Dünne Luft

22. Dezember 2025, Simon Muster
Montage: Robin Kohler
Montage: Robin Kohler

Im August berichtete die AZ über einen millionenschweren Steuerdeal zwischen dem Kanton und einem US-Unternehmen. Nun hat die OECD dieses Schlupfloch geschlossen. Was bedeutet das für Schaffhausen?

«Geschätzter Kollege, Sie wollen mit Ihrer Motion die strategische Standortattraktivität steigern, explizit über Steueranreize, wie Sie es nennen würden. Wir würden es eher Steuerdumping nennen.» 

-– Jacqueline Badran, Zürcher Nationalrätin der SP

Diesen Montag debattierte der Nationalrat über neue Regeln der OECD zur globalen Mindeststeuer, die spezifisch auf die Schweiz und noch spezifischer auf den Kanton Schaffhausen abzielen. 

Die Vorgeschichte: 

Seit 2024 ist die globale Mindeststeuer in Kraft, seither müssen grosse, international tätige Unternehmen mit einem Umsatz von 750 Millionen Euro und mehr mindestens 15 Prozent Steuern auf ihren Gewinn bezahlen. Die Schweiz war nie Feuer und Flamme für die internationale Steuerrevolution. 

Schaffhausen erst recht nicht. 

Die Schweiz ist eine der grössten Profiteure des internationalen Steuerwettbewerbs. Eine Datenbank der Universitäten Kalifornien, Berkley und Kopenhagen, die regelmässig aktualisiert wird, zeigt, dass 39 Prozent der in der Schweiz eingenommenen Unternehmenssteuern von Profiten internationaler Firmen stammen, die diese zur Steuervermeidung in die Schweiz transferieren. 

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich viele internationale Unternehmen, besonders aus den Vereinigten Staaten, im Kanton Schaffhausen niedergelassen. Als es darum ging, die globale Mindeststeuer ins kantonale Gesetz zu giessen, höhlte sie die Regierung (mit Unterstützung der Linken im Kantonsrat, AZ vom 2. Oktober 2025) so weit wie möglich aus. 

Die Regeln der globalen Mindeststeuer sind auf hunderten, selbst für geschulte Geister kaum durchdringbaren Seiten festgehalten. Die kantonale Steuerverwaltung stellte deshalb bereits 2023 zwei Fachspezialisten an, die das Regelwerk durchforsteten. Doch auch im verworrensten Regelwerk verstecken sich Schlupflöcher. 

300 Millionen abgeschrieben

Als die AZ im August 2024 publik machte, dass der US-amerikanische Autozulieferer Aptiv trotz globaler Mindeststeuer von einem mehrere hundert Millionen schweren Steuergeschenk des Kantons profitiert hatte, rieben sich Steuerexpert:innen die Augen. Das Unternehmen, das inzwischen auch seinen Hauptsitz von Dublin nach Schaffhausen verlegt hat, schrieb in seinem Jahresbericht, das Unternehmen habe eine Steuererleichterung von schätzungsweise 330 Millionen Franken für den Zeitraum von zehn Jahren erhalten. 

Zum Vergleich: Das entspricht fast dem Dreifachen der gesamten Unternehmenssteuern, die der Kanton im Jahr 2023 eingenommen hat. Die AZ klopfte bei Wirtschaftsprofessoren, Treuhändern und Steuerexperten an und fragte, ob, warum und vor allem wie solche Steuergeschenke nach der Einführung der globalen Mindeststeuer überhaupt noch möglich seien. Die meisten konnten sich den Mechanismus hinter dem Schlupfloch nicht erklären. Dominik Gross von Alliance Sud hatte eine Vermutung: Hinter dem millionenschweren Steuergeschenk für Aptiv könnte ein besonders undurchsichtiger Steuertrick stecken: der «Step up». Er erlaubt es Firmen, die sich neu in der Schweiz niederlassen, bisher unversteuertes Eigenkapital (zum Beispiel Patente) aufzudecken und während maximal zehn Jahren vom steuerbaren Gewinn abzuziehen – was zu einer effektiven Steuerlast von deutlich unter den von der OECD vorgeschriebenen 15 Prozent führen kann.

Seit vergangener Woche ist nun klar: Der Steuerexperte hatte mit seiner Vermutung recht, der Kanton hatte Aptiv einen Step up gewährt. 

Doch nun verbietet eine bisher wenig beachtete Änderung im dichten OECD-Regelwerk genau diesen Steuertrick – und stellt Schaffhausen vor ein Problem.

Ende vergangene Woche berichteten die Zeitungen von CH Media, mit Verweis auf die Aptiv-Recherche der AZ, über die Verschärfung, welche die OECD im Januar 2025 auf Druck der abtretenden US-Regierung von Joe Biden beschlossen hatte. Faktisch bedeutet diese, dass Deals wie jene zwischen dem Kanton Schaffhausen und Aptiv nicht mehr erlaubt sind, und zwar rückwirkend. Darunter sollen alle Abmachungen fallen, die nach dem 30. November 2021 geschlossen wurden. 

Während die Verschärfung in der Öffentlichkeit bisher kaum registriert wurde, hat sie am Hauptsitz von Aptiv an der Spitalstrasse bereits Anfang Jahr für Kopfschmerzen gesorgt. CH Media zitiert aus dem Quartalsbericht des Autozulieferers, aus dem ersichtlich wird, dass das Unternehmen den grössten Teil (rund 300 Millionen Franken) des Schaffhauser Steuergeschenks bereits abgeschrieben hat. Das heisst: Aptiv weiss, dass es die in Schaffhausen gesparten Steuern anderswo wird zahlen müssen.

Wie viele weitere Unternehmen mit ähnlichen, nun verbotenen Deals an den Rhein gelockt wurden, möchte Finanzdirektorin Cornelia Stamm Hurter auf Anfrage mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht bekannt geben. Mindestens ein weiterer Konzern in der Region rechnet aber bereits mit höheren Steuern: die FMC Corporation, ein US-amerikanischer Chemiekonzern, der 2023 eine Tochterfirma in Neuhausen eröffnet und dafür millionenschwere Steuererleichterungen vom Kanton erhalten hat (AZ vom 25. April 2025). 

Die Beispiele Aptiv und FMC zeigen: Die Schweiz und Kantone wie Schaffhausen, die eine agressive Steuerpolitik fahren, büssen durch das angepasste Regelwerk an Attraktivität für Konzerne ein. 

Hurters in New York

Das macht die Schaffhauser Regierung nervös. Im Februar 2025 begleitete Cornelia Stamm Hurter ihren Ehemann, Nationalrat Thomas Hurter, im Rahmen des «Parliamentary Hearing at the United Nations» nach New York zu einem Lunch des Schweizer Generalkonsultats und des Swiss Buisness Hub. Der Swiss Buisness Hub ist Teil des Generalkonsulats und unter anderem dafür zuständig, bei US-Firmen Werbung für den Wirtschaftsstandort Schweiz zu machen. Am Lunch anwesend waren neben einer Delegation von Schweizer  Parlamentarier:innen ein Vertreter der Schweizerischen Botschaft sowie der stellvertretende Generalkonsul, wie Stamm Hurter auf Anfrage bestätigt. «Ich war als Begleitung meines Ehemanns, der Präsident der Schweizer Delegation der Interparlamentarischen Union ist,  in New York und habe alle Kosten selbst getragen.» Sie habe beim Lunch die Möglichkeit genutzt, die Interessen des Wirtschaftsstandorts Schaffhausens zu platzieren.

Vom Zeitpunkt der geänderten OECD-Regeln im Januar 2025 sei die Regierung überrascht gewesen, so kurz vor der Amtseinführung von Donald Trump – «obwohl bekannt war, dass seine Administration Vorbehalte gegenüber diesen Regelungen hat». «Es ist bereits deutlich erkennbar, dass die Trump-Administration alles daran setzt, die USA als Standort für international agierende US-Unternehmen wieder attraktiver zu machen. Wie erfolgreich diese «America-First»-Politik sein wird, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen.»

Dominik Gross von Alliance Sud hält wenig davon, dass die Schaffhauser Regierung nun mit dem Finger auf die Vereinigten Staaten zeigt. «Gewissen OECD-Ländern – nicht unbedingt den USA – ist die Schweizer Steuerdumping-Politik nach wie vor ein Dorn im Auge. Dass sie jede Gelegenheit nutzen, um spezifische Schweizer Schlupflöcher zu schliessen, ist völlig legitim.» 

Gross sagt, dass die Schweiz gerade beim Step up nicht auf Unterstützung anderer Steueroasen wie Irland, Singapur oder Luxemburg zählen kann, da der Steuertrick eine Schweizer Eigenheit sei und diese somit konkurrenziere. Dazu passt: Aptiv übersiedelte nicht etwa aus den Vereinigten Staaten, sondern aus Irland nach Schaffhausen.  

Die neuen Regeln brächten im Vergleich mit den Konkurrenzstandorten keinen Nachteil für die Schweiz, sie würden lediglich ein exklusives Schweizer Privileg unterbinden. «Kantone wie Schaffhausen oder Zug, die viele Firmen mit dem Step up angezogen haben, geraten jetzt unter Druck.»

Zu spät für die Steuererklärung

Das führt zurück zur Nationalratsdebatte von Anfang Woche. Als Reaktion auf die Regelverschärfung der OECD reichten die Wirtschaftskommissionen des National- und Ständerats, in letzterer sitzt SVP-Mann Hannes Germann, Mitte Oktober eine Motion ein. Darin fordern die Wirtschaftspolitiker:innen, dass die verschärften Regeln erst für Abmachungen gelten sollen, welche die Kantone ab dem 1. Januar 2025 mit Konzernen getroffen haben. 

Konzerne wie Aptiv könnten so weiter von ihren Steuergeschenken profitieren, der Kanton dürfte einfach künftig keine neuen Unternehmen mit einem Step up nach Schaffhausen locken (oder, in den Worten von Jacqueline Badran: kein Steuerdumping mehr betreiben).

Cornelia Stamm Hurter wird die Debatte am Montag im Nationalrat also mit Erleichterung verfolgt haben: Die bürgerliche Mehrheit stimmte für die Motion. Zwar hatte sich der Regierungsrat nie öffentlich für oder gegen das Geschäft geäussert, Ständerat Hannes Germann bezeichnet den Entscheid des Nationalrats in einer Mail an die AZ aber als «in unserem (SH) Sinne».

Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) argumentierte hingegen erfolglos, dass der Bundesrat den Vorstoss frühestens im Herbst 2026 umsetzen kann – zu spät für die betroffenen Unternehmen, die ihre Steuererklärung bis spätestens Mitte 2026 eingereicht haben müssen. Ein weiteres Problem: Die OECD könnte der Schweiz, sollte sie sich nun um die neuen Regeln foutieren, den sogenannten Q-Status entziehen. Dieser ist eine Art Gütesiegel und signalisiert, dass die Schweiz sich an die Regeln hält. Gleichzeitig garantiert er Unternehmen in der Schweiz, dass sie nicht zusätzlich von anderen Ländern besteuert werden können. Sollte die Schweiz durch die Umsetzung der Motion den Status verlieren, «könnten sich für viele Schweizer Unternehmen erhebliche Nachteile ergeben.» Das schreibt ausgerechnet der Wirtschaftsverband Swissholding in einer Stellungnahme zur Motion. 

Diese wird am Erscheinungstag dieser Zeitung im Ständerat diskutiert. Die Debatte dürfte interessant werden: Die meisten Kantone lehnen sie ab. Angesichts der breiten Front gegen die Motion fragte die Winterthurer SP-Nationalrätin Céline Widmer deshalb in der Debatte am Montag: «Welchem Interesse dient dieser Aktivismus, den die Wirtschaftskommissionen hier an den Tag legen?»

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