«Nur über Kunst zu reden reicht mir nicht aus»

14. Juli 2025, Fabienne Niederer
Bild: Robin Kohler

Der junge Künstler Jan Thoma stellt Worte ins Zentrum seiner Arbeit. Ein Gespräch über 700-Kilo-Kunstwerke, nachdenkliche Notizen und Neuanfänge.

Kaum hat man das mächtige Tor am Rebleutgang passiert, steht da eine schlichte, hüfthohe Säule mitten im Raum. Darauf gestapelt sind dutzende Zettel, alle mit einem kurzen Text versehen. «Die Menschheit spielt den Ikarus», ist einer davon. Ein anderer: «Ich bin ein Stein.» Ab heute Donnerstag wird sich jeder Gast einen solchen Zettel von der Säule klauben, nur um sich zu fragen: «Was mache ich jetzt damit? Stecke ich ihn mir zuhause an die Pinnwand, wo ich ihn jeden Tag sehen kann? Oder stopfe ich ihn in die Tasche meiner Jeansjacke, wo er vergessen geht, bis die Temperaturen wieder kalt genug werden?»
Genau solche Fragen will Jan Thoma mit seiner Arbeit provozieren.

Auf die Idee sei er beim Glückskeksessen gekommen, erzählt er: «Der Zufall entscheidet, was man mitnimmt. Entweder könnte diese kleine Nachricht für dich lebensbewegend sein – oder du schmeisst sie direkt wieder weg. Das fand ich witzig.»

Die Glückskeks-Säule ist nur eines der Werke Thomas, die ab sofort im Ausstellungsraum des Garage-Kollektivs zu sehen sind. Entstanden sind sie in knapp einem halben Jahr Wohnen, Schaffen und Denken Anfang des Jahres in der deutschen Hauptstadt; es sei das erste Mal gewesen, dass er sich voll und ganz auf die Kunst fokussieren konnte, berichtet Jan Thoma. Auf dem Schaffhauser Kunstteppich ist der junge, introvertierte Mann noch relativ neu. Gleichzeitig hat er innert eines Jahres sowohl das begehrte Atelierstipendium des Kantons Schaffhausen erhalten als auch einen Förderbeitrag von Stadt und Kanton für weitere Projekte. Wer ist dieser Mann?

Kunst macht Thoma seit etwa sechs Jahren. Davor stand der gebürtige Büsinger lieber auf dem Skateboard, statt an Kunst zu denken, und fasste einen klassischen Berufsweg ins Auge: ein Bachelorstudium der Umweltnaturwissenschaften an der ETH. «Das war ein grosser Fehler», gibt er rückblickend zu, mit einem Ausdruck peinlicher Berührtheit im Gesicht.

Er versuchte es abermals, nun mit Germanistik und Kunstgeschichte, und begann parallel, im Atelier der Kammgarn West mit Siebdruck zu experimentieren. Auch an der Uni Zürich blieb er nur ein Semester lang. «Irgendwann merkte ich: Nur über die Kunst zu reden reicht mir nicht aus», erzählt Thoma. Sein damaliger Mitbewohner war bereits an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) eingeschrieben. Aus dem anfänglichen «Über die Schulter schauen» bei den viel spannenderen Online-Vorlesungen dieses Mitbewohners wurde allmählich eine Faszination. Und irgendwann konnte Thoma es nicht mehr leugnen: Das Kunst-Studium an der ZHdK hatte es ihm angetan.

«Mein Traum ist aber natürlich der, den ganz viele Leute haben: davon leben zu können.»

Jan Thoma

Seither arbeitet Thoma mit der Kamera, mit der direkten Umgebung, und vor allem: mit Worten und Schrift. Mit mehreren Teilzeitjobs finanziert er sich den Alltag, etwa als Bademeister in der Rhybadi während der Sommermonate, in den kälteren Jahreszeiten packt er im TapTab-Club als Organisator mit an. «Mein Traum ist aber natürlich der, den ganz viele Leute haben: davon leben zu können», sagt er über seine Kunst. Im letzten Sommer holte er sich das Diplom.

Dass es Worte sind, die sein Schaffen prägen und stetig neu formen, zeigt sich auch, als er uns zum Gespräch trifft. Immer wieder hält Thoma inne und überlegt, bevor er zu einer Antwort ansetzt. Seine Sätze ziehen sich teils zäh in die Länge. Dies einem vom letzten Wochenende pochenden Schädel zuzuschreiben, würde dem Büsinger jedoch nicht gerecht – die Formulierungen und Ausdrücke, die er wählt, scheinen zu viel Gewicht zu haben. So ist es auch mit der Kunst. Er führt uns an ein nächstes Werk heran: eine grosse, weisse Wand, direkt ausgeschnitten aus dem umgebenden Raum.

Diese Wand gibt es heute nicht mehr, Thoma hat sie vernichtet. Aber es sei die Arbeit gewesen, die ihm am meisten am Herzen gelegen habe. Nur mit Mühe schaffte es Thoma damals, das über 700 Kilo schwere Stück auszufräsen, erzählt er, mit einem Knie angewinkelt auf einem alten Drehstuhl sitzend.
«Das Kapital Wand: Cutting Beuys» war seine Diplomarbeit, mit der er im letzten Sommer das Fine-Arts-Studium abschloss. Es handelt sich um ein Stück Wand aus der Kammgarn, den ehemaligen Hallen für neue Kunst, die 2014 ihre Türen schlossen – aber nicht um irgendein Stück.

«Früher hing das wunderbare Werk des Künstlers Joseph Beuys, «Das Kapital Raum 1970-1977», in den Hallen, hier in Schaffhausen. Ich konnte mir das Werk damals leider nicht live ansehen», sagt Thoma. Er selbst habe erst während des Studiums davon gehört. «Von da an habe ich mich richtig in das ganze Thema hineingesteigert, las mich ein und realisierte, welchen Bekanntheitsgrad die Ausstellung auch international bekam.
Einmal lief ich an einem Abend durch diese alten Hallen, dort im zweiten Stock, wo der Boden fehlt», so Thoma. «Die Sonne strahlte an eine der Rückwände, sie warf seltsame Schatten. Und erst als ich näher herantrat, verstand ich, warum.»

Teil des Kunstwerks von Beuys waren zahlreiche Schieferplatten gewesen, die er an die Wand gehängt hatte. Über die Jahre hinweg hatten sich diese leicht bewegt und einen Abrieb auf der weissen Wand hinterlassen. «Das hat mich so geflasht: Die Reste dieser Zeit waren tatsächlich noch immer sichtbar.»

«Mein Kapital: die Idee.»

Jan Thoma

Das Artefakt wurde zum Zentrum von Thomas Abschlussarbeit. «Ich hatte unheimliches Glück, dass alles geklappt hat. Die Bewilligung hatte ich eingeholt. Aber das schiere Gewicht dieses Wandstücks hatte ich völlig unterschätzt.» Zwei Meter auf 1.80 Meter umspannte das Werk, das er für seinen Abschluss nach Zürich verfrachten musste. «Beuys hat damals den Kunstbegriff neu definiert. Er sagte: Jeder Mensch ist ein Künstler, eine Künstlerin. Weil wir die Fähigkeit haben, uns Sachen auszudenken, haben wir auch das Kapital, Kunst zu schaffen», sagt Thoma.

«Darum war es für mich gerade so faszinierend: Aus den Resten seines Werkes konnte ich ein ganz neues Werk erschaffen. Mein Kapital: die Idee.»

Mit Blick auf seine Ausbildung merkte Thoma: Es ist die Schrift, die sich durch sein gesamtes Schaffen zieht. «Klar kann man seine Nachricht immer verschleiern. Aber wenn ich will, kann ich in einem Wort mitteilen, was ich sagen möchte», sagt er. «Denk im Vergleich dazu an die Malerei: Mit einem Pinselstrich dasselbe aussagen zu können, finde ich viel schwieriger.»

Es ist die kurze, prägnante Textform, die Thoma am meisten reizt. Gedanken, die ihm zu jeder Tageszeit zufliegen können – und die er dann sofort in einem schwarzen, in Leder gebundenen und schon etwas abgegriffenen Buch einfängt, das er stets bei sich trägt. «Jeder Moment ist für mich inspirierend. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Kunst so sehr liebe. Sie entsteht für mich überall», meint Thoma dazu.

Konkrete Themen verfolgt er daher nicht, in seiner Kunst kommt alles vor, was ihn täglich beschäftigt. Das können schöne Momente sein – aber auch Stress. «Tatsächlich war es bei mir lange so, dass ich nur dann schreiben konnte, wenn es mir schlecht ging. Davon musste ich mich lösen. Ich merkte, dass ich die Texte im Nachhinein gar nicht mehr lesen mochte, weil sie zu sehr mit diesen Erinnerungen zusammenhingen.»

Bewusst wurde ihm dies erst, als er sich für einmal voll und ganz auf die Kunst fokussieren konnte, ohne mit dem halben Kopf seinen unzähligen Nebenjobs nachzurennen. Das war in Berlin-Mitte – dort, wo die Werke entstanden, die nun in der Garage verteilt sind. Möglich wurde das durch das Atelierstipendium des Kantons Schaffhausen, das Thoma vergangenes Jahr erhalten hat.
Und es ermöglichte ihm auch ein langersehntes Treffen: «Das Kapital Raum 1970-1977» von Joseph Beuys ist mittlerweile im Hamburger Bahnhof (Museum für Gegenwart) in Berlin ausgestellt. Dort, in seiner temporären Heimat, konnte Thoma es sich schliesslich doch in echt ansehen.

Vor knapp zwei Wochen ist der Büsinger nun wieder zurückgekehrt. Im Gepäck: Die Ausstellung «Ich bin kein Berliner».

Künftig will Thoma Schaffhausen aber in noch viel grösserem Stil prägen. Als Künstler – aber auch als Kurator. Mehrere Projekte dazu sind bereits im Gange, eines davon ist ein «Off Space» für Schaffhausen, also ein Experimentierfeld für Kunstschaffende, das losgelöst von einem festen Standort funktionieren kann. «Das Ganze funktioniert ähnlich wie eine Galerie, ist aber nicht kommerziell.» Für das Vorhaben erhielt Thoma vor Kurzem einen weiteren Förderbeitrag von Kanton und Stadt, rund 20000 Franken. «Eine Idee wäre, es im alten Gaswerkareal aufzuziehen. Aber eben: Eigentlich könnte dieser Raum überall entstehen.» Im September ist eine Installation im öffentlichen Raum geplant. «Ich kann schon ein bisschen stolz sein, dass meine Ideen angenommen werden», sagt Thoma, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

Jan Thoma wirkt wie ein Ruhepol, er selbst beschreibt sich als introvertiert. Er scheint jemand zu sein, der seine Gedanken auf alles und jeden in seiner Umgebung richten kann.

Und doch ist da noch eine weitere Seite, mit der er im Gespräch überrascht. «Soll ich aufs Dach hochklettern, damit ihr ein gutes Foto bekommt?», fragt er. Es wird nicht sofort klar, was er meint: Das Gebäude, in dem wir uns zum Gespräch trafen und das auch sein altes Musikstudio beherbergt, ziert auf der Vorderseite ein kleines Vordach. Den einen Fuss setzt er auf den Briefkasten, den anderen auf das Treppengeländer, schon sitzt Thoma oben und lässt die Beine herunterbaumeln. «Auf diesem Dach war ich noch nie, aber allgemein mache ich das noch gern. Auf Dächer klettern, meine ich.»

Es ist eine Aussage, die so gar nicht zu seinem stillen Auftreten passt, zum Image des bedachten, in sich gekehrten Künstlers. Aber vielleicht zeigt sie auch nur das zweite Gesicht des 26-Jährigen auf: Jene Seite, die mit dem Skateboard über Kanten springt und die jedes Jahr am «Hill Bomb» den Berg in Opfertshofen herunterrast – ohne Helm, versteht sich. «Das Hill Bomb ist gefährlich, aber es gehört einfach dazu», sagt er.

Die Ausstellung «Ich bin kein Berliner» findet vom 10. bis zum 27. Juli 2025 im Ausstellungsraum des Garage-Kollektivs statt, am Rebleutgang 2. Sie öffnet jeweils freitags und samstags ab 18 Uhr.