitshandhabung werden. Bis zum Jahr 2030 soll der Umsatz auf fünf Milliarden Franken gesteigert werden.

Den ersten Schritt zur Spitze hatte Georg Fischer schon im November 2023 gemacht, als er den finnischen Rohrleitungskonzern Uponor schluckte, einen direkten Konkurrenten mit 3600 Angestellten und einem Umsatz von 1,4 Milliarden Franken. Das Problem war allerdings, dass sich GF mit dem Kauf massiv verschuldete. Zwei Milliarden betrug die Nettoverschuldung per Ende Juni 2024. Und in diesem Moment trat Martin Ebner hervor und sicherte sich die GF-Maschinenbausparte. (Auf dem Papier war die Transaktion etwas komplexer: Sie lief über den Berner Industriekonzern United Grinding Group, der Ebners Beteiligungsfirma Patinex gehört.) Die 3400 Arbeitsplätze im Maschinenbau, davon 1400 in der Schweiz, die von GF in Ebners Imperium verschoben werden, sind laut GF-Management nicht bedroht. CEO Andreas Müller sagte zu den Schaffhauser Nachrichten, GF behalte ihren Hauptsitz in Schaffhausen, wo 1100 Angestellte arbeiten.

Georg Fischer ist nun also ein reiner Rohrleitungskonzern. Er ist kein Mischkonzern mehr, der auf verschiedene Branchen setzt. Eine Entwicklung, die die meisten Industriekonzerne wie ABB, Sulzer oder SIG schon lange hinter sich haben.

«In den Neunzigern, als die Börse wichtiger wurde, kam man von Mischkonzernen ab», sagt der Wirtschaftshistoriker Adrian Knöpfli. «Bis dahin galt: Diversifizierung ist die richtige Strategie. Bei einer Krise war ein Konzern so resistenter. Das war auch volkswirtschaftlich gesehen sinnvoll.» Die Konzerne wurden nun in einzelne Gesellschaften unterteilt, deren Erträge man jederzeit überwachen konnte und, je nach Rentabilität, relativ einfach schliessen oder verkaufen konnte.

«Ich nenne es den Börsenterror»: Wirtschaftshistoriker Adrian Knöpfli hat mehrere Bücher zu Schaffhauser Industriekonzernen geschrieben. Archivbild: Peter Pfister

Die Georg Fischer sei bis jetzt ein traditionell geführtes Unternehmen gewesen, sagt Adrian Knöpfli. «Es ist gut möglich, dass Investoren auf einen Verkauf drängten. Ein börsenkotierter Konzern ist auf Investoren angewiesen, auf Kapital. Und die Investoren verlangen einen return on investment. Ich hatte schon viele Gespräche mit CEOs von grossen Unternehmen, die sagten, sie wären gottenfroh, wenn ihr Unternehmen nicht mehr börsenkotiert wäre. Sie sind einem ständigen Druck ausgesetzt. Ich nenne es den Börsenterror.»

«Das Absurde ist», sagt Adrian Knöpfli weiter, «wenn es einem Unternehmen früher gut ging, stieg der Aktienkurs. Wenn es ihm schlecht ging, sank der Aktienkurs. Heute, extrem ausgedrückt, macht eine Firma 15 Prozent Gewinn in einem Quartal, aber die Analysten erwarteten 25 Prozent, und dann sinkt der Aktienkurs. Der Kurs hat sich also von der realen Wirtschaft abgelöst. Alles ist so kurzfristig gedacht. Martin Ebner als Propagandist des Shareholder Value war die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung in der Schweiz.»

Die Zertrümmerung der Alusuisse
Eines seiner gelungensten Kunststücke vollbrachte Martin Ebner beim Industrieunternehmen Alusuisse-Lonza. 1997 wurde Sergio Marchionne neuer CEO des damaligen Schweizer Topkonzerns. Er sagte: «Ich werde alles unternehmen, um den Shareholder-Value zu steigern.»

Sofort biss Martin Ebner an. Er kaufte grosse Aktienpakete. Und er nahm seinen Jugendfreund und Geschäftspartner mit, Christoph Wolfram Blocher, der seit einigen Jahren eine von Ebners Beteiligungsgesellschaften präsidierte. Dafür kassierte Blocher zwischen 1991 und 1996 total 67 Millionen Franken – Bonuszahlungen von mehr als einer Million pro Sitzung, womit Blocher nun ebenfalls Alusuisse-Grossaktionär wurde. Kurz darauf folgte die Übernahme. Ebner und Blocher wurden Präsident und Vize im Verwaltungsrat. Sie übernahmen einen Konzern, der äusserst gut lief. Allerdings überschwemmten russische Firmen gerade die Märkte mit billigem Rohaluminium. Eine Bedrohung für die Alusuisse.

Ebner und Blocher versicherten, Alusuisse sei «ein langfristiges Engagement». Sofort machten sie sich an die Arbeit. Sie splitteten die Firma in zwei Teile. Auf der einen Seite die Chemiesparte von Lonza. Auf der anderen Seite die Aluminiumverarbeitung von Alusuisse. 1,7 Milliarden Franken Vermögen verschoben sie zur Lonza, dazu Grundstücke in Zürich. Dann leerten sie die Kasse von Alusuisse, indem sie den Aktionären – wozu sie ja gehörten – eine Sonderdividende auszahlten. Zuletzt verkauften sie den Rest nach Kanada. (In den ehemaligen Alusuisse-Fabriken in Sierre, Chippis und Steg ging zwischen 2000 und 2010 die Hälfte aller Arbeitsplätze verloren.) Nach achtzehn Monaten beendeten sie ihre Regentschaft. Aus den Trümmern stiegen sie mit prall gefüllten Taschen. Laut Analysten verdiente Ebner mindestens 404 Millionen Franken und Blocher 89 Millionen.

«Ihre Amtsdauern waren die kürzesten in der Alusuisse-Geschichte», schreibt Adrian Knöpfli in der Firmengeschichte, «aber in dieser kurzen Zeit bewirkten sie das Ende der 112-jährigen Geschichte eines grossen Schweizer Industriekonzerns.» Zwei Jahre, nachdem er mit seinem Freund Ebner eine Schweizer Traditionsfirma zerlegt und ins Ausland verkauft hatte, wurde Blocher Bundesrat.

Absturz und Auferstehung
Die Börsenkrise von 2001 traf Martin Ebner hart. «Ich habe zu wenig diversifiziert», erklärte er im Fernsehen. Das war eine massive Untertreibung. Seine Strategie als Finanzakrobat bestand genau darin, halsbrecherische Risiken einzugehen, indem er alles auf eine Karte setzte. Während des Börsenaufschwungs ging die Spekulation auf. Aber nun, beim Crash von 2001, verwandelten sich die einstigen Traumrenditen in schwarze Löcher. Ebners Schulden wuchsen auf 7 Milliarden Franken. Und in den Abgrund riss er Zehntausende, denen er das «Aktiensparen», wie er es nannte, verkauft hatte; Kleinanleger, die seine Maxime, das «Recht auf Rendite», gefeiert hatten und nun, wegen der Klumpenrisiko-Strategie, sehr viel Geld verloren.

Ebner konnte sich retten. Die Banken verzichteten auf Forderungen von mehreren hundert Millionen Franken. Und sein Freund Christoph Blocher half ihm mit einem Privatdarlehen von 150 bis 200 Millionen Franken aus. Heute besitzt Martin Ebner, inzwischen 79 Jahre alt, laut der Reichstenliste der Bilanz wieder über 3 Milliarden Franken. Er tritt kaum noch in der Öffentlichkeit auf, und wenn, dann nur als generöser Patron seiner Fluggesellschaft Helvetic Airways.

Ebners rechte Hand: Mehrwert mit Georg Fischer
Als wir die Telefonnummer der Zentrale der Beteiligungsgesellschaft Patinex in Freienbach wählen, meldet sich Ralph Stadler, Martin Ebners rechte Hand. Der Jurist arbeitet seit zweiunddreissig Jahren für Ebner.

Ralph Stadler spricht in der «Wir»-Form, als wir ihn auf die märchenhafte Auferstehung seines Chefs ansprechen. «Wir haben dasselbe Konzept wie vor dreissig Jahren», sagt er. «Unsere Beteiligungen entwickelten sich sehr gut, und wir gehen davon aus, dass wir mit der Georg Fischer weiterhin gut fahren und entsprechend Mehrwert schaffen.» Die Sparte Maschinenbau von GF habe darunter gelitten, dass sie Teil eines Konglomerats gewesen sei, und Konglomerate seien nicht besonders sinnvoll.

«Welche Rendite erwarten Sie?»

«Das können wir nicht sagen. Wir müssen nicht auf Börsenkurse oder Quartalsergebnisse schauen. Wir haben eine langfristige Entwicklung im Auge.»

«Langfristig: Das ist kein Wort, das unser Gedächtnis in Verbindung mit dem Namen Martin Ebner gespeichert hat.» Den Begriff Shareholder Value definierte die NZZ als «radikale und rücksichtslose Steigerung des kurzfristigen Gewinns».

«Da haben Sie ein falsches Bild von Herrn Ebner», sagt Ralph Stadler. «Ein Kernanliegen von Herrn Ebner ist Langfristigkeit. In Aktien zu investieren, bedeutet, langfristig zu handeln.»

Ein GF-Arbeiter in der ehemaligen Giesserei. © AZ-Archiv

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Die Männer und das Holz https://www.shaz.ch/2024/10/10/die-maenner-und-das-holz/ Thu, 10 Oct 2024 11:31:18 +0000 https://www.shaz.ch/?p=8867 Ein paar Hippies eröffneten eine Holzwerkstatt auf dem Land namens Rote Fabrik, um den Chefs zu entkommen. Im Dorf schloss man Wetten auf ihren Konkurs ab. Dabei waren sie ihrer Zeit voraus. Heute, nach 35 Jahren, suchen sie nach einer Nachfolge. Christian Bührer rieb sich das rechte Knie, das ihn die über vierzig Jahre als […]

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Ein paar Hippies eröffneten eine Holzwerkstatt auf dem Land namens Rote Fabrik, um den Chefs zu entkommen. Im Dorf schloss man Wetten auf ihren Konkurs ab. Dabei waren sie ihrer Zeit voraus. Heute, nach 35 Jahren, suchen sie nach einer Nachfolge.

Christian Bührer rieb sich das rechte Knie, das ihn die über vierzig Jahre als Zimmermann spüren liess. An diesem warmen Tag Anfang August 2024 sass er in der Rhybadi in Schaffhausen und beobachtete eine Frau, die Schlagzeug spielte und Parolen wie aus einem politischen Manifest sang. «Keine Spekulation mit Land und Wasser!», wiederholte die Frau wieder und wieder auf französisch.

Es war kein Konzert zum Schwelgen. Es war ein Konzert zum Sachen-Kaputt-Machen. Aber sowas ist Christian Bührer, einem kräftig wirkenden Mann, fremd. Erstens ist er zu bescheiden, um einen Aufruhr um seine Person zu veranstalten. Zweitens bevorzugt er es, Dinge zu reparieren.

Nach dem Konzert kam er auf seine Arbeit zu sprechen. Er war nun 65 Jahre alt, und die Zukunft machte ihm Sorgen. Seit einiger Zeit suchten er und seine Arbeitskollegen jemanden, der ihre Werkstatt übernehmen würde. Eine schwierige Sache. Christian Bührer kannte viele Handwerker, die gescheitert waren, ihren Betrieb jemand Jüngerem zu übergeben. Die irgendwann den Schlüssel zum letzten Mal umdrehten und eine tote Halle hinterliessen. «Es wäre schön, wenn unsere Geschichte weitergehen würde», sagte er hoffnungsvoll.

Der Geist der Roten Fabrik

Im Jahr 1989 zogen ein paar junge Männer in eine stillgelegte Fabrik in Neunkirch, um eine Holzwerkstatt zu eröffnen. Das Gebäude war rot gestrichen, und als die Männer während der Arbeit ein Konzert hörten, das ein Radiosender live aus der Roten Fabrik in Zürich übertrug, dem Zentrum der Jugendunruhen, Opernhauskrawalle und Drogenexperimente, nannten sie ihren Betrieb «Rote Fabrik Neunkirch». Sie sprachen von Selbstverwaltung, Gemeinschaft, ökologischer Verantwortung. Beim Feierabendbier schlossen die übrigen Handwerker in Neunkirch Wetten ab: Wann gehen die Hippies pleite? Nächsten Monat oder erst übernächsten?

«Früher belächelte man uns», sagt Chris­tian Bührer, als er durch die Werkstatt schreitet. Ein paar Wochen sind seit dem Konzert vergangen. Regen macht das erste Laub schwer. Als er an seiner Werkbank vorbeikommt, sagt er, dass er endlich einmal aufräumen müsse. Er sagt das schon seit Jahren, als sei es ein Ritual, das ihn beruhigt: Es gibt immer etwas zu tun. In einem Zeitungsständer stecken zahlreiche Ausgaben des Magazins Spiegel. Nirgends hängt ein Kalender mit nackten Frauen.

Ein grosser Mann mit hagerem Gesicht betritt die Werkstatt. Urs Erb, Schreiner und Mitgründer der Roten Fabrik Neunkirch. Erb und Bührer müssen sich nicht die Hand reichen, um sich zu begrüssen, ein Kopfnicken genügt. Sie steigen die Treppe zum Pausenraum hoch und werfen die Kaffeemaschine an.

«Anscheinend waren wir die Kiffer», sagt Urs Erb, als er auf die Anfänge der Werkstatt zu sprechen kommt. «Auch wenn gar niemand wusste, was Kiffen überhaupt ist. Auf dem Land fielen wir halt auf.»

Urs Erb war als Kind nach Neunkirch gezogen. Er blieb. Mit Freunden der Pfadigruppe «The Clochards» hatte er 1978 ein Musikfestival im Ort gegründet. Langhaarige, BH-Befreite, Freaks, Familien reisten nach Neunkirch, für das angebotene Essen musste man sein eigenes Geschirr mitbringen. Es war die Zeit, als Urs Erb manchmal die Augen schminkte, wenn er auf die Gasse ging. Wenn die meisten sagten, eine Sache habe so und so zu sein, war das für ihn immer auch Anreiz, es anders zu machen.

Auf der Gasse, meistens im Umfeld der Genossenschaft «Fass», traf er auf Christian Bührer, damals noch Kunstturner, der bald einmal dem Grünen Bündnis beitrat, einem Zusammenschluss von ehemaligen Kommunistinnen und Kommunisten. Mit Gleichgesinnten brach Christian Bührer in Häuser in der Schaffhauser Altstadt ein, die gerade aufwendig renoviert wurden, damit sie später teuer vermietet werden konnten. Sie hängten schwarze Fahnen über die Fassade, als Zeichen der Trauer. «Alles völlig harmlos», sagt Bührer. «Aber die Polizei war etwas nervös.»

Auch die Achtzigerjahre: die letzten Atemzüge der Kalten-Krieg-Paranoia. Hinter jeder Telefonzelle ein Agent versteckt. Böden aus Kunststoff, Möbel aus mit Formaldehyd verhärteten Spanplatten, Küchen aus synthetisch hergestelltem Harz, Spannteppiche. Die Handwerker in der Roten Fabrik waren der Meinung, dass all diese künstlichen Materialien früher oder später im Sondermüll landen würden. Sie verfolgten ihre eigenen Pläne. Urs Erb spezialisierte sich auf massgefertigte Küchen und Möbel aus Massivholz, das aus einem Stamm in Bretter gesägt und getrocknet wird. Das Holz besorgte er sich in der Gegend. Um die Oberflächen zu behandeln, verwendete Urs Erb Öl aus Leinsamen und Bienenwachs. Auf Chemikalien verzichtete er. Mit diesem umweltfreundlichen Vorgehen war er seiner Zeit voraus. Bei Zimmermannsarbeiten setzten die Rote-Fabrik-Handwerker auf rezikliertes Altpapier, ein neues Produkt namens Isofloc, um Gebäude zu isolieren. Diese Technik ist heute Standard in der Wärmedämmung.

«Wir waren stolz, dass wir als Exoten wahrgenommen wurden», sagt Christian Bührer.

«Das zelebrierten wir», sagt Urs Erb.

«Das war Protest», meint Bührer.

Protest wogegen?

«Das wussten wir selbst nicht so recht», erwidert Bührer nachdenklich. Dann fällt ihm eine Geschichte ein. Vor vielen Jahren wurde er für den Umbau eines alten Hauses in einem Aussenquartier der Stadt Schaffhausen engagiert. Er fand einen Parkettboden aus massiver Tanne vor. Der Boden war über hundert Jahre alt, und weil Wasser ins Gebäude gedrungen war, hatten sich die Holzteile stark verformt. Bührer baute den Boden sorgfältig ab, schliff und behandelte die Teile vor Ort und baute sie anschliessend wieder ein. Handwerker, die ihn dabei beobachteten, hätten ihn ausgelacht, sagt Bührer. Sie hätten gesagt: Was machst du dir eine Mühe mit diesem alten Zeug? An deiner Stelle würde ich den Schrott entsorgen und einen neuen Boden reinmachen. Natürlich hörte Bührer nicht auf sie. Die Renovation von alten Parkettböden wurde zu seiner Spezialität.

Die Gründer der Roten Fabrik Urs Erb (2. v. r.) und Christian Bührer (mit Mütze) finden mit Daniel Meyer (rechts) Zuwachs. Links: Daniel Brunner, der im Jahr 2000 dazukam. © Robin Kohler
Die Gründer der Roten Fabrik Urs Erb (2. v. r.) und Christian Bührer (mit Mütze) finden mit Daniel Meyer (rechts) Zuwachs. Links: Daniel Brunner, der im Jahr 2000 dazukam. © Robin Kohler

«Unser Protest war unterschwellig», sagt Urs Erb. «Wir gaben den anderen, den Bürgerlichen, den Konventionellen zu verstehen: Wir beherrschen unser Handwerk. Wir sind gut. Gut auf unsere Art.»

Christian Bührer nickt.

«Langsam sind wir so weit, dass man uns ernst nimmt», sagt Urs Erb. Das war eine Pointe. Man muss genau hinhören, wie Urs Erb etwas sagt. Meistens schwingt Selbstironie mit.

Die Gemeinschaft (und der Rücken)

Wenn man etwas nachdenkt, ist es merkwürdig, dass die Handwerker der Roten Fabrik Neunkirch von ihren Berufskollegen als schräge Vögel wahrgenommen wurden. Die Werkstatt ist ihrer Umgebung ähnlicher, als man denkt. Rundherum gibt es landwirtschaftliche Genossenschaften. Der ganze Klettgau ist davon geprägt. Im Grunde funktionieren die Genossenschaften gleich wie die Rote Fabrik.

Ein einzelner Bauer oder Schreiner kann sich unmöglich alle Maschinen leisten, die er benötigt, Mähdrescher, Bandsäge, Gabelstapler, Kantenschleifer. Aber gemeinsam sind die Investitionen zu verkraften. Die Maschinen werden geteilt, und wenn einer Hilfe braucht, weiss er, wen er fragen kann.

Eine Zeit lang war der Zimmermann Peter Wanner Teil der Werkstattgemeinschaft. Er baute Stachelweidlinge, fester Bestandteil der alternativen Szene Schaffhausens. Irgendwann wanderte Peter Wanner nach Thailand aus. Dann war auch mal ein Maschinenmechaniker da, der wegen seiner politischen Einstellung keinen Job in der Industrie bekommen hatte, und ein Töpfer fand hier ebenfalls Arbeit. Im Jahr 2000 stiess der Schreiner Daniel Brunner dazu.

Manche kamen und gingen in den vergangenen 35 Jahren. Urs Erb und Christian Bührer blieben, und man braucht sie nicht zu fragen, warum sie die Arbeit mit Holz nach all den Jahren noch immer so mögen. «Jetzt bist du durch die Werkstatt gelaufen und stellst trotzdem diese Frage?», sagt Urs Erb mehr überrascht als vorwurfsvoll.

Dann beginnen er und Christian Bührer dennoch zu erzählen.

Der Geruch nach frisch gesägtem Holz. Die gewundene Faserung im Brett. Das Weiche in der Form, das Biegsame, das Harte im Material, das Schimmern einer polierten Oberfläche, und jeder Stamm, jeder Ast sieht wieder anders aus. Die beiden erzählen fast zärtlich davon, obschon die Arbeit Spuren an ihren Körpern hinterlassen hat.

«Als Junger machst du dir keine Gedanken darüber», sagt Erb, heute 64 Jahre alt. Die schweren Holzteile hievten sie von Hand an den richtigen Ort. Er nennt es: «hochwürgen». Heute benutzen sie Gabelstapler und Kran.

«Könnte schlimmer sein», sagt der ein Jahr ältere Bührer. Er benötigt ein künstliches Gelenk im rechten Knie. Im linken hat er schon eines. Und seine Schulter schmerzt auch.

«Noch schlimmer?», fragt Erb. Sein Rücken ist blockiert. Zwei Bandscheibenvorfälle. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass er Anfang Jahr erfahren hatte, dass er an Blutkrebs leidet. Darum schaute er sich nach einer Nachfolge um. Der letzte Versuch war gescheitert. Seine Tochter, eine Schreinerin Mitte zwanzig, hatte zwei Jahre mit ihm gearbeitet. Sie entschied sich aber gegen die Übernahme und wechselte zu einer anderen Schreinerei. Die allgemeinen Aussichten in Sachen Übernahme wurden auch nicht besser. «Fachkräfte dringend gesucht», kann man seit Jahren in Fachzeitschriften lesen. Als er dachte, er finde niemanden mehr, meldete sich ein Mann namens Daniel Meyer.

Scholle, der Nachfolger

Daniel Meyer sitzt im Coop-Restaurant in Schaffhausen und isst einen Salatteller. Seine Hände sehen so aus, als könnten sie Steine zermalmen. Die letzten Tage müssen merkwürdig gewesen sein für ihn. Am Freitag unterzeichnete er die Papiere zur Übernahme eines Teils der Roten Fabrik Neunkirch per 1. Januar 2025. Am Sonntag, bei den Wahlen, verlor er sein Amt als Kantonsrat. Niemand hatte damit gerechnet.

Daniel Meyer ist zwar erst 39 Jahre alt, hat aber schon zwanzig Jahre Erfahrung in der Politik. Er war Gründungsmitglied der Alternativen Liste, und im Alter von 27 Jahren wurde er in den Gemeinderat von Hallau gewählt. Die Leute mochten seine unkomplizierte, direkte Art. Einige Jahre lang war er auch Präsident der Schaffhauser SP-Sektion gewesen.

«Ich freue mich wie ein Spitzbub», sagt er als Erstes. Er kann es kaum erwarten, seine Arbeit in der Roten Fabrik aufzunehmen. In der Kantonsschul-Verbindung Scaphusia erhielt er den Namen «Scholle», was Ackerland oder Heimat bedeutet. Daniel Meyer schätzte immer, was er um sich hatte, und nach dem Zufall der Geburt war das für ihn der Klettgau. Nach der Kantonsschule studierte er Maschinenbau. Anschliessend arbeitete er als Ingenieur, lange für die SBB, dann kurz für den Energiekonzern Alpiq.

2020, im neunten Jahr als Ingenieur, merkte er allerdings, dass er die Arbeit im Büro nicht mehr ertrug. Achteinhalb Stunden täglich Dateien und Zahlen im Computer zu sortieren, schien ihm zu eintönig. Er musste raus. Also fing er eine Schreinerlehre an, die er im Sommer 2023 abschloss. Danach suchte er nach einer eigenen Werkstatt. Als er vom Nachfolgeproblem der Roten Fabrik hörte, brauchte er nicht lange, um zuzusagen. Zumal auch die Bedingungen sehr gut sind. Die Maschinen seines Vorgängers Urs Erb kann er für 25 000 bis 30 000 Franken kaufen. Anderswo wäre eine Übernahme um ein Vielfaches teurer geworden.

Ausserdem gefällt Daniel Meyer der Geist der Roten Fabrik, und er möchte weiterhin mit Massivholz arbeiten. Allerdings nicht nur. Seine Arbeit macht er von den Wünschen der Kundinnen und Kunden abhängig. «Nur Idealist zu sein, nährt nicht», sagt er. Er bevorzugt es, die Dinge pragmatisch anzugehen.

«Ich will der Dorfschreiner sein», sagt Daniel Meyer. «Wenn jemand eine neue Tür oder eine Küche braucht, soll er wissen, dass er zu mir kommen kann.»

Das Aufhören

Die Kaffeetassen sind schon lange leer. Draussen setzt die Dämmerung ein. Urs Erb und Christian Bührer reden übers Aufhören. Erb hätte gern noch ein, zwei Jahre weitergemacht, aber der Körper zwingt ihn, früher zurückzufahren. Er ist gerade daran, seinen Teil der Werkstatt zu räumen, damit Daniel Meyer sich einrichten kann. Aber einige Werkzeuge zügelt er in eine andere Ecke der Werkstatt, um weiterhin kleinere Arbeiten zu übernehmen.

«Du kannst nicht plötzlich von 150 auf null runter», sagt Urs Erb.

«Die Arbeit tut auch deiner mentalen Gesundheit gut», sagt Christian Bührer.

«Vielleicht können Daniel und ich mal etwas zusammen machen», sagt Erb. «Er ist voller Power und Tatendrang, er ist der richtige Mann … Suchst du eigentlich auch mal jemanden?»

«Jaa …», sagt Christian Bührer.

«Ich meine: ernsthaft suchen.»

«Jaa … Vielleicht gehts dann zu schnell.»

«Wenn wir aufhören, muss die Welt stehen bleiben», sagt Urs Erb. Er setzt wieder zu einer Pointe an. «Dann weiss ja niemand mehr, wie man all die Dinge richtig macht.»


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Das erkaufte Ende der Websiten-Saga https://www.shaz.ch/2024/07/31/das-erkaufte-ende-der-websiten-saga/ https://www.shaz.ch/2024/07/31/das-erkaufte-ende-der-websiten-saga/#respond Wed, 31 Jul 2024 10:36:23 +0000 https://www.shaz.ch/?p=8631 Die neue Website des Kantons endet vor Gericht. Mit dem Resultat, dass Schaffhausen einer Firma Geld nachzahlen muss. Weil ein Brief vergessen ging. Sascha Fijan trägt ein dunkelgrünes Hemd, einen Dreitagebart und im Gesicht die Entgeisterung über die Anwesenheit der AZ im Gerichtssaal. Der Geschäftsführer der Firma BBF ist alleine hier aufgekreuzt, einen Anwalt hat […]

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Die neue Website des Kantons endet vor Gericht. Mit dem Resultat, dass Schaffhausen einer Firma Geld nachzahlen muss. Weil ein Brief vergessen ging.

Sascha Fijan trägt ein dunkelgrünes Hemd, einen Dreitagebart und im Gesicht die Entgeisterung über die Anwesenheit der AZ im Gerichtssaal. Der Geschäftsführer der Firma BBF ist alleine hier aufgekreuzt, einen Anwalt hat er keinen. Für den Kanton setzt sich auf der anderen Seite der Departementssekretär des Innern, Christoph Aeschbacher. Mit Anwalt. «Es ist alles sehr, sehr komplex», sagt Fijan auf die Frage des Richters Andreas Textor, ob klar sei, worum es gehe.

Dass die Parteien hier in einem Zimmer sitzen, das so klein ist, dass man das Tippen der Gerichtsschreiberin auch am anderen Ende des Raums noch hört, ist der vorläufige Endpunkt eines verworrenen 10-jährigen Epos an der Schnittstelle zwischen Regionalpolitik, Tech-Welt und Projektmanagement.

Rückblick

Die Geschichte begann 2014 mit grossen Ambitionen. Der Kanton Schaffhausen wollte sich zu einem Pionier der IT aufschwingen und sich für die neue Website nicht mit einer banalen Standardlösung zufrieden geben. Sondern mit einer komplett neuen Maschine an den Start gehen, dem «Google der Behörden». Vorerst war auch die Stadt ins Projekt involviert. Die IT-Abteilung von (damals) Stadt und Kanton, KSD (heute ITSH), gab den Auftrag an die BBF, eine Schaffhauser Firma, diese wiederum arbeitete mit einer weiteren Firma zusammen, die das eigentliche Programmier-Handwerk übernahm.

Schon mit dieser Vergabe hatte die KSD gegen das Beschaffungsrecht verstossen (siehe AZ vom 17. September 2020). Dann stieg die Stadt, wohl als Folge davon, aus dem Projekt aus. Dieser Ausstieg war unklar geregelt, und bei der KSD wurden die Aufwände schlecht festgehalten, sodass am Ende nicht mehr wirklich aufgedröselt werden konnte, wer was berappen musste. Letzten Herbst zahlte der Kanton der Stadt 160 000 Franken nach, um immerhin diesen losen Strang zu vertäuen (siehe AZ vom 14. Dezember 2023).

Das Kernproblem

Die Probleme waren aber nicht nur organisatorische. Es brodelte auch im technischen Kern des Projekts: Die Website funktionierte schlecht. Die Verantwortlichen wussten früh darum, die Mängel wurden von der damaligen KSD-Leitung und eventuell durch die damals zuständige Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel lange verschleiert (siehe AZ vom 29. Februar 2024). Nachdem die Website 2019 live ging, konnte nicht länger verheimlicht werden, dass zum Beispiel die Suchfunktion der Website fast unbrauchbar war. Die Empörung war gross, innert anderthalb Jahren forderte das Kantonsparlament, die Maschine zu ersetzen. Mittlerweile war das Projekt Gegenstand mehrerer Untersuchungen, die gravierende Mängel feststellten.

Nachdem die Kritik an der Website immer lauter wurde, trennte sich der Kanton von der BBF. Allerdings gehen die Meinungen darüber, wann das genau geschah, auseinander. Fijan sagt, der Kanton schulde seiner Firma noch Geld. Der Kanton will nicht zahlen, weil er die Zusammenarbeit zur fraglichen Zeit als schon beendet betrachtet. Mehrere Vergleichsverhandlungen und der Gang vor den Friedensrichter sind gescheitert. Jetzt ist man eben am Kantonsgericht vor dem Richter Textor gelandet.

Support

Der Vertrag, um den gestritten wird, sollte die Support-Leistungen der BBF für die Kantonswebsite ab der Inbetriebnahme 2019 regeln. Die Idee war folgende: Hätte man die Support-Nummer der KSD gewählt, wären diese Anrufe direkt an die BBF weitergeleitet worden. Die BBF wurde dafür eigens mit Mobiltelefonen der KSD ausgestattet und sollte pro Monat pauschal 5000 Franken für den Service erhalten.

Der Kanton stellt sich vor Gericht auf den Standpunkt, dass der Vertrag gekündigt worden war – mehrfach, verteilt über ein gutes Jahr. Die erste Kündigung sieht der Kanton in einem Treffen von Kantonsvertretern mit der BBF im Februar 2020. Damals wurde der Firma mitgeteilt, dass man die Zusammenarbeit beende und keine weiteren Rechnungen bezahlen würde. Im August trafen der Kanton und die BBF dann eine Vereinbarung, in der Streitpunkte beigelegt werden sollten. Im September 2020 wurden die Support-Handys retourniert und die Nummer wieder zur KSD geleitet. Im April 2021 schickte der Kanton der BBF schliesslich ein Einschreiben und teilte ihr mit, dass die Geschäftsbeziehungen beendet seien.

Sascha Fijan ist allerdings der Ansicht, dass der Support-Vertrag nie gekündigt worden ist. Er hat noch bis im Juni 2021 Rechnungen für seine Dienste geschickt. Der Kanton schulde ihm aber Pauschalen bis im April 2023. Das wären 210 000 Franken, zudem will Fijan vom Kanton mit 36 000 Franken für weitere Aufwände, die durch den Rechtsstreit entstanden sind, entschädigt werden.

Doch es scheint nicht nur um Geld zu gehen. Zumindest für Fijan nicht. Er wirkt zutiefst gekränkt. Dass die Website so miserabel rezipiert wurde. Und dass der Kanton die Zusammenarbeit – gemäss Fijan nach vielen Jahren ohne Reklamationen – beendet hat. «Wenn Sie jetzt etwas lesen, denken Sie, es sei alles schief gelaufen», sagt er dem Richter, immer noch auf dessen Frage, ob ihm klar sei, worum es hier gehe. Richter Textor hört ihm geduldig zu und sagt dann: «Jetzt haben Sie das in einen grösseren Zusammenhang gestellt, aber eigentlich geht es nur um den Vertrag».

«Enorme Ressourcen»

Der Richter hat Mühe, aus Fijan Antworten auf seine eigentlichen Fragen herauszubekommen. Fijan wirkt gestresst und wiederholt immer wieder, dass «es jetzt darum geht, das zu klären», er gibt Fragen zurück an den Richter und möchte wissen, was dieser denn dazu denke.

Der Richter fragt schliesslich, ob er noch weitere Beweise anbieten will, Fijan will nicht. «Aufgrund der Ressourcen ist es effizient, jetzt einmal zu hören, was das Gericht dazu sagt. Ich könnte schon noch einen Berg Akten bringen, aber dann sind Sie nochmals beschäftigt. Wir wollen einfach hören, was Sie zu sagen haben, oder eine Einigung finden, um das unkompliziert abzuschliessen. Die verbrauchten Ressourcen sind enorm und am Schluss haben wir die Medien noch hier.» Als Textor eine Pause verhängt, fragt Fijan, ob die Parteien miteinander sprechen dürfen.

Zurück an den Vergleichstisch

Schliesslich bekommt Fijan dann das, was er verlangt hat: Die «unpräjudizielle Einschätzung» des Richters. Kein Urteil, aber eine Art richterliche Auslegeordnung, die den Parteien die Möglichkeit geben soll, sich nochmals an den Vergleichstisch zu setzen.

Richter Textor schätzt die Lage über weite Strecken zu Gunsten Fijans ein. Der umstrittene Vertrag regelt sehr genau, wie eine Kündigung zu erfolgen hat. Nämlich schriftlich und konkret. Man hätte also explizit schreiben müssen, dass man diesen Vertrag kündigt. Diese Vorgaben erfüllen, gemäss Textor, alle der vom Kanton ins Feld geführten Handlungen nicht. Gemäss dem Richter müssen die Rechnungen noch so lange gezahlt werden, wie sie Fijan stellte. Nämlich bis Juni 2021. Das macht 90 000 Franken. Die weiteren Forderungen Fijans hingegen betrachtet der Richter als unbelegt. Fijan hatte auf die Frage nach Belegen dafür geantwortet, dass er dazu «die ganzen Dokumente der Rechtsberatung» ausdrucken müsste.

Nach der richterlichen Einschätzung werden die Medien aus dem Saal spediert und die Vergleichsverhandlungen neu eröffnet.

90 000 Franken für ein Versäumnis

Dass noch etwas geschuldet gewesen sei, habe er nicht bezweifelt, sagt Aeschbacher, auch wenn der Kanton das vor Gericht noch in Frage gestellt hatte: «Bis Oktober 2020 mussten wir noch zahlen, das war eigentlich immer klar.» Die exakte rechtliche Begründung, wieso die Rechnungen noch genau bis Juni 2021 gezahlt werden müssten, hätten weder er noch Fijan verstanden, sagt Aeschbacher. «Ich interpretiere das als pragmatischen Anstoss, uns zu einem Vergleich zu bewegen.» Das hat geklappt: Der Kanton hat sich gemäss Aeschbacher mit Fijan auf die vom Gericht vorgeschlagenen 90000 Franken geeinigt. Darüber sei er nicht unglücklich, sagt er. Das letzte Vergleichsangebot an Fijan habe noch etwas höher gelegen.

Das Chaos um die neue Website ist so gross, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Und es ist fast unmöglich zu wissen, ob dieser Vergleich nun wirklich der Schlussstrich ist. Mindestens ist es ein vertäutes Ende mehr. Und irgendwie ein passendes für diese Geschichte des Stolperns und Schlitterns: Mindestens einen Teil des Betrags muss der Kanton, der ein Pionier der Digitalisierung sein wollte, überweisen, weil er versäumt hatte, einen Vertrag korrekt zu künden.

Etwas an diesem Ende ist aber auch untypisch für die Geschichte. Das Straucheln um die neue Website war immer wieder auch geprägt von schlechter Kommunikation. Hierin hat man offenbar auch dazugelernt. Departementssekretär Aeschbacher gesteht das Versäumnis ein und nimmt es auf seine Kappe. «Eine explizite Verwendung des Worts ‹Kündigung› ist tatsächlich nie erfolgt. Für diesen Fehler übernehme ich auch persönlich Verantwortung. Die KSD hatte damals keinen Geschäftsführer, es war mitten in der Coronakrise, ich hatte Tag und Nacht gearbeitet und das ist mir dann schlicht durch die Lappen gegangen. Das kostet den Steuerzahler jetzt. Das bedaure ich sehr.»

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Schmerzmittel wie Süssigkeiten vertickt und ein Medikament für Neugeborene masslos verteuert: Die Geschichte der ruchlosen Geschäfte der Firma ­Mallinckrodt – und ihres Sitzes in Neuhausen.

Der Schweiz steht ein heisser Abstimmungssommer bevor – und ein weiteres Mal stellt die internationale Gemeinschaft die Gretchenfrage: Schweiz, wie hast du’s mit dem Steuerwettbewerb? 

Der Geduldfaden ist bei der OECD inzwischen arg strapaziert. Weil Steuerparadiese wie Irland, der US-Bundesstaat Delaware oder die Schweiz seit Jahrzehnten mit ihren tiefen Unternehmenssteuern Konzerne aus anderen Ländern weglocken, hat die OECD eine Steuerreform beschlossen. Sie verlangt für Unternehmen mit einem Umsatz ab 750 Millionen Franken eine Mindeststeuer von 15 Prozent auf ihre Gewinne. Am 18. Juni stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die Umsetzung der Reform ab.

Die Abstimmung steht auch hoch auf der Prioritätenliste der Schaffhauser Regierung: Zwar ist Schaffhausen nicht auf dem Niveau von Zug, aber auch hier liegt die Steuerbelastung bei 13,9 Prozent, also unter der neuen Mindeststeuer (AZ vom 26. Juni 2022). Dieser Standortvorteil fällt mit der Umsetzung der Reform weg – und bedeutet somit das vorläufige Ende einer Strategie, die sich für den Kanton Schaffhausen ausgezahlt hat. Über die letzten Jahrzehnte sind grosse Konzerne dem Lockruf der tiefen Steuern gefolgt – die Kassen von Kanton und Stadt sprudeln ungebremst. 

Doch neben den erfolgreichen Ansiedlungen – innovative Unternehmen mit vielen Arbeitsplätzen –, welche die kantonale Wirtschaftsförderung stolz auf ihrer Homepage präsentiert, ziehen tiefe Unternehmenssteuern auch schwarze Schafe an. Skandalumwitterte Konzerne, die sich für dicke Gewinne gerne auch mal am Rande der Legalität bewegen. Die AZ berichtete im Februar beispielsweise über die Schaffhauser Briefkastenfirma des kolumbianischen Ölkonzerns Ecopetrol, die bis heute Geld am grössten Korruptionsfall des Landes verdient (AZ vom 27. Februar 2023). 

Ab 2007 waltet an der Victor von Bruns-Strasse 19 in Neuhausen, ohne dass die Öffentlichkeit viel davon erfährt, ein milliardenschwerer Pharmakonzern – Mallinckrodt Pharmaceuticals. Hier versteckte er mutmasslich fast ein Jahrzehnt lang seine Gewinne und optimierte so seine Steuern, während er in den Vereinigten Staaten den Preis für ein Medikament für Neugeborene um über 90 000 Prozent in die Höhe trieb und Ärzte dafür einspannte, starke Schmerzmittel wie Süssigkeiten zu verteilen. 

Es ist die Geschichte eines ruchlosen Konzerns, aber auch eines Marktes, in dem Quartalszahlen wichtiger sind als Menschenleben. Und eines Steuerwettbewerbs, der das alles begünstigt.

Verschachtelt

Am besten erzählt man die Geschichte entlang der Preisentwicklung von Acthar, einem Medikament, das bei sogenannten Infantilen Spasmen – schwere epilepsieartige Muskelzuckungen bei Neugeborenen – helfen soll. 1952 wird das durchsichtige Gel, das in Fünf-Milliliter-Ampullen verkauft wird, zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten zugelassen. Und schnell pendelt sich ein Preis ein: Über Jahrzehnte geht das Medikament für unter 40 US-Dollar über die Ladentheke. 

Auch noch 1998, als der Grundstein für eine Ansiedlung gelegt wird, die bis heute als  eine der wichtigsten in der Geschichte der Schaffhauser Wirtschaftsförderung gilt. Dann nämlich eröffnet der Brandschutz- und Sicherheitskonzern Tyco International in Schaffhausen eine erste Niederlassung in Schaffhausen, quasi als Vorbote: Elf Jahre später wird der Konzern seinen Hauptsitz zuerst nach Schaffhausen und dann Neuhausen verlegen. Noch heute hat Tyco einige Unternehmensteile in Neuhausen – der Hauptsitz ist aber den noch tieferen Steuern nach Irland gefolgt.

Tyco war in den 90er-Jahren mit dem Kauf von über 1000 Unternehmen zu einem riesigen Konglomerat angewachsen – und braucht 1998 eine Bank, mit der sie das Geld zwischen den einzelnen Unternehmensteilen herumschieben kann. Eine Firma, die sich Tyco in seinem Einkaufsrausch einverleibte: das amerikanische Chemie- und Pharmaunternehmen Mallinckrodt.

Auf der anderen Seite des Atlantiks findet auch eine Übernahme statt: Die kalifornische Firma Questcor kauft für 100 000 US-Dollar die Patente für das Medikament Acthar. Der Preis ist zu diesem Zeitpunkt auf 100 Dollar angestiegen. 

Tyco zügelt immer weitere Konzernteile nach Schaffhausen, wo die Unternehmenssteuern immer weiter purzeln. 2006 gründet das Tyco-Tochterunternehmen Mallinckrodt im Kanton Schaffhausen auch eine eigene Tochterfirma, die gemäss ihrem Zweck als eine unternehmensinterne Bank funktionieren soll. Steuervermeidung nach dem Prinzip russische Nestpuppe. 

Für solche komplizierte Konstrukte kennt der Kanton Schaffhausen zu dieser Zeit dank eines Steuerprivilegs mit dem klingenden Namen «Swiss Finance Branch» praktisch eine Nullbesteuerung. Die Idee dahinter ist simpel: Der Konzern schiebt seine Gewinne in die Schweiz zur Swiss Finance Branch. Diese vergibt Darlehen an den Mutterkonzern oder seine Teilfirmen, vor allem im Ausland. So wird aus Eigenkapital günstigeres Fremdkapital. In der Schweiz fallen dann nur noch Steuern auf die Zinsen der Darlehen an.

Und es wird noch ein wenig verschachtelter. Die Gesundheitssparte von Tyco – die Tyco ­Healthcare – spaltet sich 2007 unter dem Namen Covidien ab und mit ihm das Pharmaunternehmen Mallinckrodt, das sich in dieser Zeit vermehrt auf Schmerzmittel spezialisiert. Die neue Firma zieht von Basel an die Victor von Bruns-Strasse in Neuhausen. Eine Fünf-Milliliter-Ampulle Acthar kostet zu diesem Zeitpunkt bereits rund 1000 Dollar.

«Kingpin eines Drogenkartells»

Ab 2007 hat Covidien also eine Neuhauser Niederlassung – und mit ihr auch sein Tochterunternehmen Mallinckrodt. Diese zügelt die hauseigene Bank im selben Jahr von Schaffhausen ebenfalls an die Victor von Bruns-Strasse 19 in Neuhausen.

Es lohnt sich, die Neuhauser Jahre ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. Auf der einen Seite ist es eine Ansiedlung aus dem Bilderbuch: 2009 hat das Unternehmen 42 000 Angestellte in über 60 Ländern und rund 11 Milliarden US-Dollar Umsatz, an der Victor von Bruns-Strasse arbeiten damals rund 70 Angestellte. Und man hat grosse Pläne: «Wir wollen einer der weltweit führenden Anbieter im Gesundheitsmarkt werden», sagt der damalige Leiter der Neuhauser Niederlassung Paul McDowell zu den Schaffhauser Nachrichten

In dieser Zeit entwickelt sich die Convidien-Tochterfirma Mallinckrodt zu dem ruchlosen Unternehmen, das die us-amerikanische Anti-Drogenbehörde 2010 als Spitze eines Drogenkartells aus Pharmaunternehmen bezeichnen wird, «das die Opioid-Epidemie befeuert hat». Und Mallinckrodt wird das Unternehmen sein, das den Preis von Acthar auf rund 40 000 Dollar hochtreiben wird. 

Aber der Reihe nach. Die Opidoid-Epidemie in den Vereinigten Staaten hat zwischen 2000 und 2022 über 270 000 Menschen dahingerafft. Die US-Gesundheitsbehörde beschreibt auf ihrer Webseite drei Phasen der Epidemie, die bis heute jährlich tausende Todesopfer fordert. Die erste Phase begann, als Ärztinnen in den 90er-Jahren immer mehr opioidhaltige Schmerzmittel verschrieben; Phase zwei, als viele, die wegen dieser Schmerzmittel zu Suchtkranken wurden, ihre Schmerzmittel mit dem stärkeren Opioid Heroin ersetzten und Phase drei, als auch Heroin zu schwach wurde und durch das synthetische Opioid Fentanyl ersetzt wurde. 

Es ist in ersten Phase, in der Mallinckrodt aggressiv Ärztinnen und Ärzte angeht und sie dazu bringt, zu viele opioide Schmerzmittel zu verschreiben. Zwischen 2006 – dem Jahr, in dem Mallinckrodt seine hauseigene Bank im Kanton Schaffhausen eröffnet – und 2014 entfielen, gemessen an der Potenz der Schmerztabletten, 27 Prozent des gesamten Opioidmarktes auf Mallinckrodt. Zum Vergleich: Auf den Pharmakonzern Perdue Pharma, der als Hauptschuldiger für die Epidemie gilt, entfielen in der selben Zeit 18 Prozent des Marktes. Das zeigt eine Analyse der Washington Post von 2022, die über 1,4 Millionen interne Dokumente von Mallinckrodt, E-Mails, Videoaufnahmen und Befragungen untersucht hat.

Mallinckrodt soll seine Vertriebsteams dazu gedrängt haben, Ärzte zu finden, die eine grosse Anzahl von Rezepten ausstellten. Der Konzern soll die Topperformer mit Prämien und ausschweifenden Ferien belohnt und jenen, die die vierteljährlichen Quartalszahlen nicht erreichten, gekündigt haben. Ärztinnen, die viel Schmerzmittel verschrieben, sollen tausende Dollar für Vorträge erhalten haben. Ein nationaler Verkaufsleiter schrieb 2009 in einem E-Mail an einen Lieferanten, Mallinckrodts Schmerztabletten seien wie Kartoffelchips: «Keep eating. We’ll make more.»

Mallinckrodt verwendete aber auch unkonventionellere Mittel, um seine Vertriebsmitarbeiterinnen zu agressiveren Verkaufstaktiken zu motivieren – der Konzern schreibt einen Reggea-Song: 

You can start at the middle, 
you can start at the top. 
You can start with very little 
but that’s not where you should stop.
Your patient needs relief, mon, 
so please do what you should.

Die aggressive Verkaufspraxis hatte ihren Preis: Gemäss der Generalstaatsanwaltschaft vom Bundesstaat Massachusetts erhielten 9673 Personen, die in den letzten zwölf Jahren an einer Überdosis im Bundesstaat starben, Mallinckrodt-Schmerztabletten. 2020 erkämpften über ein Dutzend Bundesstaaten, in denen die Opioide-Epidemie am stärksten wütete, einen gerichtlichen Vergleich: Mallinckrodt muss für seine Rolle über 1,725 Milliarden US-Dollar zahlen und Konkurs anmelden. Kurz bevor der Konzern dies bekannt gab, verkündete Mallinckrodt, dass die fünf Topführungskräfte einen Bonus von 5 Millionen Dollar erhielten. 

Goldgräberstimmung

Aber die Neuhauser Jahre von Mallinckrodt, die von 2007 bis zum Wegzug nach Schaffhausen 2014 dauerten, waren nicht nur von der Rolle des Konzerns in der Opioid-Krise geprägt.

2013 spaltet sich Mallinckrodt von Convidien ab und ist wieder selbstständig. Und wie einst Tyco beginnt auch Mallinckrodt zu expandieren, dank einem weiteren Steuertrick: der irischen Steuerumkehr. Im Fall von Mallinckrodt lief das so: Die Firma kauft ein verhältnismässig kleines irisches Pharmaunternehmen. Um die vergleichsweise hohen Unternehmenssteuern in den Vereinigten Staaten zu umgehen, gründet die neue, grössere Firma im Tiefsteuerland Irland neue Tochterfirmen. Das Geld, das die Mallinckrodt-Aktionäre so sparen, wird frei, um weitere Firmen zu kaufen. 

So holt sich Mallinckrodt 2014 Questcor, jene Firma also, die um den Jahrtausendwechsel die Acthar-Patente für 100 000 US-Dollar gekauft hatte. Über all die Jahre hatte Questcor den Preis der Fünf-Milliliter-Ampulle von 40 Dollar auf über 32 000 Dollar angehoben – ein Preisanstieg um 80 000 Prozent. Und Mallinckrodt wollte mitverdienen. Alleine in den ersten sechs Wochen nach dem Kauf von Questcor spülte das Medikament für Neugeborene Mallinckrodt 123 Millionen US-Dollar in die Kasse. 

In der Teppichetage herrschte plötzlich Goldgräberstimmung. Interne Kommunikation, die im Rahmen einer Untersuchung der Demokraten im US-Kongress öffentlich wurden, verdeutlichen dies. Eine Führungskraft kommentierte die eine Diskussion über den Preis von Acthar folgendermassen: «Unter dem Strich hat jede Preiserhöhung eine positive Auswirkung für uns. Es kommt einzig darauf an, mit welchem Preis wir uns in der Öffentlichkeit wohlfühlen. Ich persönlich würde ihn hoch ansetzen. Innerhalb der Preisspanne, in der wir uns bewegen, werden die Medien so oder so gleich reagieren.»

Und genau das passierte: Trotz öffentlicher Kritik von Patientinnen, Ärzten und Versicherungen hob Mallinckrodt den Preis um mehr als 8000 Dollar weiter an. Und weil die Boni der Führungsetage zu einem grossen Teil an die Gewinne des Konzerns gebunden waren, gab es auch keinen Grund, damit aufzuhören. Wie bei den opioiden Schmerzmitteln konnte Mallinckrodt dabei auf ein Netzwerk an Ärztinnen zählen, die Acthar für eine Vielzahl an Beschwerden verschrieben, die auch mit deutlich günstigeren Medikamenten hätten behandelt werden können. Das führte zur absurden Situation, dass Medicare, das US-amerikanische Sozialwerk für über 65-Jährige, zwischen 2015 und 2018 über 2,5 Milliarden Dollar für ein Medikament für Neugeborene ausgab. 

Als Novartis an einem günstigeren Konkurrenzprodukt tüftelte, kaufte Mallinckrodt die Rechte 2014 kurzerhand auf – und legte die günstige Alternative auf Eis. Bekannt wurde der Deal nur dank der Aussage von Martin Shkreli, einem US-Hedgefondmanager, der es zu internationaler zweifelhafter Berühmtheit gebracht hatte, indem er selber den Preis eines Medikaments gegen Toxoplasmose um über 5000 Prozent in die Höhe getrieben hatte. 

Der Trick, die günstige Konkurrenz zu kaufen und so zu eliminieren, war mutmasslich illegal: 2017 stimmte Mallinckrodt einem gerichtlichen Vergleich in der Höhe von 100 Millionen Dollar zu, um einer Verurteilung wegen Verstosses gegen das Kartellrecht zu entgehen. 

Immer noch hier

Im Februar 2022 beendete ein Richter das 16-monatige Konkursverfahren gegen Mallinckrodt und stimmte einem Reorganisationsplan zu, der es dem Konzern unter anderem erlaubt, 1,3 Milliarden Dollar an Schulden abzuschreiben. 

In all diesen Jahren blieb der Konzern, der einst als Teil von Tyco International in den Kanton Schaffhausen und nach Neuhausen kam, der Region treu. Heute besitzt Mallinckrodt noch eine Zweigniederlassung und zwei Holdinggesellschaften in der Stadt Schaffhausen. 

Die hauseigene Bank, mit der alles begann und die mutmasslich dafür gebraucht wurde, Gewinne aus dem US-Geschäft in Neuhausen zu bunkern, wurde im Mai 2019 aufgelöst; fast genau ein Jahr, nachdem der Bundesrat angekündigt hatte, dass das passende Steuerprivileg «Swiss Finance Branche» bald auslaufen werde.

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Russisches Öl vom Herrenacker https://www.shaz.ch/2023/04/10/newcoal/ https://www.shaz.ch/2023/04/10/newcoal/#respond Mon, 10 Apr 2023 13:35:34 +0000 https://www.shaz.ch/?p=7426 Wie eine ­Schaffhauser ­Firma das Öl eines mit Putin verbandelten Oligarchen an den Sanktionen vorbeischifft. Simon Muster und Mattias Greuter «Priwjet Sacha!» – Dieter Neuhoff telefoniert mit dem Moskauer Büro seiner Rohstoffhandelsfirma, der Journalist der Schaffhauser Nachrichten drückt auf den Auslöser seiner Kamera. Es ist das Jahr 2010, und die Beziehungen zu Russland sind entspannt. […]

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Wie eine ­Schaffhauser ­Firma das Öl eines mit Putin verbandelten Oligarchen an den Sanktionen vorbeischifft.

Simon Muster und Mattias Greuter

«Priwjet Sacha!» – Dieter Neuhoff telefoniert mit dem Moskauer Büro seiner Rohstoffhandelsfirma, der Journalist der Schaffhauser Nachrichten drückt auf den Auslöser seiner Kamera. Es ist das Jahr 2010, und die Beziehungen zu Russland sind entspannt. Ein Teil des blühenden Handels läuft über die Schaffhauser Firma NewCoal Trading AG von Dieter Neuhoff: Sie kauft in Russland und in der Ukraine Kohle für europäische Energie- und Industriebetriebe. 

Die Zwischenstation in Schaffhausen mache nicht zuletzt wegen der anhaltenden Spannungen mit «dem ehemaligen Ostblockstaat» Ukraine und Moskau Sinn, erklärt Neuhoff dem Journalisten der SN. Dieser beendet sein Firmenporträt mit der Erkenntnis: «Die Zeiten haben sich geändert, die Kohle ist geblieben.»

Turbulente Zeiten

Heute, acht Jahre nach der Annexion der Krim und ein Jahr nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, haben sich die Zeiten wieder geändert. Und die Kohle? Wie Recherchen der AZ und von ukrainischen Journalisten vor Ort zeigen, handelte die Schaffhauser Firma auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mit russischen Rohstoffen. Und half so von ihrem Büro am Herrenacker aus, internationale Sanktionen zu umgehen. Sie ist mutmasslich mit den politischen Machenschaften eines engen Freundes von Vladimir Putin verbandelt – Verbindungen bis in die Kreml-Spitze.

Bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 steckt ihre einst stolze Kohleindustrie in der Krise. Tausende  Mineure verlieren ihre Arbeit und die, die ihn behalten können, warten bis zu einem Jahr auf ihren Lohn. Im Sommer 1991 formiert sich ein grossangelegter Streik der Minenarbeiter. Ein gewisser Boris Jelzin erkennt die Gunst der Stunde und signalisiert den Streikenden Unterstützung. Wenige Monate später tritt Michail Gorbatschow ab – die Sowjetunion ist Geschichte. 

In diesem turbulenten Jahr 1991 beginnt 2500 Kilometer westlich von Moskau die Firma Plan Marine Holding AG in Schaffhausen, ihr Kohlegeschäft aufzubauen. Dieter Neuhoff, späterer Inhaber der NewCoal Trading AG, damals Angestellter bei der Plan Marine AG, knüpft in Russland Kontakte zu sibirischen Kohlehändlern. 

1997 entsteht als Auskopplung aus der Plan Marine AG die NewCoal Trading AG. Der kurzgehaltene Zweck laut Handelsregister: «Handel mit Kohle.» Im gleichen Jahr schreibt Vladimir Putin seine Doktorarbeit am Bergbau Institut in­ St. Petersburg: Er skizziert darin die Bedeutung von Erdgas- und Erdölexporten für die Durchsetzung von Russlands aussenpolitischen Zielen.

Die Schweiz etabliert sich derweil als Handelsplatz für russische Rohstoffe – mit tiefen Unternehmenssteuern, wirtschaftlicher Offenheit gegenüber Russland und dem festen Glauben an Selbstregulierung statt staatlicher Intervention.

Kohle wird Anfang der Nullerjahre zu einem immer beliebteren Finanzprodukt, wie die Menschenrechtsorganisation PublicEye im März 2022 in einer Recherche nachgezeichnet hat. Ideal für ein Land mit einem starken Bankensektor, der Erfahrungen in der Finanzierung von Handelsbeziehungen hat. Und ideal für eine Firma wie die NewCoal Trading AG, mit ausgeprägten Beziehungen zu russischen Rohstoffkonzernen: Sie kauft die Kohle für ihre Auftraggeber in Russland ein und übernimmt auch die Versicherung für den Transport der Ware. Ein Rundumpaket.

2014 annektiert Russland die Krim, die internationale Gemeinschaft reagiert mit Empörung und Sanktionen. Und die Geschäfte von Dieter Neuhoff  brechen in sich zusammen: Der Hafen Mariupol steht nicht mehr zur Verfügung. «Ich wollte die Firma auflösen», erzählt er auf Anfrage. 

Neue Inhaber und Öl statt Kohle

Doch dann wird Neuhoff von russischen Investoren kontaktiert. «Sie sagten mir, sie bauen eine Raffinerie in Sibirien und baten mich, die Finanzierung des Baus und die Vermarktung des Öls zu organisieren.», sagt Neuhoff. Die NewCoal Trading AG wird von der Kohle- zur Ölhandelsfirma.

2015 verkauft Dieter Neuhoff die Firma an die Investoren, bleibt aber als Geschäftsleiter. Zwei Jahre später wird die Firma erneut verkauft. Neuhoff bleibt ein weiteres Jahr, bevor er die Firma 2018 verlässt: Es habe «kein gegenseitiges Verständnis» bestanden, sagt er vorsichtig. 

Er habe eine Schweigepflicht unterschrieben, er dürfe der AZ also nicht sagen, wer die Firma heute besitzt. Was aber klar ist: Die neuen Besitzer scheuen die Nähe zum russischen Regime nicht und helfen bald, die Sanktionen gegen einen Putin-nahen Oligarchen zu umgehen.

Das zeigen Recherchen eines Kollektivs aus ukrainischen Radio- und TV-Stationen, die bei Radio Free Europe erschienen sind: Im Jahr 2020 verkauft eine Raffinerie im russischen Nowoschachtinsk, nahe der ukrainischen Grenze, mindestens sechs Schiffsladungen an Erdölprodukten an den US-amerikanischen Energiekonzern ExxonMobile. Dieser darf mit der Raffinerie zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Jahren nicht mehr handeln, er würde damit gegen die von den USA verhängten Sanktionen verstossen. Aber das Öl, das von Russland nach Texas verschifft wird, macht einen rein buchhalterischen Zwischenhalt: Die Raffinerie verkauft es an die NewCoal Trading AG in Schaffhausen, die es an ExxonMobile weiterverkauft.

Die ukrainische Recherche belegt die Transaktionen mit Akten der amerikanischen Zollbehörde: Herkunftshafen, die Namen der Schiffe und jedes Barrel Öl sind vermerkt. Den Wert der sechs Schiffsladungen schätzen die ukrainischen Journalistinnen und Journalisten auf 150 Millionen Dollar.

Mit anderen Worten: Mit Hilfe der Schaffhauser Handelsfirma wird russisches Öl weiterhin in die USA verkauft, werden Sanktionen unterlaufen. Ein ehemaliger Berater der Kontrollbehörde des US-amerikanischen Finanzminsteriums, die für die Umsetzung von Sanktionen zuständig ist, wird in der ukrainischen Recherche zitiert: Das ist sicherlich zwielichtig und unterläuft den Rahmen der Sanktionsabsicht.»

Profiteur dieses Umgehungsgeschäfts ist neben der Schaffhauser NewCoal Trading AG vor allem ein Mann: Wiktor Medwedtschuk, persönlicher Freund und Vertrauensmann von Vladimir Putin und eine Schlüsselfigur im Vorfeld des Ukrainekriegs. 

Putins Mann in der Ukraine

Vor der Krim-Annexion war Medwedtschuk Putins Mann in der Ukraine, der wichtigste pro-russische Politiker im Land, Herrscher über ein Medienimperium und mehrere Rohstofffirmen. Putin ist der Taufpate von Medwedtschuk Tochter. Ihre Taufpatin ist die Frau von Dmitri Medwedew, der zwischen 2008 und 2012 das Amt des russischen Präsidenten von Putin kurzzeitig übernahm. Maxim Savchuk, der für Radio Free Europe am erwähnten Recherchekollektiv beteiligt ist und das Beziehungsnetz von Medwedtschuk öffentlich aufgeschlüsselt hat, erklärt der AZ auf Anfrage: «In Russland und der Ukraine ist die Tradition des Taufpatentums sehr wichtig. Meistens werden enge Freunde Pate oder Patin.»

2014 kauft Putins Intimus Wiktor Medwedtschuk die Mehrheit der Raffinerie von Nowoschachtinsk unweit der ukrainischen Grenze, die im gleichen Jahr von pro-russischen Separatisten erodiert wird. 

Wegen des Überfalls auf die Krim verhängt die USA Sanktionen gegen Wiktor Medwedtschuk. Dieser überträgt seinen Mehrheitsanteil an der Raffinerie sogleich an seine Frau und sagt öffentlich warum: «Meine Frau, Oksana Marchenko, ist nicht im Geschäft. Sie besitzt ein Unternehmen. Und ich leite das Unternehmen. Warum kann ich kein Unternehmen besitzen? Weil meine lieben Amerikaner Sanktionen gegen mich verhängt haben.» Ein bei russischen und pro-russischen Oli­garchen beliebter, aber für Regulatoren durchschaubarer Trick. Amerikanischen Unternehmen ist es dennoch verboten, Öl aus der Raffinerie von Putins wichtigstem Mann in der Ukraine zu kaufen. Darum arbeitet Medwedtschuk mit der NewCoal Trading AG zusammen, um sein Öl nach Texas zu verkaufen.

Journalist Maxim Savchuk vom ukrainischen Recherchekollektiv sagt auf Anfrage der AZ, er habe Belege für Transaktionen im Juli 2022 gefunden, also vier Monate nach Kriegsbeginn. Das heisst: Während Russland in der Ukraine wütete und eine Reihe von Kriegsverbrechen beging, lieferte die Schaffhauser NewCoal Trading AG Erdöl von Russland in die USA. Inzwischen habe sich die Frau von Medwedtschuk aber aus der Novoshakhtinsky-Raffinerie zurückgezogen – ob er die Raffinerie weiterhin lenkt, sei unklar. 

Von Sanktionen, welche die Schweiz zögerlich einführt, ist dieses Geschäft nicht betroffen. 

Die Ukraine aber eröffnet 2021 gegen Medwedtschuk ein Verfahren wegen Hochverrats und stellt ihn unter Hausarrest. Als Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einfällt, gelingt ihm mit Unterstützung des russischen Geheimdienstes FSB eine abenteuerliche Flucht, bei der laut Quellen aus Geheimdiensten mehrere Doppelgänger eingesetzt werden. Nach Informationen des polnischen Geheimdienstes hätte Medwedtschuk zum Präsidenten der neuen Ukraine ausgerufen werden sollen, wenn der russische Plan, rasch die Hauptstadt Kiew zu besetzen, gelungen wäre.

Doch daraus wird nichts: Erstens kommt der russische Angriff ins Stocken, zweitens wird Medwedtschuk im April 2022 gefasst. Anstatt ukrainischer Präsident wird er ukrainischer Häftling. Im September 2022 wird er gegen 200 Soldaten ausgetauscht, die Russland mehrheitlich nach den Kämpfen um Mariupol in Gefangenschaft genommen hat. Heute lebt Medwedtschuk wahrscheinlich in Moskau. Und plant von dort den Umsturz von Präsident Wolodimir Selenski – mit gütiger Mithilfe des russischen Vertreters der Schaffhauser NewCoal Trading AG.

Am 26. Januar 2023 tritt Medwedtschuk beim russischen Propagandasender RT in einer Talkshow auf: moderne Möbel, schwarzer Hintergrund, luftige Fragen. Medwedschuk sieht gelöst aus. Und er verkündet Grosses. Er wolle von Russland aus eine neue politische Bewegung starten, die den Mythos einer geschlossenen Ukraine entkräften soll, die hinter Selenski und seinem «kriminellen Regime» stehe. 

Wie verkauft der Oligarch Wiktor Medwedtschuk russisches Öl in die USA, obwohl diese gegen ihn Sanktionen ergriffen haben? Mit einem «Umweg» über die Schaffhauser NewCoal Trading AG.

Auf Propaganda folgen Panzer

Zeitgleich zu dieser Ankündigung expandieren Erdölfirmen und Firmenkonstrukte, die mit dem Unternehmen seiner Familie verbunden sind. Das zeigt das Beispiel des russischen Konglomerats GK Market. Die Firma besitzt mehrere Erdölproduzenten, Tankstellenketten und eine Erdölhandelsfirma. Wie das Recherchekollektiv um Maxim Savchuk rekonstruieren konnte, übernehmen im September 2022 zwei Personen aus dem Umfeld von Medwedtschuk die Kontrolle von GK Market. Einer davon: ein Mann namens Nikolay Sukhov, Leiter der russischen Niederlassung der Schaffhauser NewCoal Trading AG in Moskau. 

Die Recherche von Maxim Savchuk und seinem Team suggeriert, dass GK Market die neue politische Bewegung von Medwedtschuk finanzieren soll. Mit Hilfe des russischen NewCoal-Vertreters und Unterstützung von ganz oben: «Die Tatsache, dass Medwedtschuks Geschäfte in Russland nicht nur funktionieren, sondern sogar wachsen, und dass er beim staatlichen Propagandasender RT eine Plattform erhält, deutet darauf hin, dass Vladimir Putin ihm offenbar weiterhin vertraut», bilanziert die Recherche von Radio Free Europe.

Als die AZ bei NewCoal am Herrenacker 15 klingelt, öffnet eine Angestellte die Tür und bittet uns herein: Das moderne Grossraumbüro mit Fensterfront auf den Herrenacker ist leer, sie ist allein. Auf die Frage, wer der AZ die per Mail geschickten Fragen zum Handel mit russischem Öl beantworten könnte, betont sie freundlich, die Firma habe sich inzwischen ja umbenannt: Sie heisst seit einem Monat nicht mehr NewCoal Trading AG, sondern NewCommodity Trading AG. «Ich werde Ihre Anfrage mit meinem Manager besprechen», sagt die Angestellte zum Abschied.

Dieser Manager meldet sich aber nicht. Es handelt sich vermutlich um Kostiantyn Riabov, einen ukrainischen Geschäftsmann mit Wohnsitz in Lugano, eingesetzt von den neuen Besitzern.

Dieter Neuhoff, der die NewCoal Trading AG 1997 gegründet hat, weiss wenig über deren heutiges Geschäft. Neuhoff sagt, er habe seine Kontakte nach Russland abgebrochen und macht keinen Hehl daraus, dass er Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine aufs Schärfste verurteilt. Aber er spricht vorsichtig, wenn es um die heutigen Geschäfte der NewCoal geht. Er hat die ukrainische Recherche gelesen. Was sagt er zum Vorwurf, der pro-russische Oligarch und Putinfreund Wiktor Medwedtschuk umgehe mithilfe der NewCoal Trading AG amerikanische Sanktionen? Neuhoff zögert, wägt seine Worte genau ab. «Wenn Sie mich fragen, ob ich das ausschliessen kann, dann muss ich nein sagen. Ich weiss es nicht und will nicht spekulieren.»

Für den Journalisten Maxim Savchuk von Radio Free Europe in Kiew ist der Schaden, den die Schaffhauser Firma mit ihren Geschäften mit Wiktor Medwedtschuk angerichtet habe, fatal: «Geld für Medwedtschuk ist Geld für pro-russische Aktivitäten und für die Verbreitung russischer Propaganda. Wir können jetzt buchstäblich mitverfolgen, wie auf pro-russische Propaganda russische Panzer folgen».



Am 7. Mai 2023 wurden an diesem Text einige kleinere Anpassungen vorgenommen. Die ursprüngliche Fassung suggerierte, dass bis heute russisches Öl über die Schaffhauser Firma in die USA verkauft wurde. Belegt sind diese Geschäfte bis im Juli 2022.


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Direkter Draht zum Kanton https://www.shaz.ch/2023/03/07/direkter-draht-zum-kanton/ https://www.shaz.ch/2023/03/07/direkter-draht-zum-kanton/#respond Tue, 07 Mar 2023 09:52:46 +0000 https://www.shaz.ch/?p=7343 Ein kolumbianischer Ölkonzern fand in Schaffhausen ein attraktives Steuerdomizil. Welche Rolle spielen der Kanton und die Wirtschaftsförderung? Man kennt sich. Das ist die Kurzfassung der Antwort auf die Frage, welche Beziehungen zwischen der Briefkastenfirma Ecopetrol Capital AG und dem Kanton Schaffhausen sowie der Wirtschaftsförderung bestehen. Dass sich die konzerneigene Bank eines kolumbianischen Ölkonzerns in Schaffhausen […]

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Ein kolumbianischer Ölkonzern fand in Schaffhausen ein attraktives Steuerdomizil. Welche Rolle spielen der Kanton und die Wirtschaftsförderung?

Man kennt sich. Das ist die Kurzfassung der Antwort auf die Frage, welche Beziehungen zwischen der Briefkastenfirma Ecopetrol Capital AG und dem Kanton Schaffhausen sowie der Wirtschaftsförderung bestehen. Dass sich die konzerneigene Bank eines kolumbianischen Ölkonzerns in Schaffhausen wohl fühlt, hat auch damit zu tun, dass der Kanton seine guten Steuerzahler pflegt und betreut.

Vergangene Woche zeigte die AZ auf: Der kolumbianische Ölkonzern Ecopetrol unterhält in Schaffhausen seit 2011 eine Tochtergesellschaft. Diese dient dazu, als Bank innerhalb des Konzerns Geld von einem Unternehmensteil zum anderen zu transferieren – und grosse Gewinne ins steuergünstige Schaffhausen. (Die Geschichte können Sie hier ausführlich nachlesen.”

Insbesondere finanzierte die Ecopetrol Capital AG, deren Domizil ein unauffälliger Briefkasten an der Grabenstrasse 15 ist, den Ausbau der grössten Raffinerie Kolumbiens. Bei diesem Projekt kam es aber zu Kostenüberschreitungen von über vier Milliarden Dollar, von denen laut der kolumbianischen Justiz rund eine Milliarde in den Taschen und Ausgabenorgien korrupter Bauunternehmer verschwand.

Bis heute schuldet die Raffinerie dem Briefkasten in Schaffhausen 1,7 Milliarden Dollar. Dieser schreibt aus den Zinsen auf diesem und weiteren Darlehen grosse Gewinne – über 64 Millionen Franken waren es im Jahr 2021. Und Schaffhausen als Steuerdomizil verdient durch die Steuern, die auf diesen Gewinn sowie auf das über eine halbe Milliarde grosse Kapital des Briefkastens anfallen, kräftig mit an den Schulden, welche die kolumbianische Volkswirtschaft noch jahrzehntelang abzahlen muss.

Die AZ hat mehrmals über Briefkästen und dubiose Steuerkonstrukte internationaler Konzerne berichtet: Walmart, grösster Konzern der Welt (Ausgabe vom 27. Juli 2017) unterhält eine Schaffhauser Briefkastenfirma, diejenige des Baugiganten SBI hat nachweislich den Präsidenten Guatemalas bestochen (AZ vom 21. Februar 2019), die Traktorhändlerin Eurasia Group bringt Diktatorengeld aus Kasachstan an die Bachstrasse (AZ vom 27. Januar 2022). Und nun führt die Spur der Pesos aus dem grössten Korruptionsskandal in der Geschichte Kolumbiens nach Schaffhausen.

Was bedeutet es für die Standortstrategie und den Ruf des Kantons, dass er solche Unternehmen anzieht?

Finanzdirektorin Cornelia Stamm Hurter sagt gegenüber der AZ, dazu äussere sie sich nicht. Sie habe von den von geschilderten Vorgängen bezüglich Ecopetrol keine Kenntnis, und das Steuergeheimnis ermögliche ihr generell keine Aussage zu einzelnen Firmen.

Die Ansiedlung

Schaffhausen punktet im Steuerwettbewerb mit kurzen Wegen, wie die Wirtschaftsförderung im Rahmen des Standortmarketings betont: «Die lokalen Behörden sind flexibel, wirtschaftsnah und erreichbar.» Welche Rolle spielte das für die Ecopetrol Capital AG?

Wirtschaftsförderer Christoph Schärrer hat in den Unterlagen nachgeschaut und nichts zu Ecopetrol gefunden. In ihre Ansiedlung, welche vor seiner Zeit stattfand, sei die Wirtschaftsförderung also «nicht direkt involviert gewesen».

Folglich muss die Ansiedlung etwa so abgelaufen sein: Die Ecopetrol Capital AG, gegründet 2010 in Zürich, war damals Kundin beim Steuerberatungsbüro PricewaterhouseCoopers (PwC). Schärrer erklärt, es gehöre zur Strategie und zur Aufgabe der Wirtschaftsförderung, bei den grossen Beratungsfirmen bekannt zu sein, damit diese «die Botschafter der Schaffhauser Standortvorteile» werden. Das heisst: Schaffhausen hat die Ecopetrol Capital AG nicht direkt angesiedelt – aber dass ein PwC-Steuerberater den Standort Schaffhausen vorgeschlagen hat, ist dennoch eine indirekte Folge der Arbeit der Schaffhauser Standortförderung.

Die Pflege

Es ist bekannt, dass sich der Kanton mit seinen besten Steuerzahlern austauscht – beispielsweise wenn es darum geht, wie eine Steuerreform umgesetzt werden soll. Und die Ecopetrol Capital AG gehört dazu: Mit seinen zweistelligen Millionengewinnen ist der Briefkasten einer der 60 grössten Steuerzahler des Kantons (gemessen an Angaben der eidgenössischen Steuerverwaltung zur direkten Bundessteuer für das Jahr 2019, und seither stieg der Gewinn noch deutlich an).

Diese kleine Gruppe von Top-Steuerzahlern ist für mehr als 85 Prozent der Unternehmenssteuern im Kanton verantwortlich – Firmen wie die Ecopetrol Capital AG sind also wichtig und werden entsprechend gepflegt.
Als die AZ vergangene Woche mit Leonz Meyer sprach, dem Anwalt, der die Ecopetrol Capital AG gegründet hat und bis heute betreut, erzählte er von guten Kontakten zu den Schaffhauser Behörden: «Wir stehen in regelmässigem Kontakt mit der Steuerverwaltung und treffen uns jährlich oder alle zwei Jahre. Die Finanzdirektion, die Steuerverwaltung und die Wirtschaftsförderung informieren die interessierten Kreise regelmässig über das Steuerklima in Schaffhausen und in der Schweiz.»

Was sind das für Treffen? Finanzdirektorin Cornelia Stamm Hurter konkretisiert: Es handle sich um das sogenannte «Tax Update», das in der Regel jährlich stattfinde. Es wird von der Wirtschaftsförderung und der Steuerverwaltung organisiert, um «aktuelle relevante Informationen zu Entwicklungen im Steuerbereich» zu vermitteln, wie Andreas Wurster, Chef der kantonalen Steuerverwaltung, auf Anfrage schreibt. Im vergangenen Herbst ging es um die anstehende Umsetzung der anstehenden OECD-Mindestbesteuerung, als Gastrednerin trat Tamara Pfammatter auf, damals Botschafterin des Staatssekretariats für internationale Finanzfragen und heute Leiterin der eidgenössischen Steuerverwaltung.

Beim Treffen im Jahr 2018 ging es um die damals anstehende Steuerreform STAF – und an diesem Anlass traf Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter auf Leonz Meyer. Es sei ihr einziger Kontakt mit ihm beziehungsweise der Ecopetrol Capital AG gewesen, sagt die Finanzdirektorin. Wirtschaftsförderer Christoph Schärrer, der schon länger dabei ist als die 2017 gewählte Cornelia Stamm Hurter, erinnert sich an mehrere Kontakte mit Leonz Meyer an diesen Treffen.

Leonz Meyer gehört also zu einem Kreis von Unternehmensvertretern und Steuerberatern, die regelmässig direkt von Wirtschaftsförderung, Steuerverwaltung und Regierung eingeladen werden. Das erstaunt nicht angesichts der Steuerkraft der Ecopetrol Capital AG (nach eigenen Angaben zahlte die Firma in den Jahren 2019 bis 2021 rund 14 Millionen Franken Steuern). Ausserdem vertrat Meyer mehrere inzwischen aufgelöste oder sich in Liquidation befindende Niederlassungen von zwei anderen in Schaffhausen angesiedelten Konzernen – einer davon hat seinen Hauptsitz sogar an der gleichen Adresse wie die Wirtschaftsförderung. Mit anderen Worten: Man kennt sich.

Der Briefkasten bleibt

Ob die Ecopetrol Capital AG von inzwischen mit der STAF abgeschafften Steuerprivilegien profitiert hat, ist nicht bekannt. Leonz Meyer hat dies im Gespräch mit der AZ zwar angedeutet, aber nicht zweifelsfrei bestätigt. Unabhängig davon ist Schaffhausen für Ecopetrol offenbar weiter attraktiv, die STAF hat daran nichts verändert. Aus den Tax Reports des Konzerns geht hervor, dass die Steuerbelastung in Schaffhausen bereits heute knapp über dem von der OECD geforderten Minimum von 15 Prozent liegt. Ecopetrol hat aus steuerlicher Sicht keinen Grund, Schaffhausen zu verlassen.

Die Stadt und der Kanton auf der anderen Seite dürfen also damit rechnen, während vieler weiterer Jahre mit Steuereinnahmen in Millionenhöhe rechnen – Einnahmen, die letztlich ein Korruptionsskandal in Kolumbien verursacht hat.

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Die Spur der Pesos https://www.shaz.ch/2023/02/23/die-spur-der-pesos/ https://www.shaz.ch/2023/02/23/die-spur-der-pesos/#comments Thu, 23 Feb 2023 12:51:46 +0000 https://www.shaz.ch/?p=7302 Erdöl, Korruption und ein Briefkasten: Wie Schaffhausen vom grössten Wirtschaftsskandal der ­Geschichte Kolumbiens profitiert.von Simon Muster, Mattias Greuter (Text)und Mattia Mastroianni (Illustrationen) Wie ein Meteorit, der aus dem All stürzt, zoomt das Bild des kolumbianischen Staatsfernsehens via Google Earth zuerst auf Westeuropa, dann weiter auf die Schweiz und bleibt schliesslich in Schaffhausen stehen, an der […]

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Erdöl, Korruption und ein Briefkasten: Wie Schaffhausen vom grössten Wirtschaftsskandal der ­Geschichte Kolumbiens profitiert.
von Simon Muster, Mattias Greuter (Text)
und Mattia Mastroianni (Illustrationen)

Wie ein Meteorit, der aus dem All stürzt, zoomt das Bild des kolumbianischen Staatsfernsehens via Google Earth zuerst auf Westeuropa, dann weiter auf die Schweiz und bleibt schliesslich in Schaffhausen stehen, an der Adresse eines Treuhandbüros. Hier, erklärt der südamerikanische Journalist in den Abendnachrichten vom 21. März 2017, «in dieser kleinen Schweizer Stadt mit wenig Bankenaktivität», sitze jene Firma, welche eine Schlüsselrolle in einem milliardenschweren Korruptionsfall spiele: die Ecopetrol Capital AG. Eine Gaunerbande sei das, ¡qué hampones!, kommentiert ein kolumbianischer Journalist die Recherche auf Twitter: «Der Schlüssel zum Raub von Reficar liegt in der Schweiz, in Schaffhausen.»

In Kolumbien steht die Öl-Raffinerie Reficar für den grössten Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes. Dieser hat den Staat mehr als vier Milliarden Dollar gekostet. Behörden, NGOs und die Presse sind bis heute mit der Aufarbeitung beschäftigt.

In der Schweiz hingegen bleibt der Fall praktisch unbemerkt. Dabei stand am Anfang des Debakels der Zuger Rohstoffgigant Glencore. Und: Das Geld für das Raffinerieprojekt, bei dem Unsummen in der Korruption versickert sind, floss durch eine Briefkastenfirma in Schaffhausen.

Der Schaffhauser Fiskus profitiert bis heute vom kolumbianischen Skandal, heute noch fliessen jährlich Millionen von Franken in die Kassen von Stadt, Kanton und Bund.

Die AZ hat Finanzberichte und Steuerreports analysiert, mit Expertinnen in der Schweiz und in Kolumbien gesprochen und den Mann konfrontiert, der die Briefkastenfirma in Schaffhausen bis heute führt: die Ecopetrol Capital AG. 

La refinería

Ecopetrol, so heisst der mehrheitlich staatliche Ölkonzern von Kolumbien. Mit einem Umsatz von 17,4 Milliarden Franken (2021) ist Ecopetrol Kolumbiens grösstes Unternehmen. Auf der Website dominieren Regenwaldlandschaften, das Logo des Konzerns ist ein grüner Leguan.

Cartagena, Kolumbien: Der Ölkonzern Ecopetrol plant den Ausbau seiner grössten Raffinerie.

Zwischen 2010 und 2016 realisierte Ecopetrol das ehrgeizigste Industrieprojekt in der Geschichte des Landes: die ­Modernisierung und Vergrösserung der wichtigsten Raffinerie Kolumbiens, der Refinería de Cartagena – kurz Reficar. Die Kapazität des gigantischen Industriekomplexes im Norden des Landes sollte auf 165 000 Fässer Öl pro Tag mehr als verdoppelt werden. Kostenpunkt des Projekts: 3,3 Milliarden Dollar.

51 Prozent von Reficar gehörten dem Schweizer Rohstoffkonzern Glencore. Dieser sicherte sich 2007 in einem Bieterverfahren die Mehrheitsbeteiligung an Reficar – mit einem Betrag, der verdächtig nahe am angeblich geheim gehaltenen Minimalgebot des kolumbianischen Staats lag.

Ein Jahr später holte Glencore eine amerikanische Baufirma an Bord und schloss mit ihr Verträge für Planung, Beschaffung und Bau des Grossprojekts Reficar ab. «Das war eine bemerkenswerte Entscheidung, weil weder die Baufirma noch Glencore je eine Raffinerie gebaut oder geleitet hatten», sagt die Politologin und kritische Beobachterin des kolumbianischen Ölsektors, Katherine Casas gegenüber der AZ.

2009, inmitten einer Finanzkrise, stieg Glencore überraschend aus dem Projekt aus und verkaufte seine Anteile mit Verlust zurück an Ecopetrol. Ein Vorgehen, das bis heute umstritten ist. Ecopetrol hingegen blieb auf den Verträgen mit der Baufirma sitzen – ein Umstand, der sich nur wenige Jahre später rächen sollte.

El banco

Im Dezember 2010 gründet Ecopetrol in Zürich seine eigene Bank innerhalb des Konzerns: die Ecopetrol Capital AG. Kurz darauf wird diese nach Schaffhausen verlegt. Über die günstige Besteuerung gibt es bis heute gute und regelmässige Kontakte mit der Schaffhauser Steuerverwaltung. Das verrät der AZ der Gründer der Firma, ein Mann namens Leonz Meyer – mehr zu ihm gleich.

An der Grabenstrasse, wo die Ecopetrol Capital AG domiziliert ist, gibt es keine Angestellten – sie ist eine klassische Briefkastenfirma. Trotzdem ist sie für den milliardenschweren kolumbianischen Ölkonzern Ecopetrol eine wichtige Finanzdrehscheibe. Dies aus zwei Gründen: Einerseits ist Schaffhausen ein Steuerparadies. Ecopetrol, das zeigten die Paradise Papers, betreibt ein ganzes Netzwerk von Steuerdomizilen: in Panama, auf den Cayman Islands, auf Bermuda – und in Schaffhausen.

Andererseits kennt Kolumbien, um den Drogenhandel zu bekämpfen, strenge Gesetze, welche das Verschieben von Geld über Landesgrenzen hinweg erschweren. Für Ecopetrol, die Tochterfirmen in Peru, den Vereinigten Staaten oder der Schweiz besitzen, ist das aber ein Problem: Eine konzerninterne Bank wie der Briefkasten in Schaffhausen ermöglicht es, schnell und unkompliziert Geld von einem Firmenteil zum nächsten zu verschieben. 

Das funktioniert folgendermassen: Ecopetrol investiert Geld aus erfolgreichen Unternehmensteilen in Form von Darlehen an den Briefkasten in Schaffhausen. Dieser wiederum vergibt Kredite mit etwas höherem Zins an andere Tochterfirmen, vor allem an die Reficar, die damit die gigantische Raffinerie ausbaut. Der Gewinn der Ecopetrol Capital AG besteht aus der Differenz der Zinsen.

Die Spur der Pesos: Ecopetrol finanziert seine Raffinerie über einen Briefkasten in Schaffhausen. Beim Bau verschwinden riesige Beträge in der Korruption. Gleichzeitig und bis heute schreibt der Briefkasten hohe Gewinne und versteuert sie in Schaffhausen.

In den vergangenen zehn Jahren wechselte die Firma innerhalb von Schaffhausen mehrmals die Adresse, vom Briefkasten einer Treuhandfirma zum nächsten, auffällig oft wechselte sie auch die Revisionsstelle. Im Verwaltungsrat ist nur ein Mann seit dem ersten Tag mit an Bord: Dr. Leonz Meyer, Anwalt im Kanton Basel-Landschaft, Honorarkonsul für die Republik Slowakei in der Schweiz und Verwaltungsratspräsident der Ecopetrol Capital AG und einiger weiterer Konzerne. Daneben hat er eine Firma mit aufgebaut, die Schweizer Verwaltungsräte an internationale Unternehmen vermittelt. Hätte das Briefkasten-Steuerparadies Schweiz ein Gesicht, es wäre das von Leonz Meyer.

Wie Meyer die Schaffhauser Briefkastenfirma führt, zeigt beispielhaft das Protokoll einer ausserordentlichen Generalversammlung der Ecopetrol Capital AG, das beim Schaffhauser Handelsregisteramt hinterlegt ist und das der AZ vorliegt.

Am 29. Februar 2012 empfängt im Notariat Zürich Altstadt eine Mitarbeiterin die Ecopetrol Capital AG. Diese ist durch eine einzige Person vertreten: Leonz Meyer.

Leonz Meyer: Honorarkonsul der Slowakei, Verwaltungsrat und Verwaltungsratsvermittler der Grosskonzerne.

Dieser «übernimmt den Vorsitz und amtet gleichzeitig auch als Protokollführer und Stimmenzähler». Er stellt fest, dass er allein das Aktienkapital von 100 000 Franken vertritt und die anderen Verwaltungsratsmitglieder – Männer und Frauen aus der Ecopetrol-Chefetage im fernen Bogotá – auf Anträge verzichten. «Gegen diese Feststellungen des Vorsitzenden wird kein Widerspruch erhoben», steht im Protokoll. Nun wird «einstimmig» beschlossen, das Aktienkapital um 115 Millionen Franken zu erhöhen. Meyer legt der Versammlung, also sich selber, ein Schreiben der Credit Suisse vor, das besagt, dass das Geld, insgesamt 130 Millionen Dollar, bereits eingetroffen sei. Dann schliesst Meyer die Sitzung, die Notariatsmitarbeitende zückt den Stempel.

Zweieinhalb Jahre später wiederholt sich die Szene, dieses Mal erhöht Leonz Meyer das Aktienkapital um weitere 85 Millionen Franken.

Viel höher als das Eigenkapital sind die Kredite, welche die Ecopetrol Capital AG vergab. Für die Erweiterung der Raffinerie flossen zwischen 2011 und 2014 Kredite in der Höhe von 2,2 Milliarden Dollar durch den Briefkasten in Schaffhausen – eine schwer vorstellbare Summe. Würde man sie in 100-Franken-Noten sauber bündeln, man bräuchte fast 1000 Briefkästen handelsüblicher Grösse, um das ganze Geld darin zu stapeln.

Ein Briefkasten ohne Angestellte, durch den Milliarden fliessen – das klingt undurchsichtig, ist aber legal. Weil die Kosten des Raffinerieprojekts, das mit Milliarden von Schaffhausen aus finanziert worden waren, aus dem Ruder liefen, beschäftigten sich jedoch bald kolumbianische Finanzbehörden mit der Ecopetrol Capital AG in Schaffhausen.

La corrupción

Im Grunde haben die Angestellten im Büro des obersten kolumbianischen Rechnungsprüfers einen langweiligen Job: Sie überprüfen, ob sich der Staat und seine Konzerne an geltendes Recht halten. Dafür wühlen sie sich durch unzählige Excel-­Tabellen, analysieren Rechnungsabschlüsse, sammeln Daten.

2015 war Reficar an der Reihe, die Raffinerie, die sich nach dem Austritt von Glencore vollständig im Besitz der kolumbianischen Ecopetrol befand. Die Rechnungsprüfer hatten gute Gründe, misstrauisch zu sein, denn immer wieder waren Kostenüberschreitungen bekannt geworden.

Nun aber entdeckten die Rechnungsprüfer einen gigantischen Korruptionsberg: Die Modernisierung der Raffinerie, die einst auf rund 3,3 Milliarden US-Dollar veranschlagt worden war, hatte inzwischen eine Rechnung von über acht Milliarden angehäuft. Über vier Milliarden US-Dollar waren innerhalb von zehn Jahren verpufft, ein Grossteil davon auf sehr dubiose Weise.

Es sei der ultimative Korruptionsfall, ­titelte die linke Wochenzeitung Voz, es sei der grösste Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes, titelte die liberale Tageszeitung El Espectador.

Wie konnte das passieren?

Für den Bau der Raffinerie vergab die verantwortliche Baufirma rund 2500 Aufträge. Jeder fünfte davon kostete schliesslich mehr als das Doppelte des vereinbarten Preises. Die Rechnungsprüfer entdeckten gar Fälle mit Kostenüberschreitungen von bis zu 2000 Prozent. Fast eine Milliarde Dollar der Mehrkosten standen gemäss einem Bericht der Antikorruptions-Taskforce «in keinster Weise» im Zusammenhang mit dem eigentlichen Projekt. 

2019 zeigte sich, dass die Staatsanwaltschaft zudem auf üppige Ausgaben für Flugtickets, Luxusrestaurants, Alkohol und mehrtägige «Partys mit Frauen» im Wert von rund 150 Millionen Dollar gestossen war. Allein 16 Millionen flossen in die Prostitution. Gemäss einem Journalisten von Columbia Reports handelte es sich um «die grösste Ausgabenorgie seit dem Bau des Privatzoos von Pablo Escobar in den 1980er Jahren». Im August 2022 wurden zwei ehemalige Präsidenten von Reficar erstinstanzlich zu fünf Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt. 

Das Geld ist weg, die Schulden bleiben. Der «gigantische Schuldenberg», den das Projekt hinterlassen habe, werde die kolumbianische Gesellschaft bis 2046 abbezahlen müssen, sagt die Politologin Katherine Casas gegenüber der AZ. Ein Grossteil dieser Schuld ist bei der Bank in Schaffhausen fällig und stammt aus den erwähnten Darlehen der Ecopetrol Capital AG an Reficar im Wert von 2,2 Milliarden US-Dollar. Heute schuldet die Raffinerie in Cartagena dem Briefkasten in Schaffhausen noch rund 1,7 Milliarden US-Dollar.

Im Oktober 2021 wurde amtlich konstatiert, dass mit der Reficar-Vizepräsidentin Magda Nancy Manosalva auch eine ehemalige Verwaltungsrätin der Schaffhauser Firma für einen Teil der enormen Kostenüberschreitungen verantwortlich ist.

Und Leonz Meyer, der Mann, der das Geld von Schaffhausen nach Kolumbien überwiesen hatte? Hat er den grössten Korruptionsskandal in der Geschichte des südamerikanischen Landes mitfinanziert? «Als ich von den Reficar-Vorwürfen hörte, hatte ich keinen Grund zur Annahme, dass etwas nicht stimmt. Aber ich habe bei uns genauer hingesehen und gesehen, dass alles richtig gemacht wurde», sagt er. Ein Rechtshilfegesuch aus Kolumbien an die Schweiz oder ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft Bogotá an ihn habe es nie gegeben.

Der Briefkasten in Schaffhausen bleibt also unangetastet. Die kolumbianische Rechercheurin Katherine Casas sagt dazu: «Auch wenn die Absicht hinter diesen mysteriösen Finanzgeschäften vielleicht gut war – solche Vehikel werden immer für betrügerische Geldbewegungen verwendet. In diesem Fall und in diesem Ausmass zum erheblichen Schaden für unser Land.»

Milliones para Schaffhausen

Schaffhausen hingegen profitiert bis heute vom Korruptionsskandal: in Form von Steuern in Millionenhöhe. Die Ecopetrol Capital AG verdient weiterhin Geld mit den Zinsen auf den Schulden von Reficar. Geld, das die kolumbianische Volkswirtschaft noch über 30 Jahre lang abstottern muss. 

Die Gewinne einer Briefkastenfirma bleiben meist im Dunkeln. Aber: Ecopetrol gehört seit 2007 nicht mehr allein dem kolumbianischen Staat, Teil der Aktien wird an der Börse in New York gehandelt. Deshalb muss der Erdölkonzern jedes Jahr das «Form 20-F» ausfüllen, ein komplexes Formular für die amerikanischen Behörden, das Einblick in die Abschlüsse aller Tochtergesellschaften gibt und das öffentlich zugänglich ist.

Riesige Gewinne beim Briefkasten in Schaffhausen. Die Beträge sind aus Kolumbianischen Pesos in Franken umgerechnet, jeweils zum Wechselkurs am Ende des Jahres.

Diese Unterlagen zeigen: In den Jahren 2015 bis 2021 wies der Schaffhauser Briefkasten im Durchschnitt 45 Millionen ­Gewinn aus. Das Kapital wuchs in der gleichen Zeit kontinuierlich auf mehr als eine halbe Milliarde Franken.

Wie viel davon in die Schaffhauser Staatskassen floss, sagt die kantonale Steuerverwaltung nicht. Der AZ liegen aber die Steuerreports des Ölkonzerns für die Jahre 2019 bis 2021 vor. Sie enthalten die Höhe der gezahlten Steuern aller Tochtergesellschaften – auch die der Ecopetrol Capital AG in Schaffhausen.

In diesen drei Jahren hat der Schaffhauser Briefkasten über 14 Millionen Franken Steuern in der Schweiz bezahlt, von denen nach Berechnungen der AZ etwas mehr als die Hälfte an Stadt und Kanton geflossen sein dürfte. Diese Zahlen decken sich mit den Angaben, die Leonz Meyer im Gespräch mit der AZ macht.

Damit gehört die Ecopetrol Capital AG, die die Schulden des Reficar-Skandals verwaltet, zu den grössten Steuerzahlern im Kanton. Für Leonz Meyer eine Erfolgsgeschichte: «In der Schweiz angesiedelte ausländische Unternehmen zahlen dem Schweizer Fiskus jährlich Millionen an Steuern. Das sind Steuern, die wir als Schweizer Bürger nicht bezahlen müssen.»



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Dieser Text entstand mit finanzieller Unterstützung des AZ-Recherche­fonds «Verein zur Demontage im Kaff». Der Fonds fördert kritischen, unabhängigen Lokaljournalismus in der Region Schaffhausen, insbesondere investigative Recherchen der Schaffhauser AZ.

Spenden an den Recherchefonds: IBAN CH14 0839 0036 8361 1000 0


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