«Und dann tun sie so, als wäre nichts gewesen»

28. Juni 2025, AZ-Redaktion
Fabienne W. in der Schaffhauser Altstadt. Foto: Robin Kohler
Fabienne W. in der Schaffhauser Altstadt. Foto: Robin Kohler

Vor einem Jahr schockte die Prügelattacke auf Fabienne W. die Schweiz. Wie geht es ihr heute?

Interview: Nora Leutert und Mattias Greuter

Am 22. Mai 2024 wurde die Geschichte der Schaffhauserin Fabienne W. publik: In der SRF-Rundschau berichtete sie, wie sie im Dezember 2021 in der Wohnung eines Schaffhauser Anwalts von mehreren Männern brutal verprügelt wurde. ­Videos einer Überwachungskamera zeigten das Ausmass der Gewalt. Ihr Fall löste eine weit über Schaffhausen hinausreichende Protest- und Solidaritätswelle aus – und wurde in der Öffentlichkeit intensiv und teilweise verzerrt verhandelt. Nun gibt W. das erste Interview, seit sie ihre Geschichte im Fernsehen erzählte.

AZ: Fabienne W., vor dreieinhalb Jahren wurden Sie in einer Schaffhauser Anwaltswohnung brutal verprügelt, vor einem Jahr gingen Sie damit an die Öffentlichkeit. Der SRF-Rundschau-Beitrag und die Videos der Tat erschütterten die Schweiz. Wie geht es Ihnen heute?

Fabienne W.: Ambivalent. Oft muss ich mich zwingen, durch die Stadt zu gehen. Und manchmal schaffe ich es gar nicht aus dem Haus.

Was war der Auslöser dafür?

Es begann bereits kurz nach der Prügelnacht: Die Beteiligten hatten die Gewalttaten in der Anwaltswohnung gefilmt und die Videos in der Stadt herumgeschickt. Die Videos wurden zu Clips geschnitten und es hiess, ich hätte randaliert und Drogen genommen. Ich wurde schlechtgemacht und als Prostituierte, Junkie und Alkoholabhängige verleumdet. Leute aus meinem Umfeld haben sich von mir abgewandt. Der Tätowierer, bei dem ich eine Ausbildung machen wollte, hörte davon und sagte mir, ich müsse nicht mehr kommen und solle erstmal in Therapie gehen. Nachdem ich an die Öffentlichkeit ging und in der SRF-Rundschau auftrat, war dann zuerst alles gut – bis die AZ und andere Medien den Fall aufgriffen.

Die AZ suggerierte in einem Artikel unabsichtlich, dass Sie eine Mitschuld an der Ihnen zugefügten Gewalt hätten. Ähnliches geschah in anderen Medien.

Ich konnte das nicht ertragen, dass mir eine Mitschuld angelastet wurde. Ich hatte danach starke Suizidgedanken und wollte mich in einer Klinik anmelden. Ich hätte in Schaffhausen in der Breitenau behandelt werden sollen, daraus wurde aber nichts – denn dort liessen sich zur gleichen Zeit auch mehrere der Täter einweisen.

Reden hilft
Befinden Sie sich in einer Krise oder haben Sie Suizidgedanken? Die Dargebotene Hand kann helfen. Sie ist hier sowie unter der Telefonnummer 143 rund um die Uhr erreichbar. Für Kinder und Jugendliche ist das Angebot von Pro Juventute da: hier oder per Telefon unter 147.
Für Gewaltbetroffene gibt es in Schaffhausen eine kostenlose und vertrauliche Fachstelle. Hier gibt es mehr Infos sowie telefonisch unter 052 625 25 00.
Für Personen, die Gewalt ausgeübt haben, gibt es ebenfalls Unterstützung. Und zwar hier.

Die Männer, die im Video zu sehen sind, sind noch nicht verurteilt und begegnen Ihnen auch heute noch in der Stadt. Wie ist das für Sie?

Ich versuche, ihnen aus dem Weg zu gehen. Eine Begegnung ist für mich jedes Mal ein Schockmoment. Die Täter tauchen oft in meiner Nähe auf, und gerade vor wenigen Tagen hat einer der Beteiligten wieder einen Social-Media-Post veröffentlicht, in dem er sich auf mich und meinen Sohn bezieht. Er will damit wohl provozieren. (Fabienne W. zeigt den entsprechenden Post).

Welche Bewältigungsstrategien haben Sie?

Ich habe Medikamente für Momente, in denen ich Herzrasen bekomme. Ich gehe zum Ausgleich mit dem Hund spazieren, mache den Haushalt, lenke mich ab.

Und die Musik?

Da gab es lange einen Stillstand, auch wenn es viele Anfragen für eine Zusammenarbeit gab. Aber ich musste meine Musik auf Eis legen, da ich es lange fast nicht schaffte, mit manchen Leuten in einem Raum zu sein.

Was für Leute?

Männer.

Begegnen Sie Männern anders als früher?

Ja, ich bin oft abweisend – aber immer bedacht darauf, keinem nahezutreten. Ich fühle mich durch Männer manchmal getriggert und unterbewusst an den Vorfall erinnert.

Blicken wir ein Jahr zurück: Wieso haben Sie sich damals entschieden, Ihren Fall in der SRF-Rundschau publik zu machen?

Weil die Staatsanwaltschaft den Fall der Schändung einstellen wollte, welche sich 12 Tage vor der Prügelattacke ereignete. Ich befürchtete auch, dass sie ignoriert, dass die beiden Fälle zusammengehören. Auch konnten die Beteiligten unbehelligt Videos von den Gewalttaten herumschicken und die Polizei machte nichts dagegen. Stellen Sie sich vor: Leute kamen auf mich zu und erzählten mir, was für schlimme Dinge sie in diesen Aufnahmen sahen. Und ich weiss auch nicht, was sonst noch mit diesen Gewaltvideos geschah, vielleicht sind sie auch im Darknet gelandet.

Was versprachen Sie sich vom Gang an die Öffentlichkeit?

Dass man mich ernst nimmt, dass es schneller geht mit dem Fall, und dass mir geholfen wird.

Foto: Robin Kohler
Foto: Robin Kohler

Die Behörden kamen dadurch unter Druck. Was erwarten Sie von der Politik?

Ganz einfach: Dass man Gewalt an Frauen ernst nimmt. Die Istanbul-Konvention hat der Kanton bis heute nicht umgesetzt – es ist für Frauen kein wirklicher Schutz da. Und wenn dir etwas passiert, wenn dein Fall publik wird, wird er von Medien, Behörden und politischen Vertretern heruntergespielt, sie tun dann so, als wäre nichts gewesen. Ich wäre fast gestorben, und doch nimmt eine ganze Reihe von Politikerinnen und Politiker das Problem noch immer nicht ernst.

Woran machen Sie das fest?

Regierungsrätin Cornelia Stamm Hurter findet es etwa in Ordnung, wie zuvor die AZ öffentlich zu kommunizieren, man habe in meinem Blut Alkohol und Drogen vorgefunden. Eine JSVP-Kantonsrätin sagte öffentlich, ich hätte mich ja «selbst in diese Szene bewegt» und ein SVP-Kantonsrat fand in der Ratsdebatte, die Auseinandersetzung mit der Sache koste zu viel Steuergeld. Man versucht, mich als Drogensüchtige und Steuergeldverschwenderin darzustellen und meine Glaubwürdigkeit zu untergraben.

Sie stören sich, wie die Politik über Gewalt an Frauen spricht. Wie haben Sie nach der Nacht in der Anwaltswohnung die Arbeit der Polizei erlebt?

Der zuständige Arzt wollte mich in meinem Zustand nicht aus dem Spital entlassen, aber ich liess mich von den Polizisten überreden, trotzdem mitzugehen. Ich wollte nach Hause zu meinem Sohn. Wegen der Spurensicherung hatte ich meine Kleidung nicht, ich musste mir selber etwas zum anziehen organisieren. Auf der Polizeistelle, wo die Einvernahme stattfand, bin ich auch einem der Männer aus der Anwaltswohnung über den Weg gelaufen. Ich war in keinem guten Zustand, aber die Polizei wollte, dass ich sofort meine Aussage mache.
(Die AZ hat die Polizei konfrontiert: Sie widerspricht dieser Darstellung nicht, schreibt aber, sie dürfe sich zu laufenden Verfahren nicht äussern.)

Der Untersuchungsbericht dazu ist noch nicht veröffentlicht, stellt der Polizei aber laut Regierung ein gutes Zeugnis aus: «kein relevantes Fehlverhalten».

Man will einfach keine Fehler einräumen. Meiner Meinung nach versuchte Cornelia Stamm Hurter sich und die Polizei zu schützen.

Im Rundschau-Beitrag sagten Sie, dass Sie sich an vieles von der Nacht in der Anwaltswohnung nicht mehr erinnern können. Woran erinnern Sie sich?

Ich weiss noch, wie ich in der Wohnung des Anwalts ankam, dass es irgendwann Dessert gab. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Mit einer Ausnahme: Wie ich vor der Tür lag, einer der Männer lag auf mir, würgte mich und drückte dabei meinen Nacken gegen eine Treppenstufe. In diesem Moment habe ich mich von der Welt verabschiedet.

Das war ausserhalb des Bereichs, den die Kamera des Anwaltes filmte?

Ja, das war im Treppenhaus. Man sieht es nicht, aber man hört etwas in den Videos.

Sie konnten einen grossen Teil der Nacht erst anhand der Videos rekonstruieren?

Ja. Wir mussten Beweise sammeln und den Tathergang bestmöglich aufschreiben, Punkt für Punkt. Ich habe die Videos immer und immer wieder geschaut und versucht, alles zu verstehen und nachzuvollziehen, was die Männer an diesem Abend untereinander gesprochen haben.

Wie wichtig ist es für Sie, ob und wie schwer die Männer bestraft werden?

Das ist mir schon wichtig. Es geht nicht einfach um eine Ohrfeige. Ich wäre fast gestorben.

Ihr Fall hat Erschütterung ausgelöst, Hunderte demonstrierten vor dem Schaffhauser Polizeiposten. Aus der Solidaritäts- und Protestwelle ging das Bündnis «Gerechtigkeit Schaffhausen» hervor, das über 10 000 Unterschriften für eine Petition gesammelt hat. Am Feministischen Streik vorletzte Woche haben Sie sich in einer Rede bei den Unterstützer:innen bedankt.

Ich bin sehr froh um die Solidarität. Die enorme Reaktion war für mich zuerst etwas überwältigend, hat mir aber geholfen. Vor der Petition war mir gar nicht bewusst, dass meine Geschichte auch politisch ist. Dann begann ich, mich mehr mit dem Thema Gewalt an Frauen auseinanderzusetzen.

Hunderte demonstrierten nach der SRF-Rundschau vor dem Schaffhauser Polizeiposten. Foto: Robin Kohler
Hunderte demonstrierten nach der SRF-Rundschau vor dem Schaffhauser Polizeiposten. Foto: Robin Kohler

Aus Ihrem Fall werden von linker Seite auch politische Forderungen abgeleitet. Wie fühlt es sich an, wenn das eigene Erlebte von der Politik verhandelt wird?

Aus der SVP hiess es immer, die Linken dürften meinen Fall nicht politisieren, dabei taten sie selbst nichts anderes, wenn sie darüber sprachen. Ich finde, das Thema geht alle politischen Lager etwas an.

Sie nehmen die Politisierung ihres Falles als positiv wahr?

Ja.

Gleichzeitig können Sie die Dynamik, die der Fall entwickelt hat, nicht kontrollieren. Ist es manchmal auch unangenehm, dass Ihr Name öffentlich so intensiv verwendet wird?

Im Moment ist es okay. Ich wollte nie durch so etwas bekannt werden, das möchte wohl niemand. Ich wollte nur meine Musik machen und hie und da auftreten. Ich fühle mich aber an Gisèle Pelicot (die ihren Vergewaltigungsprozess der Öffentlichkeit zugänglich machte, Anm. d. Red.), erinnert und handle auch aus Solidarität zu ihr. Sie sagt: Die Scham muss die Seite wechseln.

Würden Sie den Schritt an die Öffentlichkeit wieder machen?

Ja, ich würde es wieder tun. Auch wenn es ein enormer Druck ist. Ich möchte vermitteln, dass man solche Erlebnisse überstehen und Lebenssinn und eine Zukunft haben kann. Ich werde auch oft auf der Strasse angesprochen. Es kommen Menschen auf mich zu, die selbst Gewalt erlebten und die sich nicht zur Opferberatung oder zur Polizei getrauen aus Angst, nicht ernst genommen zu werden. Ich will ihnen Mut machen.

Ihr Kampf bestimmt im Moment stark Ihr Leben.

Ja. Ich befasse mich auch deshalb mit meinem Fall und der politischen Dimension, um die ganze Situation persönlich verarbeiten zu können.

Denken Sie, Sie können eines Tages zur Normalität zurückkehren?

Das ist vom jetzigen Stand schwer zu beurteilen. Jetzt bin ich erst einmal mit Therapie beschäftigt. Mein Ziel war ursprünglich, mich als Künstlerin selbstständig zu machen und nebenbei weiterhin in der Gastronomie zu arbeiten. Beides geht im Moment nicht mehr. Ich bin blockiert, auch in der Musik, und mir fehlte auch lange die Stimme, um zu singen. Und ob ich in die Gastro zurückkehren kann, weiss ich nicht.

Warum?

Man hat immer wieder mit sexueller Belästigung und blöden Sprüchen zu tun und muss dies oder jenes über sich ergehen lassen. Da braucht man ein dickes Fell.

Was planen Sie für Ihre Zukunft?

Ich würde gerne mal ein Buch über meine Erfahrungen schreiben. Was ich mir sicher vorstellen kann, ist, mich auch in Zukunft gegen Gewalt an Frauen einzusetzen: Öffentlichkeitsarbeit in dem Bereich zu machen und etwa an Schulen zu sprechen. Ansonsten möchte ich etwas Ruhiges machen. Büroarbeit vielleicht, manchmal wird mir alles zu laut und zu viel. Mein Traum war immer ein Häuschen am Meer.