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Schutzbedürftig

Foto: Robin Kohler

Der Kanton kündigt Mieter:innen in vier ­Liegenschaften aus Eigenbedarf. Wie es dazu kam.

Es dröhnt an der Krebsbachstrasse. Über die Schutzwände dringt als Hintergrundmusik der Verkehrslärm der Autobahn, das Zischen der Zuggleise. Spricht man mit den Menschen, die an dieser zwischen Hochstrasse und Autobahn eingeklemmten Strasse wohnen, mischt sich oft ein Seufzen hinzu. Mitte Mai erhielt rund die Hälfte der Bewohner:innen der Hausnummern 73, 75, 81 und 83 einen Brief. Darin erfuhren sie, dass ihr Mietverhältnis per Ende September gekündigt wird; 10 von insgesamt 24 Wohnungen sind betroffen. Einige dieser Menschen wohnen seit wenigen Jahren hier, andere seit über vier Jahrzehnten. Sie alle müssen nun Ende September raus.

Die Gebäude an der Krebsbachstrasse sind im Besitz des Kantons Schaffhausen, werden aber durch das kantonale Sozialamt verwaltet. Und es ist das kantonale Sozialamt, das im Brief an die betroffenen Mieter:innen die Kündigung begründet. Die Liegenschaften würden künftig für den Eigenbedarf gebraucht, nämlich zur «Unterbringung von Klientinnen und Klienten aus dem Asyl- und Fluchtbereich». Zudem seien die Häuser baulich «stark sanierungsbedürftig». Zwei weiteren Mietparteien an der Krebsbachstrasse 129 und 131 hat das kantonale Sozialamt bereits im März gekündigt, die Gebäude müssten totalsaniert werden. 

Die Konstellation ist politisch pikant. Vor zwei Jahren löste die Kündigung von 49 Mieter:innen im aargauischen Windisch schweizweit Aufregung aus. Ein privater Vermieter hatte allen Mietparteien gekündigt, um das Gebäude fortan zur Zwischennutzung an das kantonale Sozialamt zu vermieten. Die SVP instrumentalisierte den «Fall Windisch» und die betroffenen Mieter:innen für fremdenfeindliche Hetze.

Im Fall der Kündigungen an der Krebsbachstrasse ist vieles anders. Schief gelaufen ist trotzdem manches. 

Ende der 1970er-Jahre waren die politischen Geister in Bern und an der Schaffhauser Beckenstube bewegt von der Idee vom Ausbau der N4 (heute A4). Um den nötigen Platz dafür zu schaffen, kauften Bund und Kanton – 78 Prozent der Mittel stammten aus dem Nationalstrassenfonds – die Gebäude an der Krebsbachstrasse auf. Mit dem erklärten Ziel, sie abzureissen. 

Bis es so weit war, konnten die Wohnungen aber noch bewohnt werden. Vor allem Arbeiter:innen und öffentliche Angestellte wie Rita Rufián* zogen ein. Rufián kam Ende der 1970er-Jahre als Arbeitsmigrantin in die Schweiz und lebt bis heute an der Krebsbachstrasse. 

Denn der Abbruch kam nie. In den 1980er-Jahren erhitzte sich der Schaffhauser Wohnungsmarkt nämlich derart, dass die Regierung mit ihren Abrissplänen erst einmal zuwartete. An einer Pressekonferenz 1982 versicherte Baudirektor Ernst Neukomm (SP), dass man die Bewohner:innen an der Krebsbachstrasse nicht einfach auf die Strasse stellen werde. Durch eine Überarbeitung des Strassenbauprojekts sollten einige der Häuser gerettet werden, für die restlichen Bewohner:innen der Krebsbachstrasse wollte man zusammen mit dem Bund und einheimischen Wohnbaugenossenschaften preisgünstigen Wohnraum schaffen. Als die Schaffhauser Bevölkerung 1990 dann noch einer Initiative des Grünen Bündnisses zur Förderung von preisgünstigem Wohnraum zustimmte, war an den Abbruch der Häuser nicht mehr zu denken. Die Strassenführung wurde geändert, die Häuser an der Krebsbachstrasse blieben grösstenteils unversehrt. 2004 kaufte der Kanton die Liegenschaften dann ganz, mit Bundesgeldern für die Unterbringung von Geflüchteten, und übergab sie dem kantonalen Sozialamt. Weil man im Quartier aber weiterhin eine soziale Durchmischung anstrebte, vermietete man weiterhin einen Teil der Wohnungen an externe Mieter:innen wie Rita Rufián.

«Seit 2022 müssen wir mehr Personen unterbringen, aber wir können auf dem Wohnungsmarkt immer seltener preiswerte Wohnungen anmieten.»

Asylkoordinator Stefan Pfister

Rufián sitzt auf ihrem Sofa zu Hause an der Krebsbachstrasse, während ihre Tochter Gabriela* Dokument um Dokument aus ihrer Mappe hervorholt. Die Wohnung ist einfach und gepflegt eingerichtet, die Badezimmerplättchen über der Wanne stammen noch aus den 1940er-Jahren. Sonst scheint die Wohnung aber in einem guten Zustand zu sein: Die Böden in Küche und Badezimmer sind relativ neu und auch der Gasherd wurde vor noch nicht allzu langer Zeit ersetzt, erklärt Rita Rufián.

Ihre Tochter legt das Schreiben vom 16. Mai auf den Tisch. Dort schreibt das kantonale Sozialamt, dass man die Mieter:innen frühzeitig über die bevorstehende Kündigung informiere, da man sich bewusst sei, dass dies mit einschneidenden Veränderungen verbunden sei. «Die ordentliche Kündigungsfrist ist drei Monate», sagt Gabriela Rufián verständnislos. «Das Sozialamt hat meiner 77-jährigen Mutter nach über vierzig Jahren in der Wohnung also sechs Wochen mehr Zeit eingeräumt als gesetzlich vorgesehen. Und stellt das nun als grosszügige Geste dar.»

Das kantonale Sozialamt verweist auf Anfrage an Stefan Pfister, der erst seit Dezember 2024 kantonaler Asyl- und Flüchtlingskoordinator ist. «Die Situation hat sich zugespitzt», sagt Pfister im Gespräch mit der AZ. Vor dem Ukrainekrieg lag die Zahl der Personen im kantonalen Asylbereich stabil bei rund 1000, die Unterbringungskapazitäten des Kantons seien mit den heute rund 1500 Personen zu über 90 Prozent ausgelastet. «Seit 2022 müssen wir deutlich mehr Personen unterbringen, aber wir können auf dem Wohnungsmarkt immer seltener preiswerte Wohnungen anmieten.» Zum einen, weil einige Vermieter Vorbehalte gegenüber dem Asylbereich hätten. Zum anderen, weil das kantonale Sozialamt keine beliebigen Mieten zahlen kann, sondern sich an die Mietobergrenze der Sozialhilfe halten müsse.

Stefan Pfister sagt: «Ich finde es schwierig zu rechtfertigen, dass wir als Kanton mit Personen mit tiefen Einkommen um günstigen Wohnraum konkurrieren, wenn wir selbst noch Wohnraum haben, den wir nicht vollständig ausnutzen.» Also wandte sich das Sozialamt den eigenen Immobilien an der Krebsbachstrasse zu. Er könne nachvollziehen, dass dies für die betroffenen Mieter:innen einschneidend sei. Aber: «Es handelt sich nicht um besonders schutzbedürftige Personen, sondern um mündige Erwachsene, welchen man eine Suche auf dem Wohnungsmarkt zumuten kann».

Die Frage, wer schutzbedürftig ist, schwebt als grosses Fragezeichen über den Kündigungen an der Krebsbachstrasse. Natürlich sind das die Geflüchteten, die Stefan Pfister unterbringen muss. Sie kommen oft aus Konfliktgebieten, haben keine freie Wohnungswahl, einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt und dürfen nicht frei reisen. Der Status als vorläufig Aufgenommene, den viele haben, die an der Krebsbachstrasse wohnen, ist prekär und wird von Organisationen wie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe seit Jahren kritisiert.

Zugleich sind die Mieter:innen, die nun weichen müssen, selbst teilweise ehemalige Geflüchtete. Oder sie sind wie Rita Rufián als Arbeitsmigrant:innen in die Schweiz gekommen. Sie konnten bisher von den tiefen Mieten an der Krebsbachstrasse profitieren: Die Miete von Rita ist in den vergangenen vier Jahrzehnten nur um ein paar hundert Franken gestiegen, sie zahlt heute für ihre Drei-Zimmerwohnung mit Garage 545 Franken. 

Anders die Entwicklung auf dem Schaffhauser Wohnungsmarkt, den die Bewohner:innen der Krebsbachstrasse nun durchstöbern müssen. Seit 2016 sind die Angebotsmieten im schweizweiten Vergleich überdurchschnittlich stark gestiegen, die Leerwohnungsziffer ist für einen ländlichen Kanton wie Schaffhausen tief. Wie für das kantonale Sozialamt ist es auch für Personen mit kleinen Einkommen immer schwieriger, günstigen Wohnraum zu finden (AZ vom 15. Mai 2025).

Tochter Gabriela Rufián nimmt die AZ mit auf einen Rundgang durch die Krebsbachstrasse. Sie zeigt auf eine Wohnung im Parterre: «Die stand ein Dreivierteljahr leer und ist erst seit zwei Wochen wieder bewohnt. Im Frühling wurden die Küche und das Badezimmer renoviert. Und jetzt soll das Haus noch totalsaniert werden.» Sie vermute, der Kanton habe die Sanierungspläne schon länger gehegt, aber: «Niemand hat das Gespräch mit den Bewohner:innen gesucht, obwohl das Sozialamt an der Krebsbachstrasse sogar Büros hat.»

Dann bleibt sie vor dem Haus mit der Nummer 55 stehen. Im Gegensatz zu den anderen ist es sichtbar leer, die Fensterläden wiegen abgewetzt im Wind. Den Mieter:innen sei vor über zwei Jahren durch das Sozialamt gekündigt worden, weil das Haus nicht mehr bewohnbar sei, sagt Rufián. «Warum wurde dieses Haus in der Zwischenzeit nicht bewohnbar gemacht, wenn der Kanton dringend Wohnraum für Eigenbedarf braucht?»

«Die Krebsbachstrasse 55 war und ist tatsächlich nicht mehr bewohnbar», sagt Asylkoordinator Stefan Pfister. Die Entwicklung der Krebsbachstrasse sei bereits vor seinem Stellenantritt vor rund einem halben Jahr ein Thema gewesen. «In den letzten zwei bis drei Jahren war der Asylbereich mit der Bewältigung der Ukraine-Krise absorbiert, nun treiben wir das Thema gemeinsam mit dem Hochbauamt voran.»

Neben den Häusern an der Krebsbachstrasse besitzt der Kanton noch fünf weitere Immobilien in der Stadt und in Neuhausen, in denen er grundsätzlich auch Wohnungen an Dritte vermietet. Doch gemäss Asylkoordinator Pfister habe nie eine Überprüfung stattgefunden, ob in diesen Häusern auch die gekündigten Mieter:innen der Krebsbachstrasse untergebracht werden könnten. «Für die Gebäude ist das Hochbauamt zuständig, wir verwalten die Häuser an der Krebsbachstrasse nur dezentral. Ich bin noch nicht lange im Amt, mir war deshalb auch nicht bewusst, dass der Kanton andere Liegenschaften besitzt, in die Personen unter Umständen umquartiert werden könnten.» Für eine aktive Unterstützung der gekündigten Mieter:innen würden im Sozialamt auch die Kapazitäten fehlen. 

«Das Sozialamt hat meiner Mutter sechs Wochen mehr Zeit eingeräumt als gesetzlich vorgesehen. Und stellt das nun als grosszügige Geste dar.»

Gabriela Rufián

Genau eine solche dürfte man von der öffentlichen Hand aber erwarten, findet Linda De Ventura. Die SP-Nationalrätin ist auch Präsidentin des Mieter:innenverbands Schaffhausen. Der Kanton habe eine Vorbildfunktion. Es sei zwar naheliegend, dass der Kanton in den Häusern an der Krebsbachstrasse geflüchtete Personen unterbringen wolle, schliesslich habe er die Gebäude zu diesem Zweck übernommen. «Wir hätten aber erwartet, dass der Kanton mit mehr Sensibilität handelt, den betroffenen Personen konkrete Unterstützungsangebote macht und zumindest kurz prüft, ob eine alternative Wohnmöglichkeit in einer anderen kantonalen Liegenschaft angeboten werden kann.» Der Kanton müsse nun endlich Massnahmen ergreifen, um mehr preiswerten Wohnraum zu schaffen. «Etwa eine aktivere kantonale Immobilienpolitik sowie die rasche Instandsetzung derzeit unbewohnbarer kantonaler Liegenschaften.»

So würde womöglich beiden auf der Suche nach günstigem Wohnraum geholfen: dem kantonalen Sozialamt und Menschen mit tiefen Einkommen, wie den ehemaligen Mieter:innen der Krebsbachstrasse.

* Namen der Redaktion bekannt.

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