Gipfelstürmer

10. November 2025, Fabienne Niederer
Sehen schön aus, deuten aber auf einen Backfehler hin: die rosenartigen Teigschichten im Gebäck oben rechts. Robin Kohler
Sehen schön aus, deuten aber auf einen Backfehler hin: die rosenartigen Teigschichten im Gebäck oben rechts. Robin Kohler

Wo gibt es das beste Gipfeli der Stadt?
Wir haben den Test gemacht – und holten uns Hilfe von einem, der es wissen muss.

Die Welt der Gipfeli ist wie der Wilde Westen: gesetzlos. Es gibt keine Gewichtsvorgaben wie beim Pfünderli, kein Reinheitsgebot wie beim altdeutschen Bier. Die Debatte, wer den Teigling nun tatsächlich am schwungvollsten in den Ofen schiebt und das knusprigste, luftigste und buttrigste Gebäck herausholt, ist deshalb mehr als vorprogrammiert. Auch hier im Büro flammt sie an der wöchentlichen, gipfelbegleiteten Redaktionssitzung immer wieder aufs Neue auf.

Wo also findet man in der Schaffhauser Altstadt das beste Gipfeli? Weil uns dieses aktuelle Testsujet besonders erzittern lässt und wir nicht nur auf unsere eigenen, naiven Gaumen vertrauen möchten, haben wir uns prominente Hilfe geholt – wir treffen uns mit Tobias Ermatinger.

Der Name verrät es sofort: Hier handelt es sich um einen, der es wissen muss. Ermatinger geniesst dieser Tage zwar den verdienten Ruhestand – doch zuvor leitete er mit der «Ermatinger Zuckerbäckerei» 30 Jahre lang den Traditionsbetrieb in der Altstadt. 2003 verkaufte er das Unternehmen samt Rezepten, seither ist es nicht mehr in Familienhand. Für den Test treffen wir uns in den Büroräumlichkeiten seiner Familie, direkt über der Bäckerei am Fronwagplatz. Die Gänge im Obergeschoss sind mit Porträts von ehemaligen Bäckerei-Leitern und regionalen Karten gesäumt.

Uns ist klar, dass diese Ausgangslage ein Wagnis ist. So nervös wie neugierig überlegen wir: Ist Ermatinger befangen? Was können wir vom Altbäcker erwarten? Tobias Ermatinger selbst lächelt nur, wie er den Gang hinunter ins Sitzungszimmer geht. «Glaubt mir, ich habe kein Problem damit, ehrlich zu sein.» In seiner Tasche hat er eine ausgedruckte Auflistung der Kategorien, die seiner Ansicht nach das perfekte Gipfeli ausmachen: Form und Farbe und Ofeneinstellung, Geschmack und Geruch, den er als «Nase» notiert hat. Es sind fast die gleichen Kategorien, die wir auch in unserem eigenen Testbogen erfasst haben, den wir ihm später aushändigen.

Die Ausgangslage

Wir betreten das Sitzungszimmer, in dem bereits alle Gipfeli von Fotograf und Testaufseher Kohler platziert und anonymisiert wurden. Sie sind mit den Nummern eins bis acht versehen. Kaum haben wir uns hingesetzt, beginnt Ermatinger, die Backwaren zu begutachten.

Ob er schon eine Vermutung habe, welcher aus seiner Alma Mater komme, fragen wir ihn. «Hmm.» Er löst den Blick nicht von der Tischfläche. «Ich denke, es müsste Nummer zwei oder fünf sein (siehe Bild rechts).» Das liest er an der kreisrunden Form der Gipfel ab – in Schaffhausen eine Seltenheit. Laut Ermatinger sei diese nämlich aufwendiger: «Wenn man die Rundung haben will, muss man den Teig von Hand leicht in Form ziehen, nachdem man ihn auf dem Blech abgesetzt hat», erklärt Ermatinger. Eine Sache von zwei, drei Sekunden – aber die machen bei einer Produktion von hunderten Gipfeli pro Tag dennoch einen Unterschied.

«Also, der gefällt mir», so Ermatinger weiter, einen Gipfel ins Visier nehmend, «aber der hier, der ist ein bisschen lumpig.» Das komme von zu viel Butter. «De chasch grad bruuche zum de Tisch abtröchne.» Nun müssen wir ihn stoppen – der offizielle Test beginnt.

Die Gebäckstücke werden nach den Kategorien Optik (aussen und innen), Teigbeschaffenheit, Geruch, Geschmack und Butternote mit einer Note von eins bis sechs bewertet. Jeder Gipfel wird gleichmässig gedrittelt, damit man sowohl die breiteste als auch die schmalste Stelle begutachten kann. Denn hier zeigt der Blätterteig sein wahres Gesicht: Beim Schneiden verbreiten sich überall Brösmeli. «Das ist ein gutes Zeichen», verkündet Ermatinger, «es sollte eine Sauerei sein auf dem Tisch!»

Die Testobjekte, von links nach rechts: Viva Natura, Reber, Hoyer, Migros, Ermatinger, Müller, Bohnenblühn und Fassbeiz. Robin Kohler
Die Testobjekte, von links nach rechts: Viva Natura, Reber, Hoyer, Migros, Ermatinger, Müller, Bohnenblühn und Fassbeiz. Robin Kohler

Der Verlierer

Gipfel Nummer zwei ist trotz seiner ungewöhnlichen Halbmondform eine Enttäuschung, wie sich spätestens zeigt, als wir hineinbeissen. «Der schmeckt wie ein Weggli», sind wir uns einig, oder, wie Ermatinger hinzufügt, «der hat nicht den typischen Gipfel-Geschmack. Und er ist überhaupt nicht blättrig.» Dann wird es still am Tisch, als sich die Konzentration auf den Testbogen richtet.

Das Ergebnis: Eine Durchschnittsnote von gerade mal 3.5 – wobei wir strenger benotet haben als der Pensionär. «So ein Test ist sowieso immer nur eine Momentaufnahme, nicht?», fragen wir. «Mehr oder weniger. Es geht um Sekundenarbeit», sagt Ermatinger. «Wenn man die Gipfel nur etwa 20 oder 30 Sekunden später rausnimmt, weil man den Wecker nicht hört oder gerade keine Hand frei hat, schmecken sie direkt anders. Auch der Teig ist nicht immer gleich. Wenn wir neues Mehl geliefert bekamen, mussten wir das zuerst probieren – das ist ein bisschen wie mit den Trauben für den Wein, ein Naturprodukt.» Am Ende zeigt sich: Dieses unrühmliche Schlusslicht stammt von der Confiserie Reber.

Der Unfall

Der zweitletzte Platz, Nummer acht, fasziniert uns: Im Innern zeigt sich ein wunderschönes Muster, das an die Blütenblätter einer Rose erinnert. Leider ist das kein gutes Zeichen. «Ich weiss gar nicht, was hier genau schiefgegangen ist», so Ermatinger. «Schau, dort, wo es Luft hat, dort war die Butter. Und so genau, wie man die Teiglagen erkennt, merkt man, dass er gar nicht richtig aufgegangen ist. Vielleicht zu wenig Hefe, oder nicht lange genug gewartet vor dem Backen? Ich weiss es nicht.»

Zwar sieht dieses Gipfeli von aussen genauso hübsch aus wie Nummer sieben, beide sind dunkel und knusprig. Doch beim Reinbeissen folgt die nächste Enttäuschung: Fast schon zäh steckt uns das Teigstück im Mund. Es ist das Exemplar, das uns am schwersten im Magen liegt. Auf der Serviette hinterlässt das Stück einen dunklen Fleck. Mit der Note 3.7 kommt die Nummer acht letztlich nur knapp besser weg als unsere Verlierer-Nummer zwei, und die Auflösung zeigt: Das war der Gipfel, der aus der Backstube der Fassbeiz stammt. Aus Erfahrung wissen wir: Eigentlich können sie das besser. Da hat der Bäcker wohl für einmal zu wenig Schlaf erwischt.

Das Schwergewicht

Nummer drei ist das grösste – und auch das schwerste – aller Exemplare. «Viel zu schwer», kommentiert Ermatinger, «aber schlecht schmeckt er nicht». Wir widersprechen nicht, und dennoch: Eine markante Hefenote kommt uns entgegen, ausserdem eine leichte Süsse, was für eine ungewöhnliche Geschmackskombination sorgt. Dafür wurde offenbar bei der Butter gespart. Trotz Abstrichen erhält dieser Gipfel, der aus der Bäckerei Hoyer stammt, eine passable Durchschnittsnote von 4.5 und verdient sich damit einen Platz im unteren Mittelfeld.

Die Durchschnittlichen

Die nächsten beiden Gipfeli teilen sich dieselbe Note, beginnend mit der Nummer sechs: «Ein Gipfel, überhaupt alles, was man backt, muss Leben in sich tragen. Schau, das sieht aus wie tot.» Ermatinger zeigt auf das zerteilte Gebäck, und tatsächlich ist dieses äusserst bleich ausgefallen.

Optisch überzeugt Nummer sechs also nicht, aber geschmacklich? Hier sticht vor allem eines heraus: Butter. Ganz viel Butter. Wir haben nichts dagegen, auch Ermatinger wirkt zufrieden, als er auf dem Gipfel herumkaut. Eine gute Butternote gehört schliesslich zu einem Buttergipfel. So sehen wir doch von einer ungenügenden Benotung ab und bewerten diesen Anwärter mit 4.7 – als Schulnote also völlig akzeptabel.

Wir haben das Gipfeli Nummer vier kaum vom Tisch aufgehoben, da blättern bereits die ersten Teigschichten ab. Ist das eigentlich ein Beweis für ein gutes Exemplar? Ja, aber wichtiger seien die Luftblasen im Innern, so Ermatinger. Dass diese nicht immer so herauskommen, wie sie sollten, haben wir schon am unglücklichen Beispiel Nummer acht gelernt. Dieses Exemplar hingegen hat riesige, perfekte Luftblasen, die goldenen Teigflocken fliegen umher, und doch kommt beim Reinbeissen die Überraschung: Die Butternote fällt viel leichter aus als erwartet. Fazit: Aussehen schön, Geschmack «unerwartet wenig». Damit gibt es für dieses Gipfeli – ebenfalls – eine 4.7. Und noch eine Überraschung erwartet uns: Es ist das Gipfeli aus der Migros, das uns nur läppische 70 Rappen gekostet hat.

Fast an der Spitze

Als wir das zweite der beiden Halbmond-Exemplare vor uns haben, Nummer fünf, ist sich Ermatinger sicher, dass er hier sein eigenes Rezept begutachtet. Wir lösen das Rätsel noch nicht auf, doch den entscheidenden Hinweis meint er auf der Unterseite des Gebäcks gefunden zu haben: in den schwarzen, kreisrunden Tupfern. Sie entstehen durch das Lochblech, das in der Ermatinger-Backstube heute noch verwendet wird. Trotzdem hat der Experte etwas an der Nummer fünf zu bemängeln: Die Löcher im Innern seien etwas klein ausgefallen. Dafür komme die Butter gut zur Geltung, und übers Aussehen können auch wir nicht klagen – immerhin fällt das Gebäck schön goldbraun aus.

Tatsächlich hat der Altbäcker Recht, vor ihm liegt natürlich ein Exemplar der Gipfel, die er am besten kennt. Die Bewertung, die er noch ohne Bestätigung seiner Vermutung abgibt, ist zurückhaltend: Es wird eine 4.8. Auch dieses Gipfeli muss sich seine Note teilen, und zwar mit dem nächsten Exemplar.

Buttrig, nur leicht hefelastig, hübsch gefärbt: Mit der Nummer eins liegt ein beispielhaftes Gipfeli vor uns. Ermatinger hält das angeschnittene Stück vor seiner Nase in die Luft, dann drückt er ein paar Mal schnell drauf. Der Gebäckduft verteile sich so besser. «Die einen mögen diese leichte Hefenote, die anderen weniger.» Dann wird hineingebissen, es wird Lob vernommen, sowohl für Aussehen als auch für Geschmack. Einziges Manko: Die Luftlöcher im Innern könnten grösser sein. Im Schnitt ergibt sich für diesen Anwärter also erneut die Note 4.8, und wir lösen auf: Es ist die Schöpfung des Bioladens in der Vorstadt, Viva Natura.

Der Gewinner

Hier nun der Beste, der Gipfelstürmer unter den Gipfeln, zum Schluss. Schon der erste Eindruck imponiert uns. «Hier, bei Nummer sieben, sieht man verschiedene Facetten. Das macht ein Gebäck interessant.» Ermatinger hat nicht Unrecht: Der Gipfel brilliert durch seinen satten, dunkelgoldenen Farbton und seine knusprige Oberfläche. Obwohl auch dieser hier eher schwer in der Hand liegt, bemerken wir schöne, grosszügige Löcher im Innern. Ausserdem fällt uns hier noch etwas auf: Er schmeckt auffällig süsslich. Hier wurde offensichtlich noch Zucker hinzugefügt – ein Geschmack, der bestimmt nicht jedem gefallen dürfte.

Es ist lange still, als wir das Exemplar Nummer sieben vertilgen. Wir notieren den luftigen Teig, die starke Butternote und den leichten, aber vernachlässigbaren Hefegeschmack. Der Experte vergibt für die Optik die Maximalnote 6, auch wir sind überzeugt, und am Ende erhält dieses Gipfeli die beste Bewertung: Die Schlussrechnung ergibt die Note 5.1.

Die Krone verleihen wir damit dem Gipfeli aus der Kaffeerösterei Bohnenblühn in der Webergasse. Wer sich auch ein Exemplar kaufen will, sei aber gewarnt: Mit vier Franken pro Stück muss man hier mit Abstand am tiefsten in die Tasche greifen.

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