Zwei Brasilianerinnen spüren in den Schweizer Archiven dem Schaffhauser Johann Martin Flach nach. Ihre These: Flach profitierte im 19. Jahrhundert nicht nur vom Kaffeeanbau, sondern auch vom Sklavenhandel – und zwar zu einer Zeit, als dieser schon verboten war.
Aretuza da Cruz Silva und Gilsineth Santos waren bisher noch nie in Europa. Doch vergangene Woche wurden beide vom selben Namen nach Schaffhausen gezogen: Johann Martin Flach. Flach war einer der ersten Siedler, die ab den 1810er-Jahren nach Brasilien emigrierten, die Heimat der beiden Frauen. Im Süden des Bundesstaates Bahia in der Kolonie Leopoldina gründete Flach vor 200 Jahren, im Jahr 1818, die Kaffeeplantage Helvécia und wurde damit reich.
Heute ist Helvécia ein «Quilombo», ein Dorf mit vom Staat zugesichertem Land, auf dem die Nachfahren der damals Versklavten ihre afro-brasilianischen Traditionen leben können. Gilsineth Santos ist eine dieser Nachfahren; sie ist sowohl Community-Organisatorin in Helvécia als auch Pädagogin und Historikerin. Aretuza da Cruz Silva doktoriert an der brasilianischen Bundesuniversität von Espirito Santo in Geschichte. Der Werdegang von Flach – und mit ihm die Geschichte der Sklaverei in der Region und damit die Geschichte ihrer Vorfahren – ist ihr Forschungsschwerpunkt.
Morgen Freitag nehmen die beiden an einer Konferenz an der Universität Lausanne teil, welche die schweizerisch-brasilianischen Verflechtungen des 19. Jahrhunderts bespricht. Auch Denise Bertschi, die Flach vor einigen Jahren in einem Projekt nachspürte (AZ vom 9. November 2017), nimmt daran teil.
Vorher geben Aretuza da Cruz Silva und Gilsineth Santos der AZ ihr einziges Interview – auf Portugiesisch. Das Gespräch wurde simultan vom Historiker Michael Schmitz übersetzt.
Aretuza da Cruz Silva und Gilsineth Santos, wofür steht der Name Johann Martin Flach?
Gilsineth Santos Ich bin in Helvécia geboren und lebe dort. Johann Martin Flach war einer der Gründer dieser Gemeinde, die früher Colônia Leopoldina hiess und heute Helvécia heisst. Er kam nach Bahia, um reich zu werden. Und doch hat er nichts hinterlassen, ausser seinem Grabstein.
Aretuza da Cruz Silva Für mich war Johann Martin Flach zuerst nur ein Name in einem katholischen Taufregister. Ich bin im Archiv meiner Heimatstadt, etwa 60 Kilometer von Helvécia entfernt, darauf gestossen. Ich beschloss, dass er Thema meiner Dissertation werden sollte. Darin wollte ich die Geschichte meiner Heimatregion genauer erforschen, aber auch die Beziehungen zwischen Brasilien und Europa. Er erfüllte diese Kriterien.
Was für Register waren das?
Da Cruz Silva Das Brasilien des 19. Jahrhunderts war ein katholisches Reich. Dieses Register war nicht nur für die Kirche wichtig, sondern es war darin faktisch jeder Mensch verzeichnet, der dort lebte – wichtig sind sie heute, weil die Registrierung für alle versklavten Menschen obligatorisch war. Zwischen 1832 und 1847 habe ich so rund 400 Menschen gefunden, die getauft wurden und in der Colônia Leopoldina lebten. Flach war ebenfalls in diesem Register verzeichnet – als Sklavenhalter. Er war viel mehr als nur ein einfacher Kolonist, wie es sie im Süden Brasiliens gab.
Was war er denn?
Da Cruz Silva Zunächst einmal war er ein einflussreicher Händler mit Beziehungen zur brasilianischen Königsfamilie, so einflussreich, dass er von allen Europäern in der Colônia am meisten Versklavte besass. Das ist das eine. Zum anderen kaufte und transportierte er Versklavte von Rio in die Provinz Bahia – dabei war Sklavenhandel von Afrika nach Brasilien seit 1831 gesetzlich verboten. Flach bereicherte sich also nicht nur durch den Kaffeeanbau, wie bisher bekannt war, sondern wohl auch durch den Handel mit versklavten Menschen.
Der Schaffhauser Johann Martin Flach, ein illegaler Sklavenhändler?
Da Cruz Silva Es ist zu früh, das so deutlich zu sagen. Aber es gibt Hinweise darauf, ja.
Im Buch «Helvécia» von Dom Smaz und Milena Machado Neves heisst es, dass Flach 1848 total 108 erwachsene Versklavte besass.
Als er starb, vermachte er sein Vermögen seinem Sohn. Als dieser starb, hatte er 151 Versklavte. Können Sie diese Zahlen bestätigen?
Da Cruz Silva Das ist sehr wahrscheinlich.
Santos Auf diese Tatsache habe ich am Anfang angespielt. Ich sehe in Flach einen Mann, der andere Menschen unterworfen hat. Und zwar mit allen möglichen Formen der Gewalt und Folter, die ihm zur Verfügung standen.
Sind Sie mit dem Wissen um Flach aufgewachsen, Gilsineth Santos?
Santos Nein, unsere Schulen hatten dieses Wissen nicht. Ich habe es entdeckt, als ich an der Universität das Geschichtsstudium aufnahm und mich dort spezifisch mit der Geschichte von Helvécia beschäftigte.
Im oben genannten Buch werden Sie die «Geschichtsprofessorin des Dorfes» genannt. Findet dieses Thema in der Schule heute statt?
Santos Ich bringe die Geschichte unserer Gemeinschaft immer wieder zur Sprache. Ich halte es für äusserst wichtig, über unser Volk und die Erfahrungen derer zu sprechen, die vor mir kamen. Dieses Thema wird auch im Unterricht behandelt.
Wie geht Helvécia mit dem brutalen Erbe von Flach um?
Santos Wir erinnern uns nicht an Flach selbst. Wir leisten keine Erinnerungsarbeit an die Geschichte der Kolonisatoren, sondern an die Hunderten versklavten Menschen, die unter Folter gelitten haben. Uns interessiert vielmehr die Geschichte von Kampf, Widerstand und Tapferkeit.
Gab es denn lokalen Widerstand?
Santos Auf jeden Fall. Es sind verschiedene Aufstände dokumentiert.
Wie ist heute der Alltag in Helvécia?
Santos Die Community besteht aus etwa 3000 bis 3500 mehrheitlich Schwarzen Menschen, es ist also immer noch ein kleines Dorf. Abgesehen von ein paar deutsch klingenden Namen – Metzker, Krull oder Sulz zum Beispiel – erinnert kaum noch etwas an die Geschichte der Kolonisation und spezifisch an die Präsenz von Flach. Es ist eine fröhliche Gemeinde, die die Erinnerung an ihr Volk pflegt. Unser Land ist aber immer noch gefährdet.
Wie meinen Sie das?
Santos Das Land der ganzen Region wird von der multinationalen Firma Suzano genutzt, um Eukalyptusmonokulturen anzubauen und Papier zu produzieren. Diese Firma zerstört alles, was sich ihr entgegenstellt. Es ist sehr gut möglich, dass das Papier, auf dem Sie Ihre Notizen schreiben, aus dieser Fabrik kommt.
Die Ausbeutung des Landes geht also weiter.
Santos Das ist so.
Aretuza da Cruz Silva, Sie haben vorhin von Ihrer Archivarbeit berichtet. Nutzen Sie auch mündliche Quellen wie zum Beispiel die Berichte von Gilsineth Santos für Ihre Forschung?
Da Cruz Silva Bei allem Respekt gegenüber Gilsineth würde ich Berichte von Ältesten der Gemeinde benötigen. Weil der Sklavenhandel, den ich erforsche, illegal war, fehlen mir aber sehr viele Dokumente. Ich greife darum auf wissenschaftliche Arbeiten zurück, die diese mündlichen Quellen nutzen und die Ältesten interviewt haben. So kann ich versuchen, die Lücken zu schliessen.
Im Staatsarchiv ist unter anderem die Hinterlassenschaft von Flach von 1870 dokumentiert. Sie interessieren sich für seinen Werdegang. Was haben Sie herausgefunden?
Da Cruz Silva Ich weiss zum Beispiel, dass sein Sohn Johannes – der später mit ihm nach Brasilien auswanderte – ein illegitimes Kind war und dass er an der Fellenbergschule in Bern Agronomie studierte.
Santos Dass der Sohn so heisst, habe ich erst heute gelernt! Wir kennen ihn als João Martin Flach und sprechen ihn als «Flasch» aus. Auch das Wort Helvécia ist hier anders konnotiert: Helvetia, das Wort für die Schweiz, steht hier für Stärke und Tapferkeit.
Warum wanderte Johann Martin Flach überhaupt aus?
Da Cruz Silva Er ist nicht von der Schweiz aus nach Brasilien gereist, sondern hat davor in Portugal gelebt. Dort war er ein Stoffhändler. Ich habe ja schon gesagt, dass er enge Beziehungen zum portugiesischen Königshaus hatte. Dieses flüchtete mit dem gesamten Hof nach Brasilien, als Napoleon in Portugal einfiel. Dort öffnete es die Häfen für nichtportugiesische Ausländer:innen, sodass erstmals Menschen wie Johann Martin Flach einwandern konnten. Ab 1808 begann das Königshaus, Landstücke an diese Ausländer:innen zu vergeben mit dem Ziel, diese zu kolonisieren. Flach hörte von der einmaligen Chance und ergriff sie, übrigens als einer der ersten – die deutschsprachige Immigration nahm erst mit der Anreise der österreichischen Prinzessin Leopoldine im Jahr 1817 zu. Zu ihr hatte Flach übrigens eine direkte Beziehung.
Ach ja?
Da Cruz Silva Ja! Flach installierte sich zunächst in Rio und eröffnete eine Ziegelfabrik. Das war ein erfolgreicher Geschäftszweig, weil die Ankunft des portugiesischen Hofs zu einer hohen Bautätigkeit führte. Flach war aber auch direkter Sekretär der Prinzessin Leopoldine. Und ich vermute, dass er seinen Einfluss im Königshaus genutzt hat, damit die Siedler die Landstücke der späteren Colônia Leopoldina erhalten haben. Wenn Siedler etwas gefordert haben – etwa mehr Land oder Fleisch –, ist sein Name auffallend oft unter den Unterzeichnenden. Und Flach war es übrigens auch, der beantragt hat, dass auf der Plantage selbst Taufen durchgeführt werden können.
Warum war ihm das wichtig?
Da Cruz Silva Hier sind wir wieder bei den katholischen Geburtsregistern, die ich zu Beginn erwähnt habe. In jener Zeit war Brasilien zu grossen Teilen analphabetisch. Eine Taufe war nicht nur eine religiöse Angelegenheit, sondern bedeutete die Produktion eines schriftlichen Dokuments. In diesem Fall bewies dieses Dokument vor allem, dass die getaufte Person ihm, Flach, gehörte.
zVg/Gilsineth Santos
Was wurde aus dem Vermögen der Flachs, nachdem Vater und Sohn gestorben waren – vor allem aus den versklavten Menschen?
Santos Der Reichtum ist ziemlich sicher in die Schweiz gekommen. Zumindest wird das behauptet. Für die versklavten Menschen bedeutete das viel Leid und Armut.
Da Cruz Silva Bei der Familie Flach kann ich das belegen. Der Sohn João hatte die Tochter einer Neuenburger Familie, Isaline Gerber, geheiratet. Im Jahr 1855 ertrank er aber in einem Fluss. Isaline und die Kinder kehrten nach diesem plötzlichen Tod in die Schweiz zurück, und ihr Bruder nahm sich der Verwaltung der Plantage an. Das heisst aber nur, dass er ein Inventar erstellte – dann zügelten sie alles in die Schweiz ab.
In der Schweiz startete in den letzten Jahren eine Debatte über eigene Verflechtungen im Kolonialismus.
Oft heisst es, das Land sei nie am Kolonialismus beteiligt gewesen, weil es nie Kolonien hatte.
Was sagen Sie dazu?
Da Cruz Silva Der Schweizer Staat wusste immer von der Sklaverei in Brasilien. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass er über das Konsulat immer für die Siedler da war, wenn sie ein Problem hatten. Meine Quellen zeigen, dass er das Schweizer Eigentum in Brasilien verteidigt hat. Und ein beträchtlicher Teil dieses Eigentums waren Menschen.
Santos Diese Tatsache müsste man übrigens auch an den Schulen hier unterrichten: die Geschichte von Schweizern, die das Blut anderer Menschen getrunken haben.
Ich glaube, dem Widerstand gegen die Vorstellung, dass die Schweiz vom Kolonialismus profitiert hat, liegt auch eine ideologische Angst zugrunde: die Angst, dass der eigene Wohlstand schlechtgeredet wird. Dessen Grundlage sei vielmehr Fleiss, Innovation und Industrialisierung, nicht Ausbeutung.
Da Cruz Silva Aber wir arbeiten ja auch gern! (sie lacht)
Santos Die Leute wollen eben ein geschöntes Bild, ein weisses Bild ihrer Geschichte behalten, das kenne ich auch aus Brasilien gut. Weiss-Sein ist mit Sauberkeit, Schönheit, mit dem Richtigen und Guten verbunden. Demgegenüber ist das Schwarze durch und durch negativ konnotiert. Aber ich sage Ihnen eins: Ein Ort, der Geld annimmt, ohne zu fragen, woher es kommt, ist für mich ein sehr fragwürdiger Ort.
In jüngster Zeit sind hier auch Forderungen nach reparativer Gerechtigkeit aufgekommen (zum Beispiel von Hans Fässler, siehe «Das Städtchen aufrütteln», AZ vom 13. März 2025). Haben Sie Ideen, wie das konkret aussehen könnte?
Santos Ich würde das auf jeden Fall unterstützen. Einen wichtigen Schlüssel sehe ich in der Bildung. Die Schweiz könnte Initiativen fördern und stärken, die Bildung ermöglichen, und sie könnte sogar eine Entschuldigung für die Gewalttaten in der damaligen Colônia Leopoldina aussprechen.
Da Cruz Silva Das alles ist in Brasilien eine sehr neue Diskussion. Die meisten halten Geschichte für eine Geschichte der Toten, die auf das Jetzt keinen Einfluss mehr habe. Dabei geht es der Geschichte um die Lebenden! Die heutige Armut in Brasilien lässt sich nicht ohne die Geschichte der Sklaverei verstehen: Es gab einfach niemanden, der den nachfolgenden Generationen Reichtum weitergeben konnte. Brasilien beginnt jetzt erst, über sich selbst zu reden. Zum Thema Europa sind wir noch nicht gekommen (sie lacht).
Wie kam das zustande?
Da Cruz Silva Die Historikerinnen Keila Grinberg, Beatriz Mamigonian und andere haben von der Banco do Brasil eine Entschuldigung für die Beteiligung an der Finanzierung von Sklavenschiffen gefordert. Das war erst letztes Jahr. Und dieses Jahr hat Grinberg einen Artikel veröffentlicht, in dem sie eine andere Bank, die Caixa Econômica, anklagt, weil diese die Ersparnisse versklavter Menschen für sich behalten hat.
Nun nehmen Sie in Lausanne an der Konferenz von Bernhard Schär und Izabel Barros teil. Wie geht es danach für Sie weiter?
Santos Bei mir hat diese Reise die Neugierde geweckt. Ich will mehr über die Geschichte meiner Community erfahren und mir Zugang zu Dokumenten über Helvécia verschaffen. Zu wissen, dass schon darüber geforscht wird, macht mich sehr glücklich.
Da Cruz Silva Wir kehren am Samstag nach Brasilien zurück, und ich setze mein Doktorat fort. Ich will einen Gedanken weiter vertiefen: Das Projekt, das ich erforsche, war nicht nur das einiger Händler – sondern es beinhaltete immer auch die Partizipation des Staates.
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