Der Neunkircher Landwirt Fritz Uehlinger ist unbeirrbarer Öko-Pionier, Kakteen-Enthusiast und Vorspurer. Ein stacheliges Porträt.
von Andrina Gerner
Zwischen den Pflastersteinen vor dem Eingang einer alten Werkstatt in Neunkirch wächst ein blaues, unscheinbares Blümchen. Es ist ein Frauenspiegel (Legousia hybrida), sehr selten. Dass es hier wächst, ist dennoch kein Zufall, denn im Gebäude dahinter produzieren der 86-jährige Fritz Uehlinger und seine Tochter Gabi Uehlinger seit Jahrzehnten pionierhaft Samen von hiesigen Wildblumen. Ein Projekt, das bereits viel Aufmerksamkeit bekam und bestes Beispiel dafür ist, was Fritz Uehlinger ausmacht: Hartnäckigkeit bei stiller Bescheidenheit.
Wir treffen den schlanken, weisshaarigen Mann in flimmernder Hitze auf dem Fronwagplatz an der jährlichen Standaktion der Schweizerischen Kakteen-Gesellschaft, in deren Regionalgruppe er aktiv ist. Seit vierzig Jahren züchtet er in seiner Freizeit auch Kakteen. Pflanzen hätten ihn schon immer angezogen, erklärt er. Eine Passantin kauft ihm eine Chamaelobivia ab. Fällt es ihm schwer, sich von den selbst gezogenen und lange gehätschelten Pflanzen zu trennen? Er winkt ab. Er habe noch drei solcher Schalen zu Hause und müsse ohnehin Platz schaffen: «Wäre das nichts für Sie?»
Wir sind neugierig geworden und möchten mehr erfahren über die Kunst des Kakteenzüchtens und über einen Mann, der viel zu erzählen hat. Zwei Tage später begrüsst der Neunkircher uns im Garten seines Bauernhauses vor den Toren des Städtchens. Wir werden nicht enttäuscht: Zwischen den Gerätschaften zur Aufbereitung der Wildblumensamen erstreckt sich Uehlingers Kakteensammlung – auf jedem Tisch, in jeder Ecke und auf jedem freien Platz.
«Mich fasziniert die Vielfalt dieser Pflanzen. Ich habe eher kleinwüchsige Arten, Lobivia und Rebutia, die meisten sind selbst gezogen.» Er nimmt eines der vielen, sorgfältig beschrifteten Töpfchen in die Hand: «Lobivia schneideriana. Steckling, 20. August 2016.» Schon neunjährig, sagt er und wirkt selber erstaunt.
«Die Kakteen sind sein Ding», sagt seine Tochter Gabi Uehlinger. «Die meiste Zeit verbringt er hier. Er muss immer irgendetwas werkeln.» Vor vierzig Jahren säte Uehlinger zum ersten Mal Kakteensamen aus, mehr aus Neugierde, was da keimen würde. Von dieser ersten Saat existieren immer noch zwei Pflanzen, sie stehen unscheinbar zuhinterst in der Werkstatt auf der Fensterbank. Eine davon lebt allerdings nicht mehr. Nicht so schlimm, meint der Senior: «Einen Kaktus kann man wunderbar als Mumie behalten.»
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So pragmatisch Uehlinger klingt, so viel Pioniergeist steckt in ihm. Er war der erste Landwirt im Kanton, der auf seinen Feldern Ausgleichsstreifen anlegte, um die Biodiversität zu fördern. In den Achtzigerjahren, als Natur- und Artenschutz unter der Bauernschaft schlicht kein Thema war, ging es dank schöner, neuer Technik nur darum, Höchsterträge zu erzielen. Auch er habe damals alle Tricks zur Ertragssteigerung angewendet, sagt Uehlinger. So wie alle anderen auch. Obschon er sich insgeheim manchmal gefragt habe, ob es wohl richtig sei, was man hier mache. Aber warum sollte man Ertragseinbussen hinnehmen für ein paar Blümchen und kleine Vögel?
Als Forschende das ökologische Potenzial des Klettgaus erkannten, war Uehlinger als damaliger Leiter der Ackerbaustelle in Neunkirch ihre Ansprechperson und kam so in Kontakt mit neuen Ideen. Er liess sich überzeugen, der Funke war übergesprungen. In der Folge legte er auf seinem Land bewusst zwei Streifen Buntbrachen an als Lebensraum für Feldlerchen, Insekten und Wildblumenarten. Liess sich von kritischen Stimmen nicht beirren. Er mache das jetzt so. «Es war ein Experiment, es war etwas total Neues», sagt Tochter Gabi Uehlinger. Umso bemerkenswerter sei das Durchhaltevermögen, das er gezeigt habe, in einer Zeit, als solch ein Denken komplett neu war und er nicht viele Gleichgesinnte um sich hatte. «Aber er hat seine Sache immer durchgezogen.»
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Schon wenige Jahre später wurde Fritz Uehlingers Engagement honoriert. 1991 war er der erste, der mit dem kantonalen Naturschutzamt Verträge abschloss und Unterstützungsgelder für seine Ausgleichsflächen bekam. Das hatte Vorbildcharakter und war ein Antrieb, weiterzumachen.
Und es ergaben sich bald neue Dringlichkeiten: Das Saatgut für einheimische Wildblumen war damals rar und enthielt oft Gartenzüchtungen, die nichts auf den Feldern verloren hatten. Also begann Uehlinger zusätzlich mit der Zucht von eigenem Pflanzgut. Er legte kleine Pflanzplätze an und sammelte akribisch die Saat für seine ersten Pflanzungen: Witwenblumen, Rotklee und Wiesenkümmel. Viele weitere Sorten sind über die Jahre dazugekommen und mit ihnen das Wissen über Anbau und Ernte, das er von Anfang an mit seiner Tochter teilte. Die Produktion wurde in Zusammenarbeit mit Saatguthändlern professionalisiert. Sie ist heute zentraler Betriebszweig auf dem Hof der Uehlingers. «So ging es immer weiter. Ich war immer im Austausch mit verschiedenen Forschenden, war stets überzeugt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.» Andere Landwirt:innen folgten seinem Vorbild: «Es funktioniert nämlich nur gemeinsam.»
Belohnt wurde Uehlingers Unbeirrbarkeit durch die Auszeichnung des Klettgaus zur Landschaft des Jahres 2023, die er im Namen aller am Projekt Beteiligten entgegennehmen durfte. «Darauf ist er sehr stolz», sagt seine Tochter. Es gäbe noch viel mehr zu erzählen dazu. Es sei eine grosse Geschichte, sagt Fritz Uehlinger. «Ich müsste mal ein Buch schreiben darüber.»
Mittlerweile ist klar: Wenn sich der weitsichtige Landwirt einer Sache annimmt, dann richtig. Ob das Sturheit ist oder einfach die Freude, in die Tiefe zu forschen, ist dabei nicht so wichtig. «Wussten Sie, dass ich im letzten Jahr eine Computerausstellung organisiert habe?» Früher habe er sich sehr für alles Elektronische interessiert. «Aber wir hatten den Hof und man wächst da hinein.» Also wurde er Landwirt, dennoch nahm er sich immer wieder die Zeit, sich mit Computern zu befassen. «Ich wollte wissen, wie das funktioniert, was das für Bauteile sind, wie die rechnen.» Er sammelte Teile von ausrangierten Maschinen und baute einen Digitalrechner nach Anleitung: «So ein Computer ist ja eine relativ simple Sache. Eigentlich geht es nur um ja oder nein. Strom oder kein Strom.» Sein Rechner habe natürlich nie richtig funktioniert, das sei klar, aber man habe daran seine Funktionsweise erklären können. Seine Sammlung an historischen Computern und Bauteilen zeigte er im Rahmen der Neunkircher Kulturtage.
Mit leisem Lächeln widmet sich Fritz Uehlinger wieder seinen Pflanzen. Ist das nicht eine Riesenarbeit? Eine Kakteen-Sammlung diesen Ausmasses sei schon aufwändig, gibt er zu. «Aber ich bin ja pensioniert, ich habe Zeit.» Seine Augen blitzen. Und er führt uns weiter hinein in den grossen Garten. Hier darf alles «ins Gjuhee» wachsen, auch Blindschleichen, Ringelnattern und Igel fühlen sich wohl. «Andere würden alles rausreissen, zum Beispiel hier den Girsch. Aber auf den Dolden sitzen immer jede Menge Insekten.» Kleine Trampelpfade führen durchs hohe Gras zu den verschiedenen Gewächshäusern und Beeten. Durchs Unterholz seiner dichten Obstbäume geht es weiter, vorbei an einem Orangenbaum. Für sein Alter sei der Baum aber eher klein, ein Bonsai, sozusagen. – Für sein Alter? – Der Baum sei über 70 Jahre alt, erwidert Uehlinger. Er habe ihn als Jugendlicher aus Orangenkernen gezogen, es sei sein Langzeitprojekt und brauche jeden Tag Wasser: «Den bibälele ich schon ewig.»
Der berühmte grüne Daumen muss hier wohl nicht extra erwähnt werden. Es spriesst und keimt zwischen Pflanzschalen, Gartengeräten und Säcken voller Erde und auf jedem freien Platz steht ein kleiner, grüner Kaktus. Er sollte wirklich ein bisschen reduzieren, stellt der 86-Jährige fest. «Aber bremse isch halt schwierig.»