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Im Auge des Mediensturms

Zu sehen ist das Schulhaus Rosenberg in Neuhausen in einer Grossaufnahme, an einem sonnigen Sommertag.

Das ikonische Schulhaus Rosenberg in Neuhausen. Foto: Robin Kohler

Auf der Theaterbühne an der Primarschule Rosenberg passiert ein Fehler.
Die ganze Schweiz schreibt darüber – und verpasst festzuhalten, was wirklich passiert ist.

Was zwei Schüler:innen Mitte Juni in der Aula der Primarschule Rosenberg gespielt haben, wirkt wie aus einem Albtraum. Ein Bub sticht ein Mädchen ab, weil es nicht an dessen Gott glaubt – und ruft dabei aus: «Niemand soll je wieder schlecht über meinen Gott reden!» Dann betet der Bub zu seinem Gott, das Mädchen erwacht wieder zum Leben, und die beiden stimmen glücklich in ein «Hallelujah» ein. In der kurzen Theaterszene treffen gleich mehrere hochsensible Themen aufeinander: Religiöser Extremismus trifft auf geschlechtsspezifische Gewalt trifft auf Kinder, die einander töten – und all das in einer Gemeinde, deren Bevölkerung zu 45 Prozent aus Ausländer:innen besteht.

Wenige Tage später hat die gesamte Medienlandschaft die knapp zweiminütige Theaterszene aufgegriffen. Und so sitzt die Verunsicherung tief. Als die AZ Anfang dieser Woche an der Schule anruft, stösst sie auf eine Mauer. Der Schulleiter Christian Schenk, der noch letzte Woche gegenüber mehreren Medien Auskunft gegeben hat, verweist an den Bildungsreferenten Marcel Zürcher. Und dieser teilt mit, dass er nichts mehr zum Fall sagen wird – das hat der Gesamtgemeinderat entschieden.

Das Schuljahr endet also mit einem Knall, und von offizieller Stelle ist nichts mehr zu erfahren. Die AZ konnte trotzdem in verschiedenen Gesprächen mit Personen aus dem Schulumfeld rekonstruieren, was passiert ist. Und muss feststellen: In der Schule ist ein Fehler passiert. Aber der viel grössere Fehler unterlief den nationalen Medien.


Ein Kind und seine Jacke


Angefangen hat das Schuljahr in der Primarschule Rosenberg ursprünglich ganz anders: mit dem Jahresthema «Mitenand». Die 240 Primarschüler:innen und ihre rund 50 Lehrpersonen sollten herausfinden, welche gemeinsamen Haltungen und Werte sie teilen, und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit stärken. Der Integrationsgedanke ist stark an den Schulen Neuhausen, an denen mehr als jedes zweite Kind nicht Deutsch als Muttersprache hat. «Krönender Abschluss», so schrieb Schulleiter Christian Schenk den Eltern Anfang des Jahres, würde die Projektwoche zwischen dem 10. und 13. Juni sein.

Manche Kinder bauten dabei unter Anleitung eines Försters Nistplätze im Wald, andere erprobten sich auf der Bühne des Theaters Central, wieder andere spielten mit Senior:innen Spiele oder backten Granola. Der letzte Nachmittag dieser Projektwoche würde manche der Kinder auf die Bühne der Aula bringen: Sie zeigten einen Flashmob, ein Musikstück und ein Theaterstück, das sie am Morgen davor in altersdurchmischten Gruppen erarbeitet hatten. Darunter eben auch ein Theaterstück zum Thema Religion, das von einem streitenden Paar handelte: Sie warf ihm vor, er denke nur an Gott, und weil er sich uneinsichtig zeigte, verliess sie ihn, worauf der gekränkte Mann sie erstach. Ein Holzstab soll
dabei als Messer fungiert haben.


Im Publikum sass auch Nina Schärrer. Die Einwohnerrätin ist seit kurzem Präsidentin der FDP Neuhausen und fungierte in den vergangenen Monaten als Wahlkampfleiterin von Ständeratskandidat Severin Brüngger. Sie sei, wie auch andere Eltern, enorm irritiert gewesen – nicht nur ob der Szene selbst, sondern auch weil vor Ort keine Einordnung stattgefunden habe. Es folgte ein Mailaustausch mit Schulleiter Christian Schenk, der – für die SP – ebenfalls im Einwohnerrat sitzt. Dieser versandte kurz darauf einen Elternbrief und schrieb, dass die Szenen so nicht hätten aufgeführt werden dürfen und man bedauere, nicht rechtzeitig interveniert zu haben. «Danach war aber immer noch unklar, wie es überhaupt zu
dem Stück kommen konnte und wer das entschieden hatte», sagt Nina Schärrer gegenüber der AZ. «Es ist schlimm, dass schon Kinder zwischen Religion und Mord eine Verbindung herstellen. Die Auswirkungen davon sind nicht einfach von der Hand zu weisen, dem müssen wir uns als Gesellschaft bewusst sein.» Von welchen Auswirkungen Schärrer spricht, ist indes nicht ganz klar – in der Schule ist zwar inzwischen die Schulsozialarbeit eingeschaltet, aber in den Klassen habe es bisher keinen Gesprächsbedarf gegeben, wie die AZ hört. Dafür begann ein Medienkarussell zu drehen, das vom Boden der Fakten abhob.


Von der falschen Verknüpfung…


Nina Schärrer reichte eine kleine Anfrage im Einwohnerrat ein. Die Gemeindekanzlei verschickt diese am Dienstag letzte Woche. Tags darauf wird sie samt dem «religiös motivierten Messer-Mord» zur Titelgeschichte in der Grossauflage der Schaffhauser Nachrichten. Die anwesenden Eltern werden darin als vom Stück nicht mehr bloss irritiert, sondern als regelrecht «schockiert» bezeichnet. Die Eltern, die namentlich auftreten: Nina Schärrer und Lea Plieninger, die Präsidentin des Elternforums
– und, was in den SN unerwähnt bleibt, seit Anfang des Jahres FDP-Vertreterin in der Neuhauser Einbürgerungskommission. Ebenfalls zu Wort kommt im Text ein demütiger Schulleiter, der die Verantwortung für das Vorgefallene auf sich nimmt, und ein Bildungsreferent, der eine Aufarbeitung des Falls verspricht.

Die SN scheinen zu wissen, wo das eigentliche Problem liegt. Und stellen den Connex her: «Religiös motivierte Gewalt, namentlich islamistische Gewalt, ist in Neuhausen nicht zum ersten Mal ein Thema.» Sie stellen eine direkte Verbindung vom Fehler auf der Schultheaterbühne zu Osamah M. und der Neuhauser Moschee her sowie zu zwei Jugendlichen, die vergangenes Jahr verhaftet worden waren,
weil sie mögliche Anschläge auf Kirchen und Synagogen diskutiert haben sollen. Wie die AZ aus sicherer Quelle weiss, war die umstrittene Szene ursprünglich ganz anders geplant. Nicht zwei, sondern drei Kinder waren für das Stück vorgesehen: ein Pärchen und eine Drittperson.

Letztere sollte es sein, die das Mädchen tötete – nicht dessen Partner. Aber dann standen plötzlich statt dieser drei nur zwei Kinder auf der Bühne. Der Bub hätte zwei Rollen spielen und jene des Täters mit einer Jacke, die er trug, visuell abgrenzen sollen. Und dann fehlte auch diese Jacke auf der Bühne. Aus dem fremden Mörder wurde der Partner. Und die eigentliche Aussage des gesamten Stücks – dass Religion in schwierigen Situationen, etwa beim Verlust einer Geliebten durch eine Gewalttat, helfen kann – wurde zur scheusslichen Fratze religiösen Extremismus.

«Das hat sich ohne mein Zutun verselbständigt.»

Nina Schärrer

Dieser zentrale Kontext fehlt im Artikel der SN – und folglich auch in der sich rasant ausbreitenden Berichterstattung. Noch am selben Tag wie die SN greift 20 Minuten die Geschichte auf und verlinkt auf eine eigene Recherche, die zwar mit Neuhausen nichts zu tun hat, dafür die sich häufenden Femizide in der Schweiz und im Ausland thematisiert. Am selben Abend erscheint die SN-Recherche auch in einem rund dreieinhalbminütigen Beitrag im SRF Regionaljournal. Und sie landet im Medienspiegel von kath.ch. Das katholische Medienportal veröffentlichte im März letzten Jahres einen reisserischen Artikel über antisemitische Vorfälle an der Sek Buchthalen (unsere Einordnung dieser Vorfälle lesen Sie in der AZ vom 4. April 2024).

Tags darauf berichtet auch die NZZ über den «religiösen Femizid» im «eskalierten» Schultheater. Ihr gelingt eine Einordnung, die Lokal- und Schnellmedien bisher ausliessen: Sie beschreibt die ganze Projektwoche und verortet sie in einer Gemeinde, die in Sachen Integration als Vorbild gilt. Tatsächlich irritiert das ganz besonders an der ganzen Geschichte: Neuhausen hat seit 20 Jahren ein Primarschulmodell, das mit Teamteaching, Schulsozialarbeit, Heilpädagogik und einer hohen Partizipation der Eltern einen hervorragenden Ruf geniesst.

Die Schulorganisation funktioniert – und erst diesen Mai haben drei Viertel der Stimmbevölkerung einer Ausweitung des Modells auf Kindergarten, Real- und Sekundarschule zugestimmt. Darüber verliert das Gros des Medienkarussells hingegen kein Wort. Stattdessen nimmt die Geschichte eine Eigendynamik an, die sich zunehmend vom ursprünglich Vorgefallenen entfernt.


… bis zur Verschwörungstheorie

Nau schreibt: «Ermordung einer Ungläubigen – Wirbel um Schul-Theater!». Während 20 Minuten die Kommentarspalte geschlossen hält, um Hasskommentare zu vermeiden, lässt Nau sie offen – und editiert die islam- und ausländerfeindlichen Äusserungen der Leser:innen nicht. Sie bleiben bis zum Redaktionsschluss der AZ aufgeschaltet. Die Weltwoche wiederum zitiert die NZZ, und in einem Video findet Verleger Roger Köppel über die «Gemeinde mit hohem Ausländeranteil»: «Daran sieht man, wie die Schweiz sich verändert hat, wenn wir das Thema Femizid schon an Schulen behandeln müssen.» Wenig überraschend findet sein Publikum, das Thema gehöre nicht ins «Abendland», «Segregation» sei die Lösung, und schlägt mit der rechtsidentitären Verschwörungstheorie des grossen Austausches um sich.

Darauf angesprochen, sagt die FDP-lerin Nina Schärrer: «Mein Ziel war nicht zu sagen, dass wir schon lang ein Problem mit Islamismus haben und der Vorfall an der Schule ein Zeichen davon ist. Das hat sich ohne mein Zutun verselbständigt.» Das haben auch die SN gemerkt: Am Samstag kommentierte ein Redaktor, es sei zwar ein gröberer Fauxpas passiert, aber das «Schock-Theater» sei «glücklicherweise kein Anlass, ein systemisches Problem in den Schaffhauser Schulen zu verorten».

Bleibt die Frage: Was sollte das Ganze überhaupt? War es, wie aus dem Neuhauser Parlament zu hören ist, ein letzter Coup einer geschickten Wahlkampfleiterin, die Anschluss am rechten Rand sucht? «Ich kann nichts an den Fakten ändern, dass zu diesem Zeitpunkt Wahlkampf war und die von Schulseite Involvierten in der SP sind», sagt Nina Schärrer dazu. «Ich kann nur sagen, dass das nicht meine Motivation war.» Viele Eltern seien nach dem Stück ratlos gewesen, was zu tun sei. «Und als Politikerin ist der politische Weg am naheliegendsten.» Aus einer missglückten Szene wurde innert kürzester Zeit ein medialer Flächenbrand, ein Stück Kulturkampf und ein Symbol gesellschaftlicher Bedrohung. Zurück bleibt eine Schule, die um ihr Vertrauen kämpft.

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