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Prost, Rösli

Rösli mit einer letzten Zigarette mit Stammgästen im Raucher-stübli. Fotos: Robin Kohler

Rösli mit einer letzten Zigarette mit Stammgästen im Raucher-stübli. Fotos: Robin Kohler

Nach 19 Jahren verabschiedet sich die Wirtin Rosa Haug von ihrer Stammbeiz. Wir trafen die legendäre Geheimnishüterin in Thayngen zur «Uustrinkete».

Im Dorfkern von Thayngen, nur drei Häuser vom zentralen Kreuzplatz-Kreisel entfernt, gibt es einen alten Kiosk. Wer die Tür aufstösst, dem wickelt sich sofort die 17-jährige Katze Daisy um die Waden wie ein loses Stück Garn, das Maunzen hoch und zuckersüss. Jeder Gast wird von ihr begrüsst – und jeder Gast kennt Daisy beim Namen, bückt sich zu ihr hinunter und krault sie hinter den Ohren.
Der zweite Gruss, wenn man die Schwelle übertreten hat, stammt von der 76-jährigen Rosa Haug. Sie ist die Besitzerin und Namensgeberin des Kiosks «Rösli», zu dem auch eine kleine Raucherstube im Hinterzimmer gehört.

Die Beiz befindet sich, zwischen Wohnhäuser gequetscht, an der Strasse «in Liblose». Und lieblos – kaum etwas würde weniger zu Rosas Stammbeiz passen. Nicht, weil das Etablissement so umfassend dekoriert ist (das ist es, inklusive handgemalter Katzenporträts und Blüemli-Tischdecken). Sondern weil sich die Stühle in Rosas Stube nun seit zwei Jahrzehnten regelmässig bis zum letzten Platz füllen, die Tische gedeckt mit Biergläsern und Colaflaschen, und mittendrin Rosa.

Jetzt, nach 19 Jahren Betrieb, ist Schluss mit dem «Rösli».

Bis zum Boden des Glases

An einem Wochenende Ende August bitten Rosa und Ehemann Erich zum letzten Mal zu sich. Rosa hat die Regalwand im Erdgeschoss nochmals aufgefüllt, bevor die Stammgäste sie zwecks «Uustrinkete» schliesslich leeren.

Den ganzen Tag über gehen die Leute ein und aus – sie bezahlen in klirrender Münze, wenn sie sich ein neues Päckli Glimmstängel holen oder einen Kaffee, der hier noch immer vier Franken kostet. Neumodische E-Zigaretten findet man an diesem Kiosk keine. Die Gäste streichen Daisy im Vorbeigehen übers matte Fell. Sie wünschen dem Ehepaar alles Gute, jetzt, wo für sie ein neuer Lebensabschnitt anfängt. Das Ende ihres Lokals hatte das Paar lediglich mit einem Zeitungsinserat im Dorfblatt angekündigt. Mittlerweile ist das Gebäude verkauft.

In einem der Regale steht eine riesige Flasche knallgrüner Trojka-Vodka, die an reuevolle Teenage-Eskapaden und damit einhergehende (ebenso bunte) Sauereien erinnert. «Der ist noch übrig von der letzten Fasnacht, dort war er immer beliebt», sagt Rosa. Früher lud das Paar regelmässig in den umgebauten Partykeller ein, zu Weihnachten verteilten sie Süssigkeiten an die Kinder.

«Ich sitze zu viel», meint Rosa, als sie sich an einem der vorderen Tische niederlässt. «Ich trinke und plaudere, räuchele gern.» Tatsächlich steckt eine frische Zigarette zwischen den pink manikürten Fingern. Rosas Stimme liefert den Beweis für die jahrelange Gewohnheit. «Ich bewege mich zu wenig. Ich will wieder mehr schwimmen gehen, spazieren, es einfach langsam angehen lassen.» Die Worte langsam und Rosa scheinen sich abzustossen wie zwei gleichgepolte Magnete.

Die Schankwirtin kann auf einen gewundenen Lebensweg zurückblicken: Geboren in St. Gallen, erlaubten die Eltern ihr zunächst nicht, eine «richtige» Ausbildung zu absolvieren. In Basel machte sie die Haushaltslehre, eine damals weit verbreitete Ausbildung für künftige Hausfrauen. Danach nahm sie Reissaus: nach Genf, für ein Au-pair-Jahr. Ein kleiner Akt der Rebellion, wie sie hinzufügt. Das Französisch könne sie auch heute noch gebrauchen.

Eine Zeit lang verdiente sie sich in Genf ihr Geld als Tellerwäscherin, dann im Verkauf. Zurück in der Ostschweiz heuerte die junge Frau bei einer Taxi-Firma an, aus dem gesparten Lohn bezahlte sie die Fahrstunden – diesmal ein grosser Akt der Rebellion. Elf Jahre lang war sie als Taxifahrerin selbständig und hatte eigene Angestellte unter sich.

Es gibt viele Parallelen zwischen dem Dasein als Chauffeuse und Gastwirtin, erzählt sie. «Du musst in beiden Fällen mit den Leuten reden, aber oftmals auch einfach zuhören können.» Und noch eine Eigenschaft ist das sprichwörtliche Gold wert: «Wenn einer zum Beispiel fragte, ob die Frau schon zuhause sei, zuckte ich nur mit den Schultern. Dabei war die schon längst mit einem anderen heimgegangen.» Weitere Gäste betraten die Beiz, in den Hemdfalten noch immer das schwere Parfüm eines anderen Stammgasts. Rosa hielt dicht.

«Man hat eben schon viel erlebt», setzt Rosa an. Ein paar Schlucke des Portweins, den Ehemann Erich eigentlich für sich selbst eingeschenkt hat, lockern ihre Zunge. Er tut nur so, als würde ihn der Diebstahl ärgern. «Als Taxifahrerin musste ich mal einen ins Puff bringen!», erzählt sie dann. «Ich durfte in der Küche warten, während er … sein Zeug erledigte.»

«Da hab ich mir gedacht:
Du bist ein Arschloch, was du kannst, kann ich auch.»

Rosa Haug

Wie so oft in ihrem Leben war es eine Reihe von Zufällen, die Rosa in den Randkanton und zum heutigen Betrieb führten: Nachdem sie mit ihrem ersten Ehemann nach Kanada ausgewandert war, kehrte sie anderthalb Jahre später zurück in die Schweiz. Alleine – die Ehe war zerbrochen. Die gemeinsame Tochter hatte sich in Thayngen niedergelassen, also tat sie es ihr gleich. Und lernte Erich kennen.
«Wir haben uns oft draussen auf ein Bänkli gesetzt und einfach geredet», erinnert sie sich. «Anfangs war ich noch etwas scheu, und überhaupt, von den Männern wollte ich damals nichts mehr wissen.» Trotzdem erlaubte sich die heute 76-Jährige irgendwann doch, eine neue Liebe entstehen zu lassen. Seit 2007 sind die beiden verheiratet.

Das «Rösli» führt Rosa seit 2006. «Die Eröffnung war am 1. Juni, das vergesse ich nicht. Wie ich damals zitterte und mich fragte: Schaff ichs oder schaff ichs nicht?» Rosas Zigarette ist fast heruntergebrannt. Im letzten Moment schnippt sie die bröckelige Glut von der Spitze.

37 Gläubiger

Am Anfang besassen Erich und sie das grosse Haus nur zum Wohnen, das Untergeschoss vermieteten sie an einen Musikfachverkäufer, der sich auch als Kiosk-Betreiber versuchte. Und der massenhaft Schulden anhäufte. «Irgendwann holte ich mir einen Auszug vom Betreibungsamt und merkte: Ich bin etwa an 37. Stelle in der Warteliste von Gläubigern», erinnert sie sich. Der Mieter machte sich schliesslich aus dem Staub. Noch heute schwingt Trotz in ihren Worten mit: «Da hab ich mir gedacht: Du bist ein Arschloch, was du kannst, kann ich auch.» Bewilligungen wurden eingeholt, Schulungen gemacht; das «Rösli» entstand.

Wie sich der Aschenbecher während Rosas Erzählungen füllt, tun es auch die Sitzplätze in der Stube. Seit der Pandemie habe sich die Beiz nie mehr ganz erholt, erzählt Erich. «Die Jungen kommen nicht mehr, die Alten sterben Stück für Stück weg.» Jetzt werde es Zeit. «Ich denke, die Leute kommen hierher, weil sie von uns akzeptiert werden», sagt er. Sie fühlen sich wohl im «Rösli». Es ist ein Treffpunkt, wo man für ein paar Stunden vergisst, in welchem Jahrzehnt man eigentlich zuhause ist.

Manche kommen schon so lange her, wie die Beiz existiert – etwa Wolfgang, von Freunden «Wolfi» genannt. «Ich weiss noch nicht, wo ich nachher hingehe», sagt er, und dreht ein hohes Bierglas in der Hand. «Die Anzahl Restaurants hier ist überschaubar. Vielleicht gehe ich rüber zum Take Away.» Es sei nun mal der Lauf der Dinge, dass ein weiterer Betrieb die Türen schliesse. «Rösli hat es auch mal verdient, aufzuhören. Ich kenne beide schon lange. Ich mag es ihnen gönnen.»

Wie immer erhebt sich die Wirtin auch an diesem Abend aus ihrem Metallstuhl und geht zur Kundschaft. «Prost, Rösli!» schallt es aus den Reihen. Rosa prostet zurück. Sie kennt jeden Gast beim Namen, als sie einem nach dem anderen das volle Glas zum Anstossen hinstreckt. «Isch Ziit worde», sagt sie dann, «ich bi scho e Fliissigi gsi.»

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