Endlich Wurzeln schlagen

6. Oktober 2025, Fabienne Niederer
Lena Heusser an ihrem Wohlfühlort hier in der Region. Bild: Robin Kohler.
Lena Heusser an ihrem Wohlfühlort hier in der Region. Bild: Robin Kohler.

Als «Lena Sereia» hat Lena Heusser ihr Debütalbum veröffentlicht.
Ein Gespräch über Verletzlichkeit, weite Reisen und nicht länger verschlossene Augen.

Sie habe sich mal für einen Job gemeldet, als sie verzweifelt gewesen sei. Nachtschicht in einer Fabrik. Lena Heusser hat die Ellbogen auf dem Holztisch aufgestützt, während sie erzählt, die braunen Haare sind lose zusammengebunden. Neben ihrer Schulter fliesst der Rhein vor sich hin. 
«Alle Mitarbeitenden mussten mitten in der Nacht in einem runtergekühlten Raum am Fliessband stehen und kleine Schäleli mit Fertigsalat befüllen. Ich war so dick eingepackt, ich konnte mich kaum bewegen, und vor Müdigkeit bin ich fast eingeschlafen, als ich Schale für Schale bereit gemacht habe.»
Sie trägt ein verblichenes, blaues Hemd, das ihr ein wenig zu gross ist und von den vielen Waschgängen vermutlich unsagbar weich auf der Haut liegt. Ihre Nägel sind heruntergekaut – beim Sprechen erwischt sie sich immer wieder dabei, wie sie an den Fingerkuppen knabbert. 

«Die Vorgesetzten haben mich angeschrien, wenn ich nicht schnell genug gearbeitet habe. Vom vielen Desinfektionsmittel ist meine Haut an den Händen aufgeplatzt, so trocken war sie. Das war so ziemlich das dümmste, was ich je für Geld gemacht habe.»
Es ist ein sonniger Nachmittag, als wir mit Lena Heusser zum Gespräch in der Rhybadi zusammensitzen. Auch hier hat die 31-Jährige schon ihr Geld verdient. Der Lebenslauf Heussers, er ist beachtlich – und diente ihr halbes Leben lang nur einem Ziel: Raus aus der Schweiz, dieser «einen, grossen Fonduemasse», wie sie sagt. Ihre Reisen führten sie nach Indien und auf die Philippinen, nach Venezuela und Brasilien, nach Slowenien, Portugal, Tschechien und Frankreich.

Heussers Dasein könnte beim Durchschnittsschweizer leicht den auf der Zunge liegenden Reiz auslösen, das Wort «Hippie» in den Mund zu nehmen. «Die Leute haben nun mal gern Schubladen», sagt die Schaffhauserin auf den Titel angesprochen. Darüber muss sie lachen. «Manchmal vergesse ich, dass Leute mich komisch oder sonderbar finden. Ich mache einfach das, was ich für richtig halte, und natürlich bin ich manchmal auch unsicher.» Der Begriff Hippie stört sie nicht. «Ich finde ihn nur ein bisschen zu einfach gefasst. Ich könnte auch bei jedem, der einen Bürojob hat und verheiratet ist, sagen: Schau, ein Bünzli. Das greift zu kurz.»

Erst seit diesem Frühling hat sie wieder einen Ort, den sie ihr Zuhause nennen kann: einen umgebauten Bauwagen, sechs auf zwei Meter, hier in der Region. Und sie hat ein Souvenir von ihren Reisen mitgebracht. Ihr Erstlingswerk heisst «Pé no chão» – eine EP mit sechs Songs in Mundart, Englisch und Portugiesisch – und bedeutet übersetzt soviel wie «mit beiden Füssen auf dem Boden stehen» oder «bodenständig sein». Bis sie hier angekommen ist, hat es einen langen Weg gebraucht.

Reissaus Richtung Sonnenaufgang

Lena Heusser veröffentlicht ihre Musik als Lena Sereia. Sereia, das ist die Meerjungfrau. Ein Fabelwesen, das durch die Weltmeere zieht und von der Strömung davongetragen wird, ohne festen Boden unter den Füssen. Doch die Kiemen sind Heusser nicht sofort gewachsen: Zunächst versuchte sie es noch auf der konventionellen Schiene, machte als Teenagerin eine Lehre als Speditionskauffrau – schickte Pakete in die Welt hinaus und nicht sich selbst. 
Etwa ein Jahr nach dem Lehrabschluss hatte sie genug: «Ich merkte schnell, dass mir das Hamsterrad in der Schweiz nicht gut tut. Ich habe nach etwas anderem gesucht.» Also liess sie sich zur Tauchlehrerin ausbilden und nahm mit Anfang 20 Reissaus Richtung Sonnenaufgang; nach Südostasien, arbeitete in der Tourismusbranche. «Es war eine tolle Zeit, aber auch eine, in der ich noch sehr jung war und keine Ahnung hatte, was ich eigentlich wollte», erzählt sie heute.

Sie zog weiter nach Indien und machte dort, direkt am Schopf der philosophischen Bewegung, eine Ausbildung zur Yogalehrerin. Erstmals setzte sich die junge Schaffhauserin mit einem substanzenfreien Leben auseinander, mit Meditation, mit dem eigenen Körper.
In die Schweiz kehrte sie zu dieser Zeit nur punktuell zurück, jeweils zwei oder drei Monate, um Geld zu verdienen. Ihr Lebenslauf wurde länger als die Quittung eines Shoppingfanatikers nahe der Grenze; Gastronomie, Verkauf, Lehrvertretung, kleine Nebenjobs hier und dort. «Geld war immer ein Thema», meint Heusser dazu. Einerseits sei es eine sehr lehrreiche Zeit ohne Verpflichtungen gewesen. Andererseits: «Wenn ich zum Beispiel meine Eltern besuchen wollte, musste ich zuerst nachschauen, ob das Geld für ein Flugticket reicht. Ich hatte keinen Fixpunkt, ich fühlte mich nicht geerdet.» Das Konto war oft im Tiefbereich – keine Schulden, aber erst recht kein finanzielles Polster.

Als sie in Indien lebte, wollte Heusser erst nichts mehr mit der Schweiz zu tun haben. Diese harsche Sichtweise überdachte die 31-Jährige später. «Das Unstete hat mir irgendwann zu schaffen gemacht. Ich wollte meiner Heimat nochmal eine Chance geben.» Also kehrte sie zurück ins kleine Becken, ins Städtli, und heuerte im Service an; wer Heusser nicht aus der Rhybadi kennt, erinnert sich vielleicht an ihre Zeit in der Fassbeiz. Direkt in der Nähe des Betriebs bewohnte sie zeitweise eine kleine Stadtwohnung. 

Bossa Nova und Chruut und Rüebli

Dort, inmitten der Altstadt, wurde Heusser schliesslich von einer Welle erfasst, die sie in eine neue Richtung schob: Es war das erste Mal, dass sie über ein Dasein als Musikerin nachdachte. Ihr damaliger Partner machte sie damit bekannt. «Bis dahin hatte ich mit Musik wenig zu tun, ich dachte immer, das sind die reinsten Magier.» Gemeinsam reisten die beiden als Strassenmusiker durch Europa, kreuz und quer, «chli Chruut und Rüebli». Heusser erinnert sich gern an diese Zeit zurück: «Er ist Brasilianer und hat angefangen, mir alte Bossa-Nova-Klassiker beizubringen, eine beliebte Musikrichtung aus Südamerika.» Durch ihn begann sie, portugiesisch zu lernen und machte gleichzeitig erste, zaghafte Schritte mit einer brasilianischen Live-Band, die zufällig auf der Suche nach einer Sängerin war.

Auf die Routine folgte ein Schnitt: Die Trennung von ihrem Partner, gepaart mit der Pandemie. Heusser entschied sich, ihre Trauer in einem spirituellen Zentrum in Schweden zu verarbeiten, das Persönlichkeitsentwicklungen predigt. Der Draht zu ihrer Schweizer Heimat war nur mehr ein dünner Faden. Sie fühlte sich entkoppelt und hatte nur wenige Freunde hier, die ihre Interessen und Herangehensweisen teilten. An diesem Punkt in ihrem Leben nahmen die eigenen Schatten immer mehr Raum ein: «Geschichten aus meiner Kindheit, die mich bis heute beeinflussen», wie Heusser andeutet, und für die sie schliesslich auch eine Therapie besucht. 

Heute, mit Anfang 30, sieht sie ihre Erfahrungen aus den letzten Jahren mit neuen Augen. «Es war mir wichtig, mich selber kennenzulernen, und ich hatte das Gefühl, dafür weit weggehen zu müssen. Es hat Zeit gebraucht.» Und es hat gekostet: «Die Beziehungen, die ich hier hatte und auch heute wieder habe, konnte ich damals nicht vertiefen. Ich merkte: Ich kann nicht so viel hergeben, wie ich gerne würde. Und ich bekomme auch nicht so viel.» Heute könnte sie nicht mehr so im Leben umhertreiben wie früher. Ohne Anker sein. Mittlerweile ist Heusser, nach jahrelangem Fortbleiben, wieder offiziell hier angemeldet. Trotzdem geht sie jedes Jahr ein paar Monate lang nach Brasilien, besucht dort ihren neuen Partner, mit dem sie auch ihre EP aufgenommen hat. Aber es sei Schaffhausen, das sie mit Ruhe versorge, sagt Heusser. «Die Schnelllebigkeit, das Aufregende, das hatte ich alles schon. Jetzt möchte ich, dass meine Projekte richtige Wurzeln bekommen können.»

Nicht mehr blind

Die Früchte dieser Arbeit zeigen sich nun: Sechs Tracks aus sechs Monaten, rund 23 Minuten und drei Sprachen. Anfang September taufte Heusser ihr Debüt «Pé no chão» in der Rhybadi. Sie richtete sich nicht auf der kleinen Holzbühne ein, die am Ende des Stegs bereitsteht, sondern gegenüber – auf den alten Holzplanken. Dort verteilten sie und ihr Partner verblichene Perserteppiche, Sitzsäcke aus Leder und kleine Tische aus Bambus. In einer Schale entzündeten sie ein kleines Feuer. Sie war barfuss. 

Ein paar Tage später, wie sie am Rhein sitzt, zeigt sich Heusser nachdenklich, wenn man etwas nachbohrt. Sie scheint mit den gesammelten Reisemeilen auch Einsichten gewonnen zu haben, die über eine eigene Selbstfindung hinausgehen: «Es ist ein Privileg, in der Schweiz aufgewachsen zu sein: Ich habe nie in meine Karriere investiert per se, ich konnte auf Reisen gehen», sagt sie. «Da ist dieses omnipräsente Thema, wenn man als weisser Mensch in ein Land geht, in dem die Mehrheit nicht weiss ist; wenn man mehr Chancen erhalten hat, wenn man auch angefeindet wird, weil andere dein Privileg erkennen.

Das hat mich gezwungen, mich mit meiner Rolle auseinanderzusetzen – mit der Geschichte, die wir als Weisse mit diesen anderen Ländern teilen.» Es wäre einfacher, blind zu sein, sagt Heusser zum Schluss. «Aber ich bin dankbar, dass ich es nicht mehr bin.»

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