43 Jahre lang waltete Enzo Raponi am Bahnhof. Ein Treffen zwischen Tischchen und Tresen.
Eine einfache Abschiedsnachricht hängt an der Glastür des Lokals: «Nach 43 Jahren Wirken am Bahnhof Schaffhausen sagen wir Adieu, auf Wiedersehen, arrividerci, goodbye». Die Familie Raponi, so lesen wir an diesem Freitagvormittag auf dem Aushang, schliesst ihren gleichnamigen Betrieb – und zwar am nächsten Tag schon. Es ist also die letzte Gelegenheit für einen Caffè bei Enzo Raponi.
Und tatsächlich, drinnen im «Raponi» treffen wir den Padrone an: einen ordentlichen 82-jährigen Senioren im roten Poloshirt. «Nehmen Sie erst einmal Platz», sagt er, und wägt offenbar ab. Die AZ habe 1982 nach seiner Ankunft in Schaffhausen als erstes über ihn geschrieben, erzählt er, als er einen Espresso an den Tisch bringt. Enzo Raponi übernahm damals als erster Ausländer in der Schweiz ein Bahnhofbuffet. Er prägte den Schaffhauser Bahnhof zusammen mit seiner Frau Renate für vier Jahrzehnte – und kennt ihn wie kaum ein zweiter.
«Der Bahnhof ist wie ein Hafen. Viele Schiffe legen hier an, ganz unterschiedliche Menschen kommen her», sagt der Wirt und winkt ab: «Es gibt viel zu erzählen». Er lacht und geht seelenruhig davon. Verschwindet hinter dem Tresen. So wird er es in der nächsten Stunde immer wieder tun: mal ein Tischchen für eine Stammkundin zurechtrücken, ein Zweierli Weissen servieren oder Gläser abtrocknen. Dazwischen erhält man Einblicke in ein stilles, tiefes Wasser: in das Leben von einem, der nicht nur Bahnhofswirt, sondern auch Dichter ist.
Café complet den ganzen Tag
Als Enzo Raponi im April 1982 die Schaffhauser Einwohnerkontrolle aufsuchte, tippte AZ-Chefredaktor Arthur Müller in seinem Büro gerade einen launigen Artikel über den Abgang des alten Wirtepaars und die aufreibende Schichtarbeit im Bahnhofsbuffet. Enzo Raponi hatte sich am dortigen Stammtisch bereits als neuer Wirt vorgestellt, und als der AZ-Chefredaktor ihn von seinem Fenster aus über den Platz gehen sah, rief er bei der Einwohnerbehörde an: Der Neue solle sich danach gleich in der Redaktion melden.
Die Bahnhofbuffets der SBB waren damals noch eine Schweizer Institution. In Schaffhausen sass zu früheren Zeiten jeweils auch Walther Bringolf am Stammtisch – in der 1. Klasse, wohlgemerkt: Denn das Buffet war in eine 1. und 2. Klasse unterteilt, wo die gehobeneren Kreise einerseits und das einfache Volk mit dem kleinen Portemonnaie andererseits verkehrten.
Den ganzen Tag über gab es warme Küche, und zwar in jeder Stadt nach lokaler Gepflogenheit. Gleichzeitig reglementierte die SBB den Gastbetrieb auf gutschweizerische Art: So war ein Glas Milch im Angebot obligatorisch, ebenso Café complet zu jeder Tageszeit. Und der Schweizer Pass für Wirtsleute.
Enzo Raponi stammt aus Carpineto Romano, einem kleinen Ort bei Rom. Er machte die Hotelfachschule in Rimini und arbeitete danach in Deutschland, wo er seine Frau kennenlernte. Nach einer Station in England kamen sie nach Baselland in die Schweiz, wo sie eine Familie gründeten und ein Hotel führten – um sich 1982 auf das Bahnhofbuffet Schaffhausen zu bewerben. Dieses sei lange ausgeschrieben gewesen, erinnert sich Enzo Raponi. Vielleicht deshalb habe die SBB zum ersten Mal überhaupt eine Ausnahme gemacht und ihn und seine Frau unter strenger Prüfung als Ausländer zur Pacht zugelassen.
In seinem Artikel in der Schaffhauser AZ hatte Chefredaktor Arthur Müller angekündigt, dass die Stammtischrunde des Bahnhofbuffets den Abgang der alten Wirte bedauerten und einen Gaststättenwechsel erwägten. Doch dazu kam es dank Enzo und Renate Raponis Gastfreundlichkeit nicht – wobei sie die 1. und 2. Klasse als Schaffhauserstube und Express-Buffet weiterführten.
Ein Blick genügt
Während Raponis Zeit im Bahnhofsbuffet kamen oft Menschen sonntags ins Restaurant und wollten Brot, Eier oder Salz kaufen. «Manche fuhren auch bis zum Flughafen – das war sonst der einzige Ort, wo man sonntags etwas einkaufen konnte», erinnert sich Enzo Raponi. Er erkannte das Potenzial und eröffnete 1991 zusammen mit der SBB einen der ersten Aperto-Shops überhaupt in der Schweiz: ein Glasbau – dafür habe er sich in Milano inspirieren lassen, erzählt Enzo Raponi. Fünf Jahre später gaben Raponis das Bahnhofsbuffet ab und konzentrierten sich fortan ganz auf den 365 Tage im Jahr geöffneten Aperto und bauten den Shop mit Cafébar und Wintergarten aus.
Später traten sie aus der SBB-Franchise-Kette Aperto aus und stellten sich mit dem «Raponi»-Laden ganz als Familienbetrieb auf. Jüngere Semester erinnern sich vielleicht, wie der Padrone hinter der Kasse streng auf den Ausweis schaute, wenn man bei ihm als Jugendliche Alkohol kaufen wollte. 2016 schliesslich kam der Raponi zu seiner heutigen Gestalt als Cafébar.
Zeitweise arbeiteten Menschen aus 14 Nationen im «Raponi». In der Vitrine der Bar liegen Kuchenstücke und Sandwiches, Tochter Béatrice Raponi, die das Café zusammen mit den Eltern führt, bäckt und bereitet alles selbst zu. Enzo Raponi hatte dabei seit je her die Rolle des Gastgebers inne. Ohne seine Familie aber, insbesondere seine Frau, wäre nichts gegangen, sagt er. Sie hätten die Geschäfte partnerschaftlich immer absolut gleichberechtigt geführt, stimmt Renate Raponi bei: «Mein Mann sagt immer, die Welt wäre besser, wenn sie von Frauen regiert würde.»
An diesem vorletzten Öffnungstag führt der 82-jährige Enzo Raponi viele Gespräche mit Gästen, erhält mal einen netten Abschiedsgruss, oder ein Kärtchen mit ein paar Zeilen. Dann wieder steht er hinter der Bar mit dem Geschirrtuch in der Hand. Wir folgen ihm an den Tresen und fragen ihn:
Herr Raponi, was ist der Bahnhof für ein Ort?
«Man kann miteinander plaudern, oder gemeinsam alleine sein. Manche schauen den Zügen zu und erinnern sich an Reisen, die sie gemacht habe. Es gibt nie Stillstand. Der Bahnhof ist so: Man darf kein nervöser Typ sein, man muss eine stille innere Energie haben.»
Wieso?
«Der Ort ist unruhig. Da braucht es nicht auch noch hektische Leute hinter der Theke. Man muss als Chef der Ruhepol sein. Mit den Angestellten nicht lärmen, so dass alle in Würde und Ruhe arbeiten können. Man muss korrekt sein, immer korrekt sein. Die Emotionen im Griff haben. Man kann sie im richtigen Moment zeigen, aber nicht ausleben.»
Vieles, so Enzo Raponi, geschehe nur mit den Augen. Der 82-Jährige macht eine bedeutungsvolle Geste mit den Augen. «Nur ein Blick, und dann wissen die Leute, auch die Kunden, schon, was man meint.»
«Man darf kein nervöser Typ sein.»
Enzo Raponi
Archivar des Lebens
Ein Tag später, Samstagabend. Heute ist Uustrinkete im Raponi. Viele Stammgäste und Freunde der Familie sind da. Darunter auch die italienische Lesegruppe von Enzo Raponi. Man solle ihn nach seinen Gedichten fragen, rät uns jemand.
Enzo Raponi lächelt nur schelmisch. Später verschwindet er im Hinterzimmer, holt einen Band mit italienischen Gedichten und Erzählungen. Es ist einer von drei Bänden, die Enzo Raponi schrieb und für Freunde und Verwandte publizierte. Das erste davon heisst «Stracci di Tempo», Zeitfetzen. «Gedichte kann man in kürzester Zeit schreiben», sagt Enzo Raponi vielsagend. «Früher verschwand ich während der Arbeit im Bahnhofbuffet oft für ein paar Minuten im Büro, um etwas aufzuschreiben».
Warum schreiben Sie?
«Ich möchte die Dinge festhalten. Ich finde es schade, wenn all das Erlebte von Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, einfach so vergessen und verloren geht. Ich möchte ein Archivar des Lebens sein.»
Viele der Texte von Enzo Raponi sind sentimental, nostalgisch auch. Sie sind auf italienisch, mitunter im Dialekt seiner Heimat verfasst.
Mit der Rückkehr nach Italien hat es nie geklappt, da er Pazifist sei und nicht weiter ins Militär gehen wollte, sagt der Padrone. Und irgendwann war es zu spät für eine Rückkehr, da die Familie in der Schweiz Fuss gefasst hatte.
Nun gehen er und seine Frau in den Ruhestand, Tochter Béatrice kann den 365 Tage im Jahr geöffneten Laden nicht alleine stemmen.
Damit verwischt das Gesicht des Bahnhofs noch mehr. Der Bahnhof habe seinen Charakter mit den Jahren immer mehr verloren, sagt Enzo Raponi. Die Brasserie gibt es nicht mehr, sondern nur noch das kaum besuchte Lokal einer Fastfood-Kette. An einen Bahnhof gehöre ein persönlich geführtes Restaurant, ist Raponi überzeugt: «Wenn man es wegnimmt, nimmt man die Seele aus dem Bahnhof. Der Bahnhof ist heute nicht mehr der Ort der Begegnung von früher. Das Kommerzielle hat Überhand genommen.»
Aber alles sei einmal zu Ende, so Enzo Raponi. Er sei froh, hätten er und seine Frau das lange Wirtsleben gesund überstanden.
