Higgs Chicks wollen sich nicht von Country-Stereotypen fesseln lassen. Ihr erstes Album ist ein melancholischer Beitrag zum Genre – und sprengt dessen Ketten.
Wir sind alle kleine Würmchen
Die viel müssen und nichts wollen
Wir folgen unserem Kopfe
Und das Herz sitzt im Schwanz
Wir singen laute Lieder
Über unsern Untergang
Doch hören tun wir gar nichts
Es sind keine Ohren dran
Was ist der Mensch, wenn nicht ein Tier mit Allüren: ein Wesen mit mindestens so viel Begabung zur Vernunft wie zur Selbstzerstörung, das eigentlich so viel weiss und im entscheidenden Moment doch ratlos ist. Wird es die Katastrophe dereinst überleben, wenn es sie nicht abwenden kann?
Es sind hilflose Strophen, die Beat Wipf da anstimmt. Aber in seinem Tonfall liegt kein Klagen – höchstens etwas Endgültiges. «Würmchen» ist einer der auffälligsten Tracks auf der Platte, die er zusammen mit Marc Zimmermann vor Kurzem veröffentlicht hat. «Doomscrolling mit Kurt» heisst diese (Doomscrolling bezeichnet das exzessive Lesen negativer Nachrichten im Internet), und sie hat nicht weniger vor, als Ketten zu sprengen.
Denn die «Higgs Chicks», so haben die beiden Schaffhauser ihr Musikprojekt benannt, machen Country-Musik. Und das geht mit einer gewissen Vorschussangst einher, wie Beat Wipf es ausdrückt: «Wenn man sagt, man macht amerikanische Musik, bewegt man sich schnell auf dünnem Eis.» Der Higgs-Chicks-Country will sich in keine rechtskonservative Redneck-Ecke gestellt sehen, in der das Genre – trotz Bestrebungen zahlreicher queerer oder schwarzer Künster:innen wie etwa Lil Nas X oder Jett Holden – oft verortet wird. Das greife zu kurz, sagen Wipf und Zimmermann, auch wegen der Geschichte von Country. Das Banjo beispielsweise, Inbegriff des Bluegrass, wurde einst von versklavten Menschen aus Westafrika entwickelt, bevor es Teil der amerikanischen Kultur wurde. Country ist Teil widerständiger Geschichte, und daran wollen Higgs Chicks anknüpfen.
Forscherhaltung
Aber diesen Disclaimer immer wieder zu liefern, ist anstrengend. Einen Sticker mit dem Bandnamen und dem Untertitel «Kraut-Country gegen Faschismus» zu drucken, ist effektiver. Das Präfix «Kraut» verweist auf den experimentellen, emanzipativen Krautrock, der ab den 1960er-Jahren in Westdeutschland entstand.
«Doomscrolling mit Kurt» ist also ein Beitrag zum Genre und orientiert sich dabei an den Grossen. So interpretiert das Duo zum Beispiel mit der schwermütigen Ballade «I’m So Lonesome» einen Track von Hank Williams, einem der einflussreichsten Countrymusiker aller Zeiten, der einst – trotz eines kurzen Lebens – Grössen wie Bob Dylan und Johnny Cash beeinflusst hat. «Long Way Home» ist eine melancholische Hommage an Tom Waits und Kathleen Brennon, die die Stimmung aufhellt, und «Tennessee Stud» stammt ursprünglich von Folk-Sänger Jimmy Driftwood. Gleichzeitig zeigt genau dieser Song auch, wie die Band das Genre unterwandert: Die einfachen Gitarrenriffs und Wipfs Gesang werden von einem jaulenden Theremin begleitet.
Sie seien beide als Forscher unterwegs, sagen Zimmermann und Wipf übereinstimmend: Sie wollen die Musik verstehen, um sie neu zu erschaffen. «Ich habe jahrelang mein Taschengeld für Platten ausgegeben, die Cover studiert und Zusammenhänge gesucht: Wer hat was produziert, wer war dieser Little Richard, wer McKinley Morganfield?», erzählt Zimmermann. Ab den späten 1970ern, als er noch «jung und hübsch und dünn» gewesen sei, habe er in unzähligen Bands gespielt, stets mit dem Interesse, einen anderen Dreh in die Musik zu bringen. Und als er schliesslich in der Schweiz und noch später bei Min King und den Aeronauten landete, habe er genau das tun können: alles zu allem transformieren.
Wipfs musikalische Ursprünge liegen demgegenüber etwas weiter weg vom jetzigen Projekt: im Eastcoast-Rap der 1990er-Jahre. Aber er habe als Zehnjähriger auch angefangen, Gitarre zu spielen. Das – und so manche alte Platte im Elternhaus – führte ihn zu Blues, Country und Folk. Eigene Musik habe er bisher aber nie gemacht, und gesungen habe er in diesem Format auch noch nie; dafür brauchte es Marc Zimmermann. «Ich habe Teile dieses Albums jahrelang mit mir herumgetragen», sagt Wipf.
Der Zufall will es, dass sich die beiden auch aus einem Forschungsumfeld kennen: dem Museum zu Allerheiligen. Dort arbeitete Wipf als Techniker, und Zimmermann leitet bis heute den Besucherservice. Dass die Forschungsexpedition in die Musikgefilde gemeinsam geschah, war trotzdem nicht gegeben. Denn Zimmermann hatte sich eigentlich von der Bühne verabschiedet, nachdem der Aeronauten-Frontmann Olifr Guz Maurmann Anfang 2020 verstorben war. Als diese Band aber ein paar Jahre später eine Best-Of-Platte veröffentlichen wollte, waren Kurzfilme zur Promotion gefragt. «Da bin ich mit gutem Beispiel vorangegangen und habe mir Beat geschnappt, um zusammen den Song ‹1 bis 10› zu covern und einen Clip in einem Rapsfeld zu produzieren.» Das Lied hat es nun auch auf die Platte geschafft.
Das gemeinsame Projekt sollte aber klein bleiben, «so klein, dass man mit der Bahn touren kann» wie Zimmermann es sagt. Inzwischen reicht für die Musik der Higgs Chicks nicht einmal mehr ein PKW aus: mehrere Gitarren, akustisch oder elektrisch, sechs- oder zwölfsaitig, mal im Modell Dobro oder Lap-steel, dazu mehrere Bassgitarren, ein Banjo und mehrere Perkussions-Instrumente, aber auch eine Orgel, Keyboards und ein Synthesizer sind auf der ersten Platte zu hören.
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Das führt zu so mancher anarchischer Spielerei. Besonders hervorzuheben ist nebst «Würmchen», ein Track, der mit einem Dance-Beat und Synthie aufmacht und nur noch via Gitarre an Country erinnert, das letzte Lied der Platte: «Wünschelfuchs». Hier wabert zunächst eine Gitarre, die an einen Bassverstärker angehängt und darum als solche kaum wiederzuerkennen ist. Während sie sich fast überschlägt, stossen jazzige Drums dazu. Eine synthetische Cello-Melodie und ein Klavier, das irgendwo in dem Gemenge auch noch passiert, führen die Zuhörerin in einen Studel irgendwo zwischen Rock und Free Jazz. «Wünschelfuchs» ist ein schwerer und unheimlich cooler Song, der nach der Macht strebt und der Platte ein fulminantes Ende beschert. Zimmermann nennt ihn «eine gnadenlose Übertreibung».
Ein Versprechen
Und dann ist da natürlich der titelgebende Track, «Doomscrolling mit Kurt». Kurt muss man sich übrigens als Vierbeiner vorstellen: Es handelt sich um Marc Zimmermanns Schäferhund, der die Higgs-Chicks-Experimente im Studio mitverfolgt hat. Entstanden ist ein Song wie ein lässiger, erschöpfter Spaziergang samt Gitarrensoli und Theremingejauchze. Wenn das Doomscrolling ist, dann sind die Schrecken dieser Welt gut auszuhalten.
Allerdings wird es kein Leichtes sein, die aufwändigen Songs zu zweit auf die Bühne zu bringen. Die Lust, sie neu zu deuten und zu inszenieren, ist da – und weitere Lieder offenbar bereits im Köcher. So soll kommendes Jahr ein Higgs-Chicks-Song auf einem Tribute-Album der Hamburger Punkband Abwärts erscheinen. Und irgendwann soll auch eine zweite Platte erscheinen, schicken Wipf und Zimmermann voraus – eine, die die jetzigen Gefilde verlässt und sich in Richtung Soul und Rock vortastet. Vielleicht ist das Ende von «Würmchen» also ein Versprechen:
Die Welt ist voll von Zeichen
Und eingerissenen Brücken
Die Flucht führt im Kreise
Ohn’ End und Anfang
Ohn’ End und Anfang
Ohn’ End und Anfang
Ohn’ End und Anfang
*
Die Plattentaufe von «Doomscrolling mit Kurt» findet am Freitag, 19. Dezember, im TapTab statt. Unterstützt werden die Higgs Chicks von Bottervogel. Konzertbeginn um 21 Uhr. Die Platte kann schon jetzt auf allen Streaming-Diensten angehört werden.

