«Braco weiss, wieso du vor ihm stehst»

20. Dezember 2025, Mascha Hübscher
Screenshot YouTube
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In Singen trat am Sonntag ein Wunderheiler auf, der seit 30 Jahren seinen Blick verkauft. Der Genesungs-Selbsttest.

An Rennen, wie ich es sonst mehrmals pro Woche tue, ist gerade nicht zu denken. Seit Monaten schmerzt mein Sprunggelenk, in der Sehne ist ein Riss – das dauert, sagen alle, die es wissen müssen. Bisher hat mir die Schulmedizin zwar noch immer auf die Beine geholfen, aber Spass machen ihre Methoden nicht.

Da scheint in der dezemberlichen Dunkelheit zwischen Physiotherapie und KSS-Becken, wohin ich mein Training zwischenzeitlich verlegt habe, plötzlich ein Licht auf. Am Morgen des dritten Advents, so lese ich, ist ein wandelndes Wunder in Singen zu Gast. 

Braco (ausgesprochen wie Bravo, einfach mit z) nämlich, ein Mann mit langem grauem Haar und Hundeaugen, kann kraft seines Blickes Menschen heilen. Das sagen zumindest Vornamen aus aller Welt auf seiner Website: Eine berichtet von einen Mann, der im Rollstuhl zur Begegnung mit Braco kam und den Saal gehend verliess; ein Langzeitarbeitsloser habe nur drei Tage, nachdem der Wundermann ihm in die Seele geblickt hatte, einen neuen Job gefunden. 

Sich selbst sieht Braco allerdings nicht als Heiler; «Hilfe geben» nennt er sein Metier, das ihn über drei Jahrzehnte zum Millionär gemacht hat, wie mehrere Zeitungen schreiben.

Zwar finden sich auch Einschätzungen von Sektenexperten, die Bracos Business als bedenklich einstufen, im Volkshaus Zürich darf der Guru neuerdings nicht mehr auftreten und Schwangere und Kinder sind zu den Begegnungen nicht zugelassen. Aber, so denke ich irgendwann bei aller Skepsis, ist denn ein begeistertes Statement von Supermodel Naomi Campbell gar nichts mehr wert? Immerhin hat gar die UN dem Mann mit den Hundeaugen einen Friedenspfahl verliehen.

Gegen läppische 20 Euro Eintritt (günstiger als jede Franchise) eine Chance darauf haben, beschwerdefrei aus der Stadthalle zu sprinten? Einen Versuch ist es wert.

Fremdkörper in der Schafherde

Der Sonntagmorgen ist grau, doch kaum betrete ich die Stadthalle, ist die Welt eine andere. Auf mehreren weiss betuchten Tischen liegen Rosen, Bücher mit dem Antlitz des Heilers, Schmuck und goldene Kerzen in Sonnenform blitzen auf. 

Das Foyer füllt sich, doch ich bleibe mit 30 Jahren Abstand die Jüngste, in Jeans und Faserpelz hochgradig underdressed. Eine alte Dame im Rollstuhl hat drei von Bracos Kinderbüchern auf dem Schoss, überall bilden sich Grüppchen von Leuten, die einander zu kennen scheinen. 

Mir wird unwohl. Erst ein Zwicken im Fuss erinnert mich: Nein, ich bin schon richtig hier. 

Kurz vor zehn Uhr bittet eine laute Männerstimme endlich in den Saal und ziemlich bestimmt darum, die Handys auszumachen. Im länglichen Raum ertönt atmosphärische Musik, auf der Bühne thronen links und rechts Blumensträusse. Mir scheint, als versammelten wir uns zu einer Abdankung. Ich setze mich in eine der hinteren Reihen, zu allen Seiten lassen sich die weiss gekleideten Menschen nieder, die zuvor hinter den Verkaufstischen standen. Männer mit Gelfrisur positionieren sich seitlich, um die Menge im Blick zu haben. Etwa 40 Leute sind gekommen, etwa 10 Crewmitglieder passen auf uns auf, als wären wir ihre Schafherde. 

Statt Braco betritt eine blonde Frau mit Mikrofon die Bühne. Würde sie nicht permanent wiederholen, wie heilsam die Kräfte des Heilers, der sich selbst nicht so nennt, sind, wäre ihre säuselnde Stimme sogar entspannend. Die Frau fragt, wer zum ersten Mal da sei – blitzartig gehen drei Hände in den ersten zwei Reihen in die Höhe. Ich behalte meine unten und glaube zu spüren, wie mich der Blick eines Hirten von der Seite trifft. Mein Fuss pocht.

Auftritt Augapfel

Dann, nach geschlagenen 25 Minuten, ist es endlich so weit. Wir sollen aufstehen, sagt die Frau, und Braco immer in die Augen sehen. Ich entkreuze meine Beine und tue, wie mir geheissen. 

Braco schiesst viel hastiger als gedacht aus einer Seitentür und stellt sich mittig auf die Bühne. Er trägt ein dunkelblaues Samtsakko, die Haare sind kürzer als auf den Bildern. Ganz langsam lässt er den Blick von links nach rechts schweifen.

Ich sehe seine Augen, diese heilenden Äpfel, kaum, die Frau vor mir tigert hin und her, weil ihr ein grossgewachsener Crewmann die Sicht versperrt. Eine andere Besucherin schräg vor mir beginnt wie wild zu zittern, als würden Stromströsse durch sie hindurchgejagt. Nach einer Minute hört das Zittern auf und sie beginnt zu schwanken, bedrohlich weit nach hinten, sodass ich vor meinem inneren Auge schon sehe, wie sie bald auf dem Stuhl zusammenklappt. Die zitternde Frau hält ein Foto vor sich hin, die Tigernde und ihre Nachbarin auch. Allzu lange kann ich aber nicht hinsehen. Der Aufpasser hat noch jedes Mal meinen Blick gefangen, schweifte er zu weit ab.

Da bimmelt ins ruhige Starren plötzlich ein Weckergeräusch hinein, worauf ein Weissgewandeter panisch davonspringt und sein Handy zum Schweigen zu bringen versucht. Die im roten Zweiteiler neben mir, auch Teil von Bracos Stab, verwirft die Hände.

Das Blut schiesst mir in die Füsse. Ich müsste mich dringend bewegen, traue mich aber nicht. Ich hätte vorher wohl etwas essen sollen, fällt mir irgendwann auf. Braco zieht die Mundwinkel hoch, da muss ich auch ein bisschen lächeln. Ausser Unwohlsein spüre ich aber nichts. Es ist alles dermassen absurd. Der heilende Blick, so scheint mir, kommt gar nicht bei mir an.

Und dann, bevor ich es geschafft hätte, mich mal nur auf Bracos Augen zu konzentrieren, verschwindet der Wundermann schon wieder von der Bühne. Keine fünf Minuten müssen das gewesen sein. 

Die Gemeinde setzt sich wieder, die blonde Frau fragt die Novizen in den vorderen Reihen, wie es ihnen ergangen sei. Sie haben eine Energie gespürt, eine unglaubliche Wärme, eine Horizonterweiterung. Eine Vierte sagt, fast entschuldigend, sie habe gar nichts gespürt. Fast entfährt mir ein Halleluja. Die Moderatorin nickt verständnisvoll: «Nicht alle spüren etwas – und man spürt nicht immer dort etwas, wo man denkt, dass das Problem war. Braco aber weiss, wieso du vor ihm stehst.» Manchmal komme der Effekt auch erst später, wenn man ihn gar nicht mehr mit der Begegnung in Verbindung bringt. Nach 33 Minuten ist der ganze Spuk vorbei.

Als ich aus dem Saal gehe, sind die Schmerzen in meinem Fuss weg. Irritiert gehe ich zum Ausgang, wo mir eine Frau in Weiss ein Sträusschen Rosen in die Hand drückt, das ich dankend ablehne, was sie wiederum ablehnt. 

Draussen muss ich mich an einer roten Ampel kurz sammeln. Als ich bei Grün wieder loslaufe, zieht es im rechten Fuss. Ich bin erleichtert.

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