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Im Teigparadies

Valentyna Radchenko kartoffelstampfend in ihrer Küche in Thayngen. Fotos: Robin Kohler

Valentyna Radchenko kartoffelstampfend in ihrer Küche in Thayngen. Fotos: Robin Kohler

In der Küche von Valentyna Radchenko gibt es ein Gesetz: Wer etwas zu essen will, arbeitet mit.
Und wird dafür mit einem exquisiten Dreigänger belohnt.

Valentyna Radchenko ist eine Frau mit eigenen Plänen. Zehn Minuten nach Betreten ihrer Wohnung am Rand von Thayngen drückt sie mir einen Rührbesen in die Hand. Mit der Sprache Deutsch hat es die gebürtige Ukrainerin nicht so. Aber sie weiss ihren Gast mit Mimik anzuleiten. Und ein Wort kennt sie sehr genau: «arbeiten». Sie weist mich an, den Teig zu verrühren und in der Bratpfanne hauchdünne Crêpes zu backen. Die Crêpes sind nicht der Grund, weshalb Valentyna Radchenko an diesem Dienstagnachmittag überhaupt die AZ trifft. Der eigentliche Grund liegt bereits perfekt geformt auf einem Brett und ist zum Kochen bereit: Warenyky.

Die halbmondförmigen, gefüllten Teigtaschen sind das ukrainische Nationalgericht schlechthin, stammend aus einer Zeit, in der die Menschen aus den Grundzutaten Mehl und Kartoffeln das Beste herausholen mussten. Geworden ist daraus ein Stück ukrainische Staatskunst. Gefüllt werden sie klassischerweise mit Kohl, Sauerkraut oder Kartoffeln, es gibt aber auch Varianten mit Fleisch oder Frischkäse und selbst süsse Täschchen mit Kirschen- oder Walderdbeerfüllung. Warenyky symbolisieren den Überfluss – in manchen Regionen gibt es sogar die Redewendung, man schwimme wie eine Teigtasche in Butter. Dann hat man alles.

Wer in Schaffhausen schon einmal einen echten Warenyk gegessen hat, kann darauf wetten, dass Valentyna Radchenko ihn gemacht hat. Sie kocht immer wieder in der Kirche, bei Anlässen der Heilsarmee zum Beispiel. Aus ihrer Zeit im Bucher Durchgangszentrum Friedeck vor drei Jahren hat sie den Übernamen «Chefin der Ukrainer:innen» behalten. Dort hat sie schlicht für alle gekocht, um die hundert Leute sollen es gewesen sein. Es gibt Bilder, auf denen Valentyna Radchenko auf einem Stuhl sitzend einen riesigen Topf Kartoffeln zerstampft, und Bilder von fetten Töpfen mit traditionellem Borschtsch; jedes Wochenende soll es so viel Borschtsch gegeben haben, bis das Friedeck-Team kein Borschtsch mehr sehen konnte. Valentyna Radchenko schüttelt den Kopf. «Ohne Borschtsch kann man nicht leben.»

Später lernen wir noch einen Spruch von ihr: «Ohne Arbeit kann man nicht sitzen.»

Ein Gemeinschaftswerk

Bei Valentyna Radchenko etwas zu lernen heisst, stets ihren prüfenden Blick und eine liebevolle Forschheit zu spüren. Zwei Mal nimmt sie mir den Pfannenwender aus der Hand, weil es ihr nicht schnell genug geht. Als eine halbe Stunde später 16 Crêpes auf einem Teller liegen, schmunzelt sie. Als Anfängerin habe sie aus derselben Menge Teig weniger Crêpes machen können. Das Lob hilft. Später erfahre ich aber, dass sie am Morgen schon 40 Stück gemacht hat – mit ebenjener Menge Teig. Sie liegen bereits mit Hackfleisch gefüllt und zusammengerollt im Ofen.

Valentyna Radchenko hat derweil die erste Fuhre Warenyky sorgfältig vom Brett geklaubt und ins kochende Salzwasser gelegt, sie wieder herausgefischt und mit einer Zwiebel-Öl-Mischung in einen schönen Topf gelegt. Diese Warenyky seien mit Kohl, Karotten und Pilzen gefüllt. Später, nach dem Essen, würden wir selber welche mit Kartoffeln machen. Der Dreigänger hat einen einfachen Grund: «So hatten alle etwas zu tun.»

Mit «allen» meint die 70-Jährige ein halbes Dutzend ukrainischer Freund:innen, die sich in der Stube um zwei Tische sitzend unterhalten. Auf dem ukrainischen Fernsehsender berichten Armeeabgeordnete, wo Schüsse gefallen sind und wo Gegenoffensiven notwendig seien. Es ist Tag 894 seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die Freund:innen kommentieren das nicht; sie plaudern über die Tomaten und Gurken, die auf dem Balkon gedeihen, und füllen die AZ-Pfannkuchen mit Quark und eingeweichten Rosinen. Kochen ist hier ein Gemeinschaftswerk.

Teller, Gläser und Besteck werden aufgetischt, dann wird geschmaust: feurig roten Borschtsch zur Vorspeise, dazu Brot und einen ukrainischen Schnaps; sodann die mit Kohl gefüllten Teigtaschen und salzige Crêpes, serviert mit Weisswein und Fanta. Crème Fraîche rundet die beiden Gänge ab. Erst danach lernen wir, die Teigtaschen selber zu machen (siehe Rezept links), und verköstigen schliesslich mit schon runden Bäuchen auch die. Alles schmeckt vorzüglich.

Dabei habe sie noch bis vor etwa 20 Jahren nicht gerne gekocht, erzählt Valentyna Radchenko. Das Delegieren, Kontrollieren, Anleiten hat sie woanders gelernt. Sie wuchs in der Nähe der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine – damals der Sowjetunion – auf und studierte nach der Schule Landwirtschaft und Tierhaltung. Mit dem Unidiplom in der Tasche heuerte sie bei einem der riesigen, staatlich organisierten Landwirtschaftsbetriebe an – und wurde erst einmal als Sportlehrerin und Sekretärin eingestellt. Erst zwei Jahre später konnte sie auf ihrem Beruf arbeiten. Pensioniert wurde sie als Leiterin des ganzen Betriebs, der Schweine, Kühe, Schafe und Hühner hielt.

Fragile Heiterkeit

Irgendwann in dieser Zeit lernte sie auch ihren Mann kennen. Heute zählt Valentyna Radchenko in ihrer Familie drei Töchter, sieben Enkel und drei Urenkel. Ob es ihnen gut gehe? «Manche sind in andere Länder gegangen. Und manche sind noch in der Ukraine.»

Dass sie selbst jetzt in der Schweiz ist, sei einem Zufall geschuldet – sie verliess ihr Land ursprünglich nur für einen Besuch. «Jetzt bin ich seit drei Jahren hier.» Sie schweigt eine Weile. «Aber es wird alles gut.»

Die heitere Stimmung beim Kochen, das belustigte, staksige Miteinander mit wenigen geteilten Worten: Es sind fragile Momente, die jederzeit kippen können.

Das Dessert – die Quark-Rosinen-Pfannkuchen – steht auf dem Tisch. Eine der anwesenden Frauen schenkt sprudelnden, süssen Weisswein in die Gläser und hebt das ihrige. Sie wünscht, dass der Krieg enden und dass alle von der Front zurückkehren mögen. Dabei wissen alle, dass das nicht geht: Eine der anwesenden Frauen hat vor wenigen Monaten ihren Sohn verloren. Der Bruder einer zweiten gilt seit Monaten als vermisst.

«Woher hast du eigentlich den Hüttenkäse?», fragt dann eine Frau Valentyna Radchenko. «Von der Kuh dort drüben auf der Weide natürlich», entgegnet diese, «ich habe sie selbst gemolken.» Die Frauen lachen bei dieser Vorstellung. «Ohne den Humor gäbe es die Ukraine längst nicht mehr», sagt eine andere.

Valentynas Rezept kann zum Nachkochen hier heruntergeladen werden.

Die AZ dankt Tatiiana Matsiuk und Yuliya Oester für die Übersetzung der Gespräche.

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