Der Gerichtshof für Menschenrechte drossle den Kampf gegen «kriminelle Ausländer» zu stark, findet die SVP. An vorderster Front im Kampf gegen Strassburg: Ständerat Hannes Germann.
«What was once right might not be the answer of tomorrow.» Was einst richtig war, sei vielleicht nicht die Antwort von morgen: So ominös beginnt der Brief, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 22. Mai dieses Jahres erhalten hat. Darin findet sich eine pompöse Rede über «kriminelle Ausländer», welche die «Gastfreundschaft ausgenutzt haben» und «ein Gefühl der Unsicherheit vermitteln» würden. Der EGMR schränke die Nationen in ihrer Entscheidungsfreiheit ein – besonders bei der Ausschaffung und Überwachung von Migrant:innen. Unterzeichnet ist die Wutrede von neun europäischen Regierungschefs, und ihre Botschaft ist unmissverständlich: Der Gerichtshof soll gezügelt werden.
Man braucht nicht zweimal raten, wer hierzulande an diesem Brief Gefallen findet: Die SVP hat ihren Feldzug gegen die «fremden Richter» schon vergangenes Jahr lanciert. An vorderster Front kämpft ein bekanntes Gesicht mit: der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann. In einer Motion fordert er, dass der Bundesrat dem Beispiel der europäischen Regierungschefs folge. Am kommenden Dienstag befindet der Ständerat über den Vorstoss.
Die Grenzen «längst überschritten»
In der Motion moniert Germann, man suche die Unterschrift des Bundesrats auf dem offenen Brief vergeblich – und das «trotz der Erklärung des National- und Ständerats an die Adresse des EGMR nach dem Klimaseniorinnen-Urteil». Dabei handelte es sich um das erste Urteil eines internationalen Gerichts, das einen Staat, namentlich die Schweiz, wegen unzureichendem Klimaschutz der Menschenrechtsverletzung schuldig sprach. Als Mitgliedstaat des Europarats habe die Schweiz eine Verantwortung, sich aktiv an dieser Debatte zu beteiligen, so Germann. Der EGMR habe die Grenzen des Zulässigen «längst überschritten».
Germann reiht sich mit seiner Forderung in eine Gruppe fragwürdiger Verbündeter ein. Federführend waren Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni. Beide Länder hatte der EMGR wiederholt für ihren Umgang mit Migrant:innen verurteilt. Meloni steht an der Spitze der Partei Fratelli d’Italia, die gemäss mehreren Einschätzungen wie jener der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung als rechtsextrem gilt. Für ihre Positionen zur Migration, aber auch für den Umgang mit Minderheitsgruppen, wird sie immer wieder kritisiert.
Die AZ hätte gerne erfahren, wie der altgediente Ständerat die politische Nähe zu einer solchen Regierungschefin rechtfertigt. Germann liess sich bis Redaktionsschluss nicht zu einer Stellungnahme bewegen.
Der zweite Schaffhauser Ständerat, Severin Brüngger, sagt auf Anfrage der AZ, er stehe «voll und ganz» hinter den Menschenrechten, aber die im Brief angesprochenen Anliegen seien aus seiner Sicht berechtigt.
Der EGMR hat in den letzten Jahren mehrfach Urteile zu Asyl- und Migrationspolitik gefällt: 2020 verurteilte er die polnische Regierung, weil Schutzsuchende an der Grenze zu Belarus abgewiesen worden waren, ohne deren Fluchtgründe zu prüfen. Zwei Jahre später rügte er auch Griechenland: 2014 war ein Boot mit Flüchtenden vor der Insel Farmakonisi von den Behörden zurückgedrängt worden, elf Personen kamen dabei ums Leben. Manchen Politiker:innen gehen solche Urteile zu weit – auch in der Schweiz. Bereits im Mai winkte der Nationalrat einen Vorstoss von FDP-Ständerat Andrea Caroni durch, der das Urteil über die Klimaseniorinnen als «ausufernde und übergriffige Rechtsprechung» bezeichnete.
Mitarbeit: Sharon Saameli