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«Der Gwunder treibt mich an»

Foto: Robin Kohler

Hannes Stricker malt die schönsten Wanderführer der Schweiz. Soeben hat er die Schaffhauser Version überarbeitet. Ein Gespräch mit einem, der auf dem Knochen läuft und sich Zeit nimmt.

Die Schweizer Illustrierte taufte ihn den «Wandererverführer», Altregierungsrat Christian Amsler nannte sein Schaffhauser Wanderbüchlein im Vorwort «ein wunderbares Werk als Wanderkompass»: Hannes Stricker ist so etwas wie der Grossmeister der Wanderkunst. Seine Werke tragen Titel wie «Von der Hölle ins Paradies» oder «Pilgern bringts» und verkaufen sich x-fach. Besonders daran: Sie sind von A bis Z handgemacht. 

Aquarellillustrationen, Kommentare zu Bergbeizen oder ein Inventar an Blumen und Gebäuden ergänzen Strickers Strecken auf geradezu akribische Weise. Alles abgewandert, kartiert und eingefangen vom pensionierten Lehrer Stricker (86) und seiner Frau Lisbeth (82). Sie leben zusammen in Kesswil am Bodensee, im Kanton Thurgau. 

So sind inzwischen elf Wanderbüchlein entstanden, herausgegeben im eigens dafür gegründeten «Verlag am Bach». Vor eineinhalb Monaten erschien die zweite, aktualisierte Auflage des Wanderbüchleins «Schaffhausen und Zürcher Weinland». Wir trafen Stricker am gleichen Tag in der Schaffhauser Altstadt, ein Karton mit frisch gedruckten Exemplaren war auf dem Gepäckträger seines E-Bikes festgezurrt.

Herr Stricker, wir sind beide fünf Minuten zu spät zum Interview erschienen. Sie sagen, der Schaarenwald bei Diessenhofen habe Sie getäuscht. Wie meinen Sie das?

Hannes Stricker Von Kesswil hierhin sind es rund 60 Kilometer. Im Schaaren konnte ich wegen der gekiesten Waldstrassen nicht mit vollem Tempo fahren, das habe ich nicht einberechnet. Sehen Sie (er drückt auf dem Display seines E-Bikes herum): Ich hätte exakt um fünf vor Acht abfahren müssen, um rechtzeitig hier zu sein. 

Ich meinerseits bin zu spät von zu Hause losgegangen. 

Ach. 

Sie kennen sich in der Region gut aus, haben sie für Ihr Schaffhauser Wanderbüchlein abgelaufen und kartiert. Ist Ihnen auf dem Weg heute etwas aufgefallen, das Ihnen bisher nicht aufgefallen ist?

Vor allem fällt mir auf, wenn irgendwo gebaut wird, wie jetzt gerade im Kloster Paradies. Was ich heute bemerkte: Man kann jetzt vom Paradies aus auf dem Trottoir sicher bis nach Schaffhausen fahren. Früher war das mühsam. 

Ich habe gesehen, dass Sie beim Gehen hinken. Was ist passiert?

Etwas Blödes, wie bei allen Unfällen. Meine Frau und ich waren vor ein paar Jahren auf einer Wanderung im Wallis. Wir waren bereits auf über 2000 Höhenmetern und haben gestaunt, wie schön die Wanderwege gemacht sind. Als der Weg schmaler wurde, kam uns jemand entgegen. Ich trat zur Seite, auf eine Platte, und genau die brach in den Abgrund.

Das klingt nach einer äusserst brenzligen Situation.

Ich weiss heute nicht mehr wie, aber ich habe Arme und Beine ausgestreckt, es ging wirklich steil hinunter, und so konnte ich mich ein Stück weit abbremsen. Mithilfe der anderen Wandernden konnte ich wieder auf den Weg klettern. Zuerst dachte ich, ich hätte nur meinen Fuss vertreten, aber die Schmerzen wurden immer schlimmer. Später kam heraus, dass es die ganze Knorpelschicht im Fussgelenk rausgejagt hat. Ich laufe heute auf dem Knochen. 

Wie sind Sie dann wieder heil nach Hause gekommen?

Später überholte uns eine junge Krankenschwester, die mir starke Schmerztabletten gab, so dass wir es auf die letzte Seilbahn schafften. In der Kabine sassen auch die Bergbahn-Angestellten. Wir sprachen sie auf verschiedene Wegzeichen an, die heute zehn bis fünfzehn Meter tiefer unten liegen als noch vor zwanzig Jahren. Die Angestellten erklärten uns, dass sie den Wanderweg jedes Jahr neu machen müssen, weil der ganze Hang nach unten rutscht. (Zeigt auf seinem Smartphone eine Karte mit allen gesperrten Wanderwegen im Wallis). Eigentlich müsste ich nach dem Schaffhauser Büchlein auch das Walliser Büchlein überarbeiten, das lasse ich aber vorläufig bleiben. 

Können Sie seit Ihrem Unfall noch wandern?

Mit Stöcken ja, aber nicht mehr so viel. Ich mache auch kein neues Büchlein mehr. Jetzt bin ich aufs Fahrrad umgestiegen. Das ist auch schön. 

Sie haben in Ihrem Leben tausende Wanderungen unternommen. Erinnern Sie sich an Ihre erste?

Ich wuchs in den Vierzigerjahren in Romanshorn auf. Der obligate Familienspaziergang am Wochenende führte dem See entlang nach Uttwil. Dort gab es eine Nussgipfelbeiz, mit der lockte uns der Vater. Mich hat der Weg schon damals angegurkt: Links waren die Bahngleise, rechts verdeckten die Villen der Gutbetuchten den Blick auf den See. Ich habe mich auf die Eidechsen am Boden konzentriert. Heute fahre ich denselben Weg mit dem Fahrrad, aber Eidechsen hat es keine mehr. 

Was macht die Faszination des Wanderns aus? 

Es ist ein intensives Erleben einer Landschaft. Je älter meine Frau und ich wurden, desto mehr versuchten wir, neue Gegenden zu erkunden. Meine Eltern lebten nach der Pensionierung im Tessin, also haben wir das Tessin von oben bis unten durchkämmt. Anstrengend war das vor allem für unsere Kinder, weil alle Ferien Wanderferien waren. Später wanderten wir in einer Gruppe etappenweise vom Bodensee nach Spanien und schliesslich zu zweit bis zum Kap Finisterre am Atlantik. Als wir die Fernwanderung Jahre später wiederholten, habe ich auf eigene Faust viele Orte besucht, bei denen mir beim ersten Mal die Zeit und Musse gefehlt hatte. Und dann malte ich.

Wie kamen Sie zum Malen?

Das kommt auch vom Wandern. Manchmal stehe ich vor Landschaften, deren Schönheit ich einfangen will. Wie heute Morgen, da bin ich auf der Feuerthalerbrücke vom Fahrrad gestiegen und habe den Rhein und den Munot fotografiert, ein unglaublich schöner Anblick. Wenn ich früher auf einer Wanderung einen solchen Moment erlebte, nahm meine Frau mit den Kindern einen Zug früher nach Hause und ich sass hin und malte, was vor mir lag.

Aquarell des Wangentals. Aquarellillustration von Hannes Stricker.

Sie hätten bereits damals fotografieren können. Wieso haben Sie gemalt?

Für das Malen braucht man einen ruhigen Platz, mit einer schönen Aussicht. Man sieht dabei nicht nur die Landschaft, sondern hört sie auch, spürt den Wind, beobachtet die Vögel oder auch andere Tiere, die sich nähern. 

Sie fasziniert die Langsamkeit. 

(lacht) Sie, ich habe über 80 Waffenläufe gemacht, da war ich gar nicht langsam! 

Der erfahrene Wandersmann Stricker wählt seinen Weg selbst. Auch beim Erzählen. Und so erfahren wir auf Nebenpfaden, wie er als Sanitätssoldat die ersten richtig langen Wanderungen beging, einmal von Walenstadt rund um den Walensee; wie er mit den ältesten seiner sechs Geschwister («die Saubande») vor 66 Jahren dem Wirt auf dem Rotsteinpass geholfen hat, den ersten Anbau seines Berggasthauses zu realisieren; wie er zum Aquarellmalen kam (eine Lehrerkollegin sah eine seiner Wandtafelzeichnungen und empfahl ihm, einen Aquarellkurs zu belegen, was er zwanzig Jahre später auch tat). Und er erzählt ausführlich die Geschichte, wie die Henne auf dem Hof seiner Tochter zuerst die Katze und ihre Jungen und danach den Eber das Fürchten lehrte. Danach denkt er kurz nach und sagt: «Entschuldigen Sie, wir sind vom Weg abgekommen.»

Was unterscheidet den Wanderer vom Spaziergänger oder vom Flaneur?

Alle drei tun etwas Gesundes. Früher ging ich viel joggen, das ist besser zum Abnehmen. 

Aber warum wandert der Wanderer? Warum wandern Sie, Herr Stricker?

Dahinter steckt der Gwunder, der mich antreibt. Am Beispiel Schaffhausen: Bevor ich vor zehn Jahren mit dem Schaffhauser Wanderbüchlein begann, wusste ich, dass ihr hier in der Region viele Naturschutzgebiete habt. Ich wusste, dass es dort auch Frauenschühli und Orchideen zu sehen gibt, aber nicht, wo genau. Heute besuchen meine Frau und ich mindestens einmal im Jahr das Naturschutzgebiet Tannbühl. Das ist jedes Mal ein Aha-Erlebnis! Dazu kommt der Gwunder für die Berge, die Aussicht, die Begegnungen, die man auf Wanderungen hat. 

Was braucht es zum Wandern?

Gutes Schuhwerk und gute Vorbereitung, Kartenstudium und Wetterberichte.

Ich meinte mehr: Welche geistige Verfassung braucht der Wanderer?

Wissen Sie, neben meiner Arbeit als Lehrer war ich zehn Jahre lang für das Zivilstandsamt im Nebenamt verantwortlich und gab Lehrerkurse. Wenn ich Probleme wälzen musste, dann ging das am besten beim Wandern oder Spazieren. Danach kam ich nach Hause, und die Probleme waren gelöst. Zu Hause ärgerst du dich, weil draussen der Presslufthammer dröhnt oder die Lastwagen vorbeidonnern. In der Natur kann ich meine Gedanken sortieren. 

«Wandergebiete wie der Kanton Schaffhausen werden wegen des Klimawandels an Bedeutung gewinnen.» Foto: Robin Kohler.

Wie hat sich das Wandern in den letzten Jahrzehnten verändert?

Sie überfragen mich. 

Die Natur ist heute nicht mehr dieselbe wie früher. Zwischen Romanshorn und Uttwil gibt es keine Eidechsen mehr…

… und anstatt Blumenwiesen sieht man nur noch Erdbeer- und Obstfelder.

Wie verändert das das Wandererlebnis?

Man sucht sich einfach die Gebiete, wo die Natur noch intakt ist. 

Das klingt etwas eskapistisch. Was macht den Wanderkanton Schaffhausen aus?

(überlegt lange) Wandergebiete wie der Kanton Schaffhausen werden künftig wegen des Klimawandels an Bedeutung gewinnen. Das Wallis, das Tessin und teilweise das Bündnerland leiden darunter, dass bei starken Niederschlägen der Berg in den Abgrund rutscht. Ihr habt in Schaffhausen ein sehr sicheres Wandergebiet. Ein sehr ruhiges. Und dann findest du dich plötzlich auf einem Hügel oben bei einem Turm und kannst über das ganze Land blicken. Das ist wahnsinnig.

Genau das wollen wir nun tun, nicht vom Randen, aber immerhin vom Munot aus. Bevor wir losgehen, ruft Stricker seine Frau Lisbeth an und erzählt ihr von unserem Gespräch. Er spricht oft in der Wir-Form und von Lisbeth, seiner Frau und engsten Wegbegleiterin.

Vor der Treppe in der Unterstadt stellt er sein Fahrrad ab. Hier hatte er lange seinen Stand auf dem Schaffhauser Weihnachtsmarkt, an dem er im Winter seine Büchlein verkaufte. Dann steigt der 86-Jährige, der auf dem Knochen läuft, die Munottreppe in einem unheimlichen Tempo empor.

Was zeichnet Schaffhausen gegenüber seinen Nachbarkantonen aus?

Mich interessiert Natur und Kultur. Und da ist Schaffhausen natürlich deutlich gesegneter als der ehemalige Untertanenkanton Thurgau. 

Ach, tatsächlich?

Ist wahr! Stein am Rhein und Schaffhausen sind zwei Bilderbuchstädte, schön erhalten, gepflegt. Das wusste ich natürlich, aber dass zum Beispiel auch Neunkirch so schön ist, habe ich erst gelernt, als ich es für das Schaffhauser Wanderbüchlein besucht habe. 

Haben Sie für Schaffhausen Geheimtipps?

Das ist etwa das Naturschutzgebiete Laadel bei Merishausen, oder die SAC-Hütte auf dem Hasenbuck. Wer nicht aus Schaffhausen kommt, dem treibt das beim ersten Anblick die Tränen in die Augen. 

Es gibt einzelne Wanderziele, die heute bereits überrannt werden …

Aber nicht in Schaffhausen. 

Nein, aber zum Beispiel das Berggasthaus Äscher in Appenzell Innerrhoden. Ist das eine Gefahr für das Wandern?

Meine Frau und ich haben manchmal das Gefühl, dass wir mit unserem ersten Wanderbüchlein über das Appenzell noch den Anreiz für diesen Ansturm gesetzt haben. Ich habe das Berggasthaus für die erste Auflage 2006 gemalt, und drei, vier Jahre später war dort der Teufel los. 

Mit Ihren Büchern teilen Sie Perlen, auch gut gehütete. Gefährden Sie damit die Ruhe und Bedächtigkeit, die Sie selbst suchen?

Das wäre eine Überschätzung. Alles zusammengezählt, haben wir bisher rund 100 000 Exemplare von unseren Wanderbüchlein verkauft. Ich kann den Seeweg um den Greifensee nicht noch mehr kaputt machen, wenn ich ihn in meinem Büchlein erwähne. Ich kann die Leute nur davor warnen, am Sonntag dorthin zu gehen.

Das aktualisierte «Schaffhausen und Zürcher Weinland» ist erhältlich in Buchhandlungen oder direkt im Verlag am Bach: www.verlagambach.ch.

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