Frauen ins Militär – das fordert die Service-Citoyen-Initiative. Was würde sich ändern, wenn Männer und Frauen einrücken müssten? Bevor das Stimmvolk entscheidet, treffen wir Tim Bucher und Linda De Ventura zum Streitgespräch.
Wir treffen Nationalrätin Linda De Ventura und GLP-Kantonsrat Tim Bucher vor den schweren Bunkertüren in der Tiefgarage neben dem Feuerwehrzentrum. Es ist überraschend warm in dem Raum, der mit Feldbetten ausgestattet ist und in dem wir unsere Stühle platzieren. Werden bald viel mehr Menschen hier übernachten müssen?
Die Service-Citoyen-Initiative, über die Ende November abgestimmt wird, will, dass künftig sowohl Männer als auch Frauen einen Bürgerdienst leisten – sei es im Wehrdienst, im Zivildienst oder im Zivilschutz. Tim Bucher sitzt als Co-Präsident im Trägerverein der Initiative, Linda De Ventura ist zusammen mit ihrer Partei, der SP, dezidiert gegen das Volksbegehren.
AZ Tim Bucher, warum sind Sie damals ins Militär gegangen?
Tim Bucher Weil es für Männer eine Pflicht ist. Aber ich wollte auch mal die Chance nutzen, aus dem Alltag auszubrechen und etwas im Sicherheitsbereich zu tun.
Linda De Ventura, warum sind Sie damals nicht ins Militär gegangen?
Linda De Ventura Mich hat nie jemand gefragt, ich wurde in dem Alter nie aktiv informiert, etwa mit einem Brief oder mittels einer Veranstaltung. Von alleine bin ich nicht auf die Idee gekommen, ins Militär zu gehen.
Die Initiant:innen der Service-Citoyen-Initiative wollen nun einen verpflichtenden Bürgerdienst für Frauen und Männer unter 25 Jahren einführen, sie versprechen sich davon Gleichberechtigung. Sie und Ihre Partei setzen sich stets für Gleichberechtigung ein, nun sind Sie dagegen – das überrascht.
De Ventura Mich überrascht, wie man eine solche Initiative unter dem Mantel der Gleichberechtigung verkaufen kann. Die Initiative fordert einen Zwangsdienst für Frauen. Frauen leisten immer noch den Löwenanteil der unbezahlten Care-Arbeit, insbesondere wenn sie Kinder haben. Sie erbringen mehr unbezahlte Freiwilligenarbeit und im Alter betreuen sie öfter Enkelkinder oder pflegen ihre Angehörigen. Solange die unbezahlte Arbeit zwischen Männern und Frauen so ungleich verteilt ist, verstehe ich absolut nicht, dass man diese Initiative als Gleichstellungspolitik verkaufen kann.
Bucher Es stimmt, Frauen leisten noch immer mehr Care-Arbeit. Aber junge Frauen, um die es in der Initiative primär geht, leben in einer gleichberechtigteren Welt als noch ihre Mütter oder Grossmütter. Und wenn wir nun den letzten Schritt in Richtung Gleichstellung gehen wollen, dann müssen wir es schaffen, die Geschlechterrollen zu brechen. Und wo kann man das besser als in einem gemeinsamen Dienst, wo sich junge Frauen und Männer Schulter an Schulter für die Allgemeinheit einsetzen?
De Ventura Das ist dasselbe Argument wie bei der Erhöhung des Rentenalters für Frauen, mittlerweile arbeiten wir gleich lange wie die Männer bei bestehender Lohnungleichheit. Und jetzt sagt man wieder: Um wirklich gleichgestellt zu sein, müssen wir die Pflichten gleichsetzen – und damit die Frauen zu einem Dienst für die Gesellschaft zwingen.
Bucher Ja, es gibt auch Bereiche, wo ich als Mitte-Politiker sage, hier müssten die Bürgerlichen einen Schritt gehen. Aber wenn beide Seiten einfach auf ihrem Standpunkt verharren und sagen: «Ich mache nichts für die Gleichberechtigung, bis ihr etwas tut», dann verlieren wir Zeit und die Geschlechterrollen bleiben so, wie sie sind.
De Ventura Aber jetzt liegt es doch endlich an den Männern, zu sagen: «Okay, wir wollen eine gleichberechtigte Gesellschaft, also übernehmen wir auch unseren Anteil Care-Arbeit».
Herr Bucher, erinnern Sie sich an eine Initiative, die den Männern im Dienste der Gleichberechtigung etwas abverlangt hat?
Bucher Uns geht es nicht darum, das Gesetz zum Selbstzweck zu ändern. Wir sind überzeugt, mit diesem Dienst die Geschlechterrollen brechen zu können und so die Gleichstellung zu fördern.
Die Antwort ist also: Nein.
Bucher Seit jeher leisten wir Militärdienst. Ich bin zum Beispiel auch für die Familienzeit-Initiative oder für die Lohnkontrollen, bei beidem zahlen auch die Männer die höheren Abgaben.
De Ventura Ja, hoffentlich auch! (lacht)
Bucher Wir müssen aufhören, uns gegeneinander auszuspielen. Gerade medial gibt es Druck auf die Männer, mehr Care-Arbeit zu übernehmen, was auch berechtigt ist. Das darf man ebenfalls anerkennen.
Bei der Erhöhung des Rentenalters der Frauen überstimmten die Männer die Frauen. Umfragen zeigen nun, dass Männer die Service-Citoyen-Initiative mehrheitlich befürworten, während Frauen sie ablehnen. Widerspricht das nicht dem Gleichstellungsargument?
Bucher Ich kann euch Umfragen zeigen, bei denen die Frauen mehrheitlich dafür sind. Solche Vorwahlbefragungen sind oft unpräzis, das hat man auch bei der E-ID-Abstimmung gemerkt. Aber ja, es liegt an uns zu zeigen, was der Dienst den Frauen, der Gleichstellung bringt. Wenn ich mit Frauen auf der Strasse rede, erlebe ich oft viel Verständnis für unsere Argumentation.
Nehmen wir an, die Initiative würde angenommen. Der Bundesrat schreibt in den Abstimmungsunterlagen, dass es unklar sei, ob es überhaupt genügend Arbeit für den neuen Bürgerdienst gibt. Schafft die Initiative eine Reservearmee, die niemand braucht?
Bucher Der Bundesrat kommuniziert widersprüchlich. Auf der einen Seite sagt er, es gäbe für das Militär und den Zivilschutz zu wenig Leute. Wenn wir aber nun eine Lösung anbieten, heisst es plötzlich, es seien zu viele. Das ist ein klassisches Ablenkungsmanöver. Wir haben heute 12 000 Leute im Zivilschutz zu wenig, wenn das so weiter geht, werden es bis 2030 20 000 Leute sein. Langfristig zeichnet sich auch im Militär ein Personalproblem ab. Zudem gibt es in der zivilen Sicherheit sehr viele Bereiche, wie die Pflege oder der Naturschutz, wo uns heute die Menschen fehlen.
De Ventura Aktuell hat die Armee einen Über-, keinen Unterbestand. Die Angaben des Bundesrats dazu, da gebe ich dir Recht, Tim, sind immer unterschiedlich. Es gibt ständig neue Zahlen, deswegen ist es schwer, sich darauf zu verlassen. Ich glaube aber nicht, dass es in der aktuellen Bedrohungslage sinnvoll ist, das ganze Milizsystem über den Haufen zu werfen. Das wäre eine rechte Übung: Es würde einen jährlichen Anstieg von 35 000 auf 70 000 neue Dienstpflichtige bedeuten. Diese Menschen unterzubringen, wäre ein gewaltiger administrativer Aufwand für Bund und Kantone. Aus meiner Sicht hat die Armee aktuell bereits mehr als genug Aufgaben vor sich.
Die SP war in der Vergangenheit stets armeekritisch. Nun verteidigen Sie das Milizsystem.
De Ventura Die SP erkennt die Herausforderungen und die aktuelle geopolitische Lage an. Aber deshalb muss man nicht alles, was die Armee macht, unhinterfragt gut finden.
Bucher Ihr wollt sie immer noch abschaffen.
De Ventura Diesen Vorwurf finde ich lächerlich. Ich bin jetzt seit einem Jahr im Nationalrat und in der Sicherheitspolitischen Kommission. Wir von der SP nehmen die Verpflichtungskredite der Armee-Botschaften an, die auf realistische Bedrohungsszenarien ausgerichtet sind, etwa Cyber- und Luftangriffe, Drohnen, Desinformationskampagnen oder Sabotage. Die hunderten Millionen Franken, die jährlich für Panzer und somit für das Szenario Bodenangriff ausgegeben werden, lehnen wir aber ab. Europa befindet sich aktuell in einem Zustand, wo weder richtig Frieden noch Krieg herrscht. Wir werden bereits täglich angegriffen, nur hybrid. Auf diese Situation ist die Schweiz sehr schlecht vorbereitet.
Bucher Deswegen braucht es den Service Citoyen.
De Ventura Klar, das ist die Lösung für alles. Aber zum Festhalten: Alle, der Bundesrat, die Wirtschafts- und Sicherheitsverbände, die Militärkonferenz, die Offiziersgesellschaft, auch die Jugendverbände, der Zivildienstverband und fast alle grossen Parteien lehnen das Vorhaben ab.
«Wir müssen aufhören, uns gegeneinander auszuspielen.»
Tim Bucher
Eine sinnlose Initiative, die niemand will?
Bucher Ich glaube, das ist die falsche Frage. Wenn man die Studie «Sicherheit 2025» der ETH-Militärakademie anschaut, haben sich zwei Drittel der Befragten für einen obligatorischen Bürgerdienst ausgesprochen. Laut Ergebnissen des Generationenbarometers aus diesem Jahr sind sogar 75 Prozent dafür, und das über alle Wähler-, Alters- und Geschlechterkategorien hinweg. Deshalb frage ich mich eher: Wieso politisiert Bundesbern derart an der Bevölkerung vorbei und schafft es nicht, eine Lösung zu finden?
De Ventura Auf den ersten Blick klang die Service-Citoyen-Initiative durchaus sympathisch. Ich habe sie damals auf dem Fronwagplatz sogar bei dir unterschrieben, Tim, weil ich gedacht habe: «Doch, das klingt gut, ehrenamtliches Engagement, Bürgerdienst, Zusammenhalt stärken.»
Bucher Und dann kam das Parteiprogramm der SP (lacht).
De Ventura Nein, dann habe ich angefangen, mich mit der Initiative auseinanderzusetzen. Und ich muss sagen: Ich finde die Initiative mittlerweile ziemlich verrückt, und zwar auf verschiedenen Ebenen.
Zum Beispiel?
De Ventura Es gibt Berufe, wo heute klassischerweise viele Frauen arbeiten, etwa in der Bildung, Pflege, Betreuung. Dort suggeriert die Initiative, dass sie einem Fachkräftemangel entgegenwirken kann. Aber der Bundesrat stellt fest: Es gibt eine grosse Gefahr, dass es durch die Initiative zu Lohndumping kommen könnte, dass sich also die Arbeitsbedingungen von denjenigen, die an diesen Orten fest angestellt sind, verschlechtern, weil durch die zusätzlichen Dienstleistenden viele günstige Arbeitskräfte verfügbar werden. Im Zivildienst gibt es diese Entwicklung heute schon, auch wenn es um sehr viel weniger Leute geht. Dadurch geraten die Arbeitsbedingungen unter Druck.
Wie gross ist diese Gefahr wirklich? Immerhin gibt es in Bereichen wie der Pflege einen Personalmangel.
De Ventura Eine Altersheimleitung überlegt sich vielleicht zweimal, ob sie jemanden fest anstellt und den entsprechenden Lohn zahlt, oder ob sie nicht eher jemanden aus dem Bürgerdienst auswählt. Zudem sind diese Personen ja nicht sofort einsetzbar, sie müssen von Festangestellten eingeführt und ausgebildet werden. Das ist bereits heute so: Man kann die Leute nicht einfach ohne Einführung mit den alten Menschen im Altersheim spazieren und sie pflegen lassen.
Bucher Das ist doch absurd. Die Zivis sind heute nicht mehr wegzudenken aus der Bildung, der Pflege und dem Naturschutz. Ich finde es schon komisch, dass die Linke jetzt beginnt, den Zivildienst schlechtzureden, der ja mal eine linke Errungenschaft war. Seit Jahren klagt man über fehlende Personen im Gesundheitswesen, im Naturschutz, in der Bildung und den Schulen. Ich gebe dir Recht, Linda, sie sollen unterstützen und nicht Fachpersonen ersetzen. Das ist auch überhaupt nicht die Idee, sondern: Sie sollen einfachere Tätigkeiten übernehmen, oder solche, die heute noch nicht gemacht werden. Und jetzt, wo wir eine Lösung bieten, wie man junge, motivierte Personen einsetzen könnte, seid ihr dagegen.
De Ventura Tim, du weisst genauso gut wie ich, warum es einen Fachkräftemangel gibt, gerade in der Pflege. Es werden nicht zu wenige Leute ausgebildet – sondern das Personal bleibt nicht in der Branche, weil die Bedingungen schlecht sind, die Löhne tief, weil es anstrengende Schichtarbeit leistet. Bei den Kitas ist es dasselbe. Die Initiative beinhaltet keine Verbesserung für das Personal, im Gegenteil. Und die zusätzlichen 35 000 Personen, die mit der Service-Citoyen-Initiative jährlich dienstpflichtig werden, braucht es nicht, auch nicht im Zivildienst.
Bucher Davon gehen aber nicht alle in den Zivildienst.
De Ventura Ja, aber ein grosser Teil wird dort eingesetzt werden.
Bucher Das kommt darauf an, ich bin zum Beispiel der Meinung, auch die Bestände beim Zivilschutz müssten höher werden. Rechnet man den aktuellen Bestand auf die 26 Gemeinden des Kantons runter, sind das pro Gemeinde kaum mehr als fünf Einsatzkräfte.
Die Initiative fordert, dass die Bestände der Armee gesichert werden. Wollen Sie als Grünliberaler künftig Männer und Frauen in die Armee zwingen, wenn sie nicht freiwillig den richtigen Weg wählen?
Bucher Prinzipiell ist das für Männer heute schon so. Es geht um eine Pflicht – dass man einsteht für die Gemeinschaft, für die Nachbarn.
Die Dienstpflicht ist für Männer nichts anderes als ein Zwang. Wer sie nicht wahrnimmt, wird bestraft?
Bucher Nein, eine Pflicht ist im Gegensatz zu Zwang die Möglichkeit, Verantwortung für andere zu übernehmen. Als junger Mensch finde ich es befreiend zu wissen, dass ich auf Krisensituationen reagieren und meinem Umfeld etwas zurückgeben kann. Die Welt würde im Ernstfall im Chaos verschwinden, wenn wir sagen, von niemandem wird je etwas verlangt. Die Welt funktioniert nicht freiwillig, man hat nicht zuletzt auch eine Schul-, eine Steuerpflicht, und gerade deshalb braucht es diese Verantwortung für die Allgemeinheit, die wir auch mit der Initiative fordern.
De Ventura Und wer übernimmt diese Verantwortung aktuell? Wer stärkt heute den Zusammenhalt, wer kümmert sich um die Nachbarn, die pflegebedürftigen Eltern, die Enkelkinder? Es sind Frauen. 2024 leisteten sie zum Beispiel knapp 35 Stunden pro Woche an unbezahlter Arbeit, bei den Männern waren es knapp 23 Stunden. Ich will gar nicht sagen, dass sich in der Gleichstellung nichts getan hat. Wenn eine Frau heute eine Ausbildung macht, studiert und arbeitet, spürt man kaum mehr Unterschiede. Bis dann das erste Kind kommt. Ab dem Moment geht die Schere wieder auseinander, und das zieht sich bis ins Alter durch.
Bucher Der Dienst wäre für alle unter 25 Jahren. Die durchschnittliche Schweizerin bekommt ihr erstes Kind mit 31 Jahren.
De Ventura Aber du musst doch auch den Rest des Lebens mit in Betracht ziehen. Wenn sich die Familienmodelle ändern und die Männer gleich viel ehrenamtliches Engagement und Care-Arbeit leisten wie Frauen, dann bin ich bei dir, Tim. Dann sollen Frauen und Männer dieselben Pflichten haben. Aber an diesem Punkt sind wir noch nicht.
Bucher Wir wollen am Ende des Tages die Personalbestände sichern. Seit zehn Jahren gibt es einen Bericht nach dem anderen, der prüft, wie wir die Bestände in der Armee und im Zivilschutz erhöhen könnten. Und die einzige Lösung bisher? Ein verpflichtender Orientierungstag für die Frauen. Das wird unsere Probleme nicht lösen.
Mitarbeit: Simon Muster
Wir schenken Dir diesen Artikel. Aber Journalismus kostet. Für nur 40 Franken gibt es die AZ probeweise für drei Monate: Hier geht es zum Probe-Abo. Oder zahl uns via Twint einen Kafi:
