Künstleradvokatin

25. August 2025, Mascha Hübscher
Bild: Robin Kohler
Bild: Robin Kohler

Musikschaffende in der Schweiz verdienen zu wenig, findet Ronja Bollinger. Deshalb hat die Beringer Journalistin ihr eigenes Satireformat aufgezogen. Ihr Erfolgsrezept: Ronja sein.

Sonja Boll blättert in einer Bewerbungsmappe und seufzt. «Ja, es Jobagebot, da isch schwierig… Altersheim? Dött isch Tempo ez nid a erster Stell», sagt sie und blickt ihren bereits durch Trägheit aufgefallenen Klienten, den Musiker Dachs, auf der anderen Seite des Pults erwartungsvoll an. Hinter ihm im Regal stehen rote und blaue Ordner, beschriftet mit «Plan Bs mit wenig Aussicht», «Origami-Anleitungen für Nervenzusammenbrüche» und «Mikrojobs & Makroträume».

Bevor Dachs, der schon ganz gebückt auf seinem Stuhl sitzt, reagieren kann, fährt sie ihm schon wieder übers Maul. «Würi glaubs echt no fühle, jo», stammelt der St. Galler Sänger irgendwann raus. Boll nickt zufrieden.

Sonja Boll, die mit übereinandergeschlagenen Beinen, konstantem Tadel im Blick und grellroter Anzugsjacke in ihrem durchgestylten Büro sitzt, ist eine Kunstfigur von Ronja Bollinger. Erfunden hat die 26-jährige Beringerin sie für ihre Diplomarbeit: Bolls Arbeitsplatz ist eigentlich ein Studio in der Zürcher Hochschule der Künste, die Szene stammt aus einem YouTube-Clip. «Musig isch kei Arbet» heisst das satirische Videoformat, in dem Sonja Boll Schweizer Musiker:innen bei sich im Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum empfängt, um ihnen Alternativen zum brotlosen Job als Künstler:innen schmackhaft zu machen. Dem Portemonnaie ihrer Klient:innen zuliebe, aber besonders auch im Namen des Bruttoinlandsprodukts, dem sich die kauzige und ziemlich bünzlige RAV-Frau eigenartig verpflichtet fühlt.

Die Frau hinter der Figur, Journalistin Ronja Bollinger, will derweil genau das Gegenteil: Schweizer Musiker:innen mehr Anerkennung für ihre Kunst und bessere finanzielle Bedingungen verschaffen.
Ende Juni sind die drei gut zehnminütigen Pilotfolgen von «Musig isch kei Arbet» erschienen. Und Bollinger traf damit einen Nerv, zeigen die Zahlen und Kommentare unter den Videos auf YouTube und Instagram. Die zweite Folge mit Lo von Lo & Leduc wurde auf YouTube über siebentausend Mal geklickt, mehrere der Kurzvideos auf Instagram mit Ausschnitten aus den Folgen haben fünfstellige Aufrufzahlen.

Und auch abseits der Plattformen macht das Format die Runde: Bollinger wird mittlerweile auf der Strasse als Sonja Boll erkannt und weitere Musiker:innen haben angefragt, ob sie bei einer zweiten Staffel auf Bolls heissem Stuhl sitzen dürften. Dass es diese Fortsetzung gibt, ist nicht unwahrscheinlich: Zwei Produktionsfirmen haben bei Bollinger für eine zweite Staffel angeklopft.
Warum das Format so gut funktioniert? Weil die Kunstfigur Sonja Boll und ihre Erfinderin Ronja Bollinger gar nicht so weit auseinanderklaffen.

In Bollingers WG im Westen von Zürich treffen wir bei Kaffee und Keksen auf eine hippe Mittzwanzigerin, die auf den ersten Blick perfekt ins urbane Treiben hineinpasst. Bis sie den Mund aufmacht und vom Beringer Elternhaus als «diham» spricht, ohne es überhaupt zu merken.

Vertrauen in die Authentizität

«Ronja hat den Bollinger-Humor», sagt Stella Bettini, eine alte Schulfreundin aus Beringen, am Telefon. Was sie damit meint: Ronja Bollinger ist mit dieser sarkastisch-trockenen, stets humorvollen Sicht auf die Welt grossgeworden, mit der sie sich heute – ziemlich unverändert – in ihren Satireformaten (und auch privat) präsentiert. Sie habe die Witze nicht immer verstanden, wenn sie als Kind zum Zmittag bei ihrer Freundin war, sagt Bettini. «Irgendwann war es ein Running Gag, dass ich zu Bollingers ins Humortraining gehe.»

Auch darüber hinaus klingt es, als sei sich die 26-Jährige ziemlich treu geblieben. Das kritische Hinsehen, das Faible für Sprache, Geschichten und Mode kennt Stella Bettini schon aus ihrer gemeinsamen Schulzeit. Und natürlich die Liebe zur Musik. «Ronja hat in der Sek schon von den Rolling Stones erzählt, während wir anderen noch nie davon gehört hatten», erinnert sich Bettini. Auch diese Leidenschaft ist geerbt: Die Jukebox im Wohnzimmer der Familie hat sie eine Kindheit lang begleitet, die vielen Konzertgänge der Eltern ebenso. Seit sie mit 16 ihren ersten eigenen Festivalbesuch erstreiten konnte, ziehen die Live-Bühnen sie an: 2024 war sie an über hundert Konzerten, bevorzugt bei Indie-, Rock- und Post Punk-Acts.

Den lange gehegten Berufswunsch Modedesignerin hängte Bollinger nach der Matura an den Nagel und begann ein Praktikum bei den Schaffhauser Nachrichten, bevor ihre Freundin Stella ihr einen Job beim Radio Munot vermittelte. «Weil ich so viel und gerne redete», erzählt Bollinger grinsend.

Sarah Keller, die Ronja Bollinger als damalige Chefredaktorin beim Radio Munot einstellte, erinnert sich an eine neugierige junge Frau, die früh Verantwortung übernahm. «Sie konnte schnell gut vertonen, hat eine angenehme Sprechstimme und immer kreative Ideen», sagt Keller. Auch deren Nachfolgerin beim Radio Munot, Angela Weiss, hat nur lobende Worte für die Klettgauerin übrig. «Sie hatte ein gesundes Selbstbewusstsein und wusste, was sie kann», sagt Weiss.

Bollinger wurde schnell in jeglichen Bereichen eingesetzt, stellte ihre eigene Indie-Sendung Offstream auf die Beine – eine Spielwiese, die sie noch heute alle paar Wochen für den Sender macht. Mit ihrer Abschlussarbeit am MAZ, an dem sie gleichzeitig den Diplomlehrgang Journalismus absolvierte, gewann Bollinger 2022 den Förderpreis des Schaffhauser Pressevereins.

Nach fünf Jahren beim Lokalradio aber musste die junge Journalistin weiter. «Ich wusste, dass ich in zehn Jahren nicht mehr klassisches Radio machen will, sondern mein eigenes Ding.» Also zog Bollinger 2022 in die kleinräumige WG am Rand zu Altstetten, von der sie das Letzigrund-Stadion sieht, um an der ZHdK «Cast» und «Audiovisual Media» zu studieren. Eine Investition, um in Zukunft im Journalismus überleben zu können, wie sie sagt. Gleichzeitig begann sie im News Room des SRF nüchtere Meldungen zu tippen, um ihre Miete bezahlen zu können.

Im Grunde ist alles gar nicht so heiter


Eigentlich sei der Zeitpunkt für ein Porträt gerade perfekt, sagt Ronja Bollinger. Den Bachelor in der Tasche, ist sie erstmal zeitlich flexibel, erst am Wochenende ruft der Nachtdienst am Live-Ticker des SRF, wo sie zum Krieg in der Ukraine, zu Gaza, zu Tweets aus dem Weissen Haus schreibt. Ansonsten gehe es ihr selbst gerade wie den Musiker:innen, die ihre Kunstfigur auf den vermeintlich vernünftigeren Weg einer Festanstellung zu schicken versucht.$Bisher hat Bollinger sowohl die Leute hinter den Kulissen als auch ihre Gäste bei «Musig isch kei Arbet» – neben Lorenz Häberli vom Berner Duo Lo & Leduc und dem St. Galler Trashpop-Sänger Basil Kehl von Dachs auch die Luzerner Kammerpop-Musikerin To Athena –, in Snacks und dankbaren Worten bezahlt.

Dass das möglich war, ist wohl vor allem dem schützenden Rahmen ihres Studiums zu verdanken; fraglich, ob die Künstler:innen auch auf dem freien Markt gratis mitgemacht hätten. Was jetzt mit ihrer Sendung passiert, ist unklar.

Bollingers Satireshow ist also auch ein Stück weit ein Meta-Projekt über sich selbst. Beginnt Ronja Bollinger über Journalismus zu reden, klingt es schnell ähnlich wie in der Musikindustrie: steile Hierarchien, ungerechte Bezahlflüsse und eine düstere Zukunft. Um als freie Journalistin gut leben zu können, ist auch sie auf bessere Arbeitsbedingungen angewiesen. Aus ihr spricht Betroffenheit – und ein gewisser Trotz. Da ist die Kluft zwischen Sonja und Ronja dann doch: Während die erfolgreiche Kunstfigur beim RAV fest im Sattel sitzt, muss die aufstrebende Journalistin dahinter um Ressourcen kämpfen, um ihr Satireformat am Leben erhalten zu können.

«Ich wusste, dass ich in zehn Jahren kein klassisches Radio mehr machen will,
sondern mein eigenes Ding.»

Ronja Bollinger

Was Bollinger in ihrer Branche nämlich am meisten interessiert, sind kreative Formate. Als «Audiovisual Storyteller» will sie jenseits von klassischen Zeitungsartikeln Inhalte vermitteln. Das heisst in etwa: Sie entwirft Konzepte, mithilfe derer journalistische Beiträge für Auge und Ohr ansprechender gestaltet werden. Auf ihrer Website zeugen etwa eine Kochgeschichte fürs Magazin des Tagesanzeigers oder ein Interview-Format für das Zurich Film Festival von einer Vorliebe für originelle Videoformate.
Und vom Willen, das zu tun, worauf sie eben Lust hat, so unerprobt es auch sei.

Nächste Station ungewiss

Ronja Bollinger spricht schnell, sicher, ist um keinen Spruch verlegen. Ein Profi eben. Dass in Sonja, gerade humortechnisch, viel Ronja steckt, ist kaum zu übersehen. Man kann sich gut vorstellen, wie sie sich als Reporterin unterwegs wie ein Fisch im Wasser bewegt, Berührungsängste: Fehlanzeige. Bollinger ist überzeugt von dem, was sie tut, wirkt dabei aber nie überheblich.
Doch so unernst sie sich selbst nimmt, spricht sie über den Kern ihrer Arbeit, stimmt sie nachdenkliche Töne an.

Einerseits, was ihre eigene Rolle im Medienbusiness betrifft: «Am liebsten würde ich nur Musikjournalismus machen, aber das ist extrem schwer», sagt Bollinger. Schon im relativ geführten Rahmen ihres Abschlussprojekts habe sie sich zeitweise massiv überarbeitet. Auch, sich beim SRF zur Nachrichtensprecherin hochzuarbeiten, sei ein langer Weg und bei ihrem kleinen Pensum fast unmöglich. Versuchen wolle sie es dennoch.

Andererseits ist sich Ronja Bollinger durchaus bewusst, dass sie mit ihrer humoristischen Überzeichnung heikles Terrain begeht. Bis zuletzt habe sie befürchtet, die Musiker:innen, denen sie eigentlich zur Hand gehen will, mit ihrem satirischen Ansatz zu verstimmen – oder Mitarbeitende des RAV mit ihrer Parodie zu verletzen. «Ich will niemanden anschwärzen, diese Leute machen auch nur ihren Job», sagt Bollinger. Beschwert habe sich bisher aber niemand.

Indem sich die Journalistin auf die Seite der Kunstschaffenden stellt, aber niemanden direkt anprangert, bleibt die Frage, woher das Mehr an Geld und Wertschätzung für die Musiker:innen kommen soll, in ihrer Sendung bisher ungeklärt. Dessen ist sich Bollinger bewusst. «Als Ronja habe ich auch keine Lösung dafür.» Auf dem Tapet ist das Thema dennoch. Und der Schweizer Satire-Kosmos um ein Format mit Tiefgang und eine seltene weibliche Stimme reicher.

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