«Es ist ein mentales Game»

13. Oktober 2025, Andrina Gerner
Foto: Robin Kohler

Die Violinistin Muriel Oberhofer ist auf bestem Weg zur Solo-Karriere, von der viele träumen. Wie kommt man da hin?

Wer Perfektion anstrebt, muss hart arbeiten und darf sich keine Fehler erlauben, denn die Konkurrenz verzeiht nichts. Man kennt die Szenen aus Filmen wie «Whiplash» oder «Black Swan», die den ehrgeizigen Aufstieg (und oft auch den Fall) junger Talente an Kunst-, Musik- oder Tanzakademien nachzeichnen – meist in dramatischer Übertreibung: Mentoren mit sadistischen Methoden, fiese Mitstreiter:innen und ewiges Konkurrenzdenken.  Aber sind diese Szenarien wirklich so übertrieben? 

Muriel Oberhofer muss es wissen: Nach sechs Jahren Studium hat die Schaffhauserin ihre Ausbildung an der Royal Academy of London mit einem Master of Arts in Violine abgeschlossen und ergänzt ihre Ausbildung nun mit dem «Professional Performance Diploma» an der Manhattan School of Arts, wo sie auch Privatlektionen bei Starviolinist Pinchas Zukerman erhält – auf dessen persönliche Einladung. 

Die Koryphäe war während eines Vorspiels für die Aufnahme in einen Meisterkurs zufällig vor Ort und schnell von Oberhofers Können überzeugt. Er gab ihr spontan eine Musiklektion – alle anderen mussten warten. Es folgte die Einladung nach New York, die nur «exceptionally gifted», also aussergewöhnlich begabten Talenten zuteil wird. Also alles gar nicht so schlimm im Kampf um die erste Geige? Oder hat Muriel Oberhofer das Spiel um den Platz ganz vorne bis jetzt einfach am besten gespielt?

Der Weg der 25-Jährigen erscheint auf den ersten Blick sehr gradlinig. Sie stammt aus einer Musikerfamilie über mehrere Generationen, verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Zürich, bevor ihre Eltern mit ihr und ihren beiden Brüdern nach Schaffhausen zogen. Eine musikalische Karriere wurde ihr zwar nicht vorgeschrieben, aber sie war definitiv nicht ausgeschlossen: «Es war eine sehr greifbare Option für mich.» 

Dieses und kein anderes

Oft genug hätte ihr Weg aber auch einen anderen Abzweiger nehmen können. Schon die Wahl ihres Instruments war mehr oder weniger purer Zufall: Sie könne sich nicht mehr daran erinnern, aber mit drei Jahren habe sie auf die Violine auf einem CD-Cover gezeigt und den Eltern verkündet, genau dieses Instrument lernen zu wollen. Und als sie kurze Zeit später auf dem Weg zum Eiskunstlaufen eine kleine Kindergeige in einem Schaufenster sah, war es beschlossene Sache: diese musste es sein. 

Mit vier Jahren begann Muriel Oberhofer mit dem Geigenunterricht und hat ihr Instrument seither kaum mehr aus den Händen gelegt. Mittlerweile spielt sie auf einer über 300-jährigen Violine des Geigenbauers Vincenzo Rugeri. Eine Leihgabe, wie es üblich ist auf Profi-Niveau. 

Als wir die Musikerin in Schaffhausen treffen, ist sie gerade auf dem Sprung zurück nach New York. Der Sprung vom beschaulichen Städtchen in die Megacity könnte nicht grösser sein. Die sechs Jahre Studium in London hätten es ihr aber einfacher gemacht, sich im Big Apple zurechtzufinden: Wenn man mit London comfortable werde, sei das auch in New York möglich, sagt Oberhofer. Seit einem Jahr studiert sie dort, eines hat sie noch vor sich, danach «werde es spannend». Mit ihrem Studierenden-Visum kann sie noch ein Jahr länger in den USA arbeiten, bevor sie sich um ein Global-Talent-Visum bemühen müsste, das mit einigen Auflagen verbunden ist. Der Aufwand lohne sich aber, New York sei eine gute Ausgangslage für eine internationale Karriere sowohl in den Staaten als auch in Europa. Das Pendeln über den Atlantik sei gerade noch so vertretbar. 

Bereits mit Anfang zwanzig spielte Muriel Oberhofer in renommierten Hallen wie der Wigmore Hall in London, dem Auditorio Nacional de Música in Madrid und der Tonhalle Zürich und absolviert regelmässig Masterklassen bei bekannten Namen wie Hilary Hahn oder Peter Zazofsky. Als sie jünger war, gewann sie den Schweizerischen Jugendmusikwettbewerb, ihr Studium in London schloss sie mit Bestnoten und Auszeichnung ab. Das liest sich alles sehr beeindruckend. 

War sie ein klassisches Wunderkind? Sie lächelt. Das Üben sei ihr immer leichtgefallen, sagt Oberhofer, sie sei mit vergleichbar geringem Einsatz relativ weit gekommen. So gingen Musik und Schule auch immer gut zusammen. Aber es brauche beides: Talent und harte Arbeit. Oberhofer habe es ausserdem immer geliebt, auf der Bühne zu stehen und vorzuspielen. Ob man das als Talent bezeichnen könne, wisse sie nicht, aber es sei sicher ein treibender Faktor gewesen. 

Muriel Oberhofer konzertierte im August im Sorell Hotel Rüden mit Pianist Julian Chan. Bild: zVg / Muriel Oberhofer

Seit sie 12 Jahre alt war, nahm sie Unterricht bei Klaidi Sahatci, dem Konzertmeister der Tonhalle Zürich. Trotzdem war es ihr möglich, neben ihren Geigenstunden die Matura zu machen. Es gibt ein Förderprogramm für «Jugendliche mit künstlerischem Spitzenpotenzial» an der Schaffhauser Kantonsschule – ursprünglich als Programm für Sport und Kunst konzipiert und während Muriel Oberhofers Schulzeit für sie angepasst und ausgebaut. Es war einfacher, Absenzen zu bekommen, sie durfte gewisse Stunden fehlen, musste aber alles nacharbeiten. Im letzten Jahr am Gymnasium begann der Bewerbungsprozess für die weitere Ausbildung, Oberhofer war viel unterwegs. 

Wie war es, schon früh immer das grosse Ziel der Solo-Karriere vor Augen zu haben? Blieb da viel Zeit für anderes? Sie sei sicher nicht diejenige gewesen, die immer im Ausgang gewesen sei, sagt Oberhofer. Aber einfach, weil die Doppelbelastung ermüdend gewesen sei: «Den Ausgleich suchte ich eher in meinem anderen Hobbies Ballett und Eiskunstlauf.» Für die wichtigen Dinge habe sie sich aber schon Zeit genommen, Maturreise oder Maturball fanden nicht ohne sie statt. Nur die Aufnahmeprüfung für das Studium an der Royal Academy of London fiel genau auf den Tag der Maturaarbeit-Abgabe – während Muriel Oberhofer in London noch schwitzte, waren ihre Kolleg:innen schon am Feiern.

Geschickt gespielt 

Im Bachelorstudium sei der Leistungsdruck dann grösser geworden, schliesslich arbeiteten alle auf das gleiche Ziel hin. Und wenn Talente mit dem gleichen grossen Traum aufeinandertreffen, werden schon mal die Ellenbogen ausgefahren. Im Master habe sich dieses Denken dann massiv beruhigt. «Die Musik ist nicht wie ein olympischer Sport, bei dem es nur einen Gewinner gibt», sagt Oberhofer. Jeder könne seinen eigenen Weg finden. Wenn man es geschickt anstelle, fänden sich einige Nischen. 

Muriel Oberhofer aber musste sich nicht arrangieren. Sie gehört zu den wenigen, die auf der Solo-Route bleiben konnten. Hat sie die anderen ausgespielt? War am Ende sie die Fiese, wie man sie aus Filmen kennt, und ist damit durchgekommen? Oberhofer lacht: «Nein, eher im Gegenteil, ich habe immer versucht, mit allen auszukommen.» Das habe ihr einige Vorteile verschafft. Vernetzung ist auch im klassischen Musikmarkt extrem wichtig, schon im Studium bemühen sich die angehenden Profis um Engagements, gründen Ensembles, oder helfen in Orchestern aus, um möglichst viel auftreten zu können. Und Muriel Oberhofer wurde oft angefragt. «Ich hatte Glück, dass ich die meisten Konzerte als Solistin bekommen habe.» 

Nun ist sie auf bestem Weg, eine bekannte Solistin zu werden. Die Sache mit diesem Anspruch anzugehen, wäre aber wohl der falsche Ansatz gewesen. «Ich möchte meine Kunst mit den Menschen teilen», sagt sie. Darauf, auf welcher Stufe der Berühmtheit dies passiere, habe man letzten Endes wohl wenig Einfluss. Klar hoffe sie, dass ihr Name bekannt werde: «Aber ich wäre auch zufrieden, wenn ich einfach davon leben kann, Musik zu machen.» Gehört das Unterrichten als Brotjob nicht sowieso dazu, wenn man nicht gerade Ann Sophie Mutter oder Itzhak Perlman heisst? Für sie wäre das kein Müssen, betont Muriel Oberhofer: «Ich würde sehr gerne unterrichten. Ich selbst habe ja auch das Glück, tolle Mentoren zu haben, die mir ihr Wissen weitergeben.» 

Die Noten sind im Kopf

Das Wort «Glück» benutzt Oberhofer ziemlich oft. Vielleicht hat es tatsächlich eine Rolle gespielt, vielleicht stapelt die Schaffhauserin auch einfach tiefer, als sie müsste.

Doch auch der grosse Solistinnen-Traum ist am Ende nur ein Job, für den man bezahlt wird. Man sollte mit allen Musikstücken, die einem vorgelegt werden, etwas anfangen können, sagt die Violinistin, schliesslich sei man letzten Endes Dienstleisterin. Und schaut man Muriel Oberhofer bei der Arbeit zu, versteht man, wovon sie spricht. Sie weiss genau, dass es nicht nur ein Genuss ist, im schönen Abendkleid vor dem Orchester zu stehen. Die Verantwortung, das Konzert zu tragen, ist gross. Ihre beste Freundin sei Profi-Skicrosserin auf olympischem Niveau. Ihre Vorbereitung sei sehr ähnlich: Visualisierung der Strecke, extreme Konzentration, Abruf der Leistung im entscheidenden Moment: «Es ist ein mentales Game.» Ein gewisses technisches Level sollte man natürlich immer griffbereit halten. Die Noten sind sowieso im Kopf. Das Phänomen Jugendgedächtnis sei übrigens faszinierend, findet Oberhofer: «Was man in seiner Jugend einübt, bleibt eingraviert. Das stimmt wirklich.» Und wenn sie die Noten technisch einmal verinnerlicht habe, werde es interessant: «Irgendwann leben die Stücke in mir, dann kann ich mich ganz auf die Performance konzentrieren.» Die eigene Interpretation sei wichtig, das müsse man als Solistin mitbringen: «Man muss das Stück in der Art präsentieren, die Sinn macht für einen selbst. Wenn man das nicht kann, wirkt es auch nicht überzeugend.» 

Kann man als Profi-Geigerin je auslernen? Muriel Oberhofer winkt ab: «Anfangs dachte ich das wirklich. Dass man die Technik irgendwann draufhat. Aber nein, auch mein Mentor übt noch tagein, tagaus seine Tonleitern. Er sagt immer, wenn man das Gefühl habe, alles erreicht zu haben, dann sei die Karriere zu Ende.» Sie lacht: «Und wenn einer der besten Geiger der Welt so etwas über sich sagt, habe ich nicht die Arroganz, etwas anderes zu behaupten.»

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