Finde die Unterschiede: Es heisst, Severin Brüngger und Simon Stocker seien sich sehr ähnlich. Stimmt das überhaupt? Unser Doppelporträt.
von Mattias Greuter und Xenia Klaus
Für ein Podium bat man die zwei Kandidaten für den Ständerat kürzlich, jeweils drei Fotos einzureichen. Einer zeigte sich zwei Mal mit Kind, einmal mit Partnerin. Der andere zeigte sich je einmal mit Kind, mit Partnerin und auf dem Rhein. Und egal welche Fotos man anschaute, immer war da ein Mann zu sehen, graumeliert, nicht mehr jung, noch nicht alt. Doch die politischen Werdegänge, die die scheinbaren Doppelgänger in dieses Ständeratsrennen geführt haben, könnten kaum unterschiedlicher sein.
Der mit dem plötzlichen Einstand
2020 tauchte auf den Wahllisten der städtischen FDP ein Name auf, den politisch Interessierte bis dahin kaum gekannt hatten: Severin Brüngger. Der 42-Jährige wurde im ersten Versuch in den Grossen Stadtrat gewählt; als er 2022 auch noch in den Kantonsrat nachrutschte, haftete bereits das Prädikat Zukunftshoffnung an ihm. Nur ein Jahr nach seinem Einzug in den Kantonsrat versuchte die FDP erfolglos, mit ihm und einem wilden Mehr-Listen-Konstrukt, den SP-Sitz im Nationalrat anzugreifen. Und jetzt, wiederum nur zwei Jahre später, soll der 1.95-Hüne für die Liberalen in die Lücke springen, die das Bundesgericht unverhofft in den Ständerat geschlagen hat.
Der mit den vielen Anfängen
Simon Stockers Karriere schien schon zu enden, als die von Brüngger begann: 2020 trat Simon Stocker nach acht Jahren im Stadtrat nicht mehr an.
Mit seiner Wahl in den Ständerat schloss sich ein Kreis, der mit seinen allerersten politischen Schritten begonnen hatte.
Im Jahr 2003 war eine Handvoll junger Linker sauer, dass die SP gar nicht erst eine Kandidatur für den Ständerat lancierte und die beiden Sitze kampflos der FDP und der SVP überlassen wollte.
Ein 22-Jähriger mit langen Haaren und dem Namen Simon Stocker war darob so enttäuscht, dass er aus der SP, der er sich erst kürzlich angeschlossen hatte, gleich wieder austrat. Stattdessen wurde er zu einem der Gründer:innen der AL, die prompt zwei eigene Ständeratskandidaten ins Rennen schickte. Stocker fungierte als Wahlkampfleiter. Ein Jahr später holte die AL die ersten Sitze in den Parlamenten von Stadt und Kanton, 2007 rückte Simon Stocker in den Grossen Stadtrat nach.
Anders als die Mehrheit der jungen Partei galt er immer als moderat und vernünftig – in der AL nannte man ihn scherzhaft «die Spassbremse». «Simon ist sich sehr treu geblieben», sagt sein Freund und politischer Wegbegleiter Andi Kunz. «Er hat die AL geprägt. Er hat unsere spätnächtlich entstandenen Klamauk-Ideen hinterfragt und sich den internen Diskussionen gestellt.» Und wie immer, wenn eine Polpartei nach höheren Ämtern greift, wählte die AL dafür den Moderaten aus.
Stocker wurde 2008 in den Stadtschulrat gewählt und vier Jahre später in einer Sensationswahl in den Stadtrat. Der Beweis, dass er weit über das linke Lager hinaus Stimmen machen konnte, war erbracht, seine Wiederwahl fortan Formsache. Bis heute fällt es Gegnern schwer, inhaltlich konkrete Kritikpunkte an Stockers Arbeit als Stadtrat zu finden. «Er hatte das Glück, sehr gute Stabsmitarbeiter zu haben», sagt der städtische SVP-Präsident Hermann Schlatter. Ihm und den Seinen stiess am ehesten sauer auf, dass Stocker gerne mal am Freitag schon ins Wochenende verschwand: «Er war einfach nicht der, der Grosses angerissen hat.»
«Er fiel weder positiv noch negativ auf», sagt FDP-Grossstadtrat Martin Egger, «war nie wirklich angreifbar und politisierte mit einem gewissen Charme». Ein Kritikpunkt, der Egger dann doch noch einfällt: «Er hat manchmal einfach Dinge umgesetzt, anstatt eine Vorlage in den Rat zu bringen.»
Zu Simon Stockers politischem Erbe gehören der Aufbau der Quartierarbeit und das Familienzentrum sowie die für Schaffhauser Verhältnisse fast atemlose Umsetzung eines Vorstosses der Jungfreisinnigen, der Bewilligung für Buvetten am Lindli.
Nach drei Legislaturen beendete Simon Stocker 2020 seine politische Arbeit eher überraschend. Er war in Schaffhausen nur noch wenig zu sehen – teils, weil seine Freundin und heutige Frau in Berlin lebte, teils weil ihm die Provinz zu eng wurde. Stocker zog nach Zürich, konzentrierte sich auf seine Arbeit als selbstständiger Berater in Altersfragen mit eigenem Unternehmen und trat bald der Zürcher SP bei – ein Signal, das man auch in Schaffhausen hörte.
2021 twitterte Stocker: «Heute in zwei Jahren sind nationale Wahlen. Halbzeit-Bilanz aus SH Sicht: Engagierte Nationalrätin Martina Munz und Nationalrat Thomas Hurter und Ständeräte, die ausgebrannt wirken. Zeit für frische Kräfte?» Ein Comeback Stockers wurde hinter den SP-Kulissen immer mehr zum Thema.
Die SP, inzwischen um alle Kader der aufgelösten AL gewachsen, trug Stocker 2023 zum Sieg, im zweiten Wahlgang wurde das linke Politmärchen Wirklichkeit – bis, wie in jedem Märchen, der Widersacher seinen Auftritt hatte. Die Wahl Stockers wurde auch deshalb möglich, weil die Bürgerlichen und vor allem die FDP einen schwachen Wahlkampf voller Querelen und Blamagen gezeigt hatte. Dieses Mal soll alles anders werden.
Der mit den Flugzeugen
Severin Brüngger ist 2018 der FDP beigetreten, weil er das Gefühl gehabt habe, die Partei kenne sich am besten aus mit «Arbeitsplätzen, Wirtschaftsfragen und allem, was damit zusammenhängt». Zudem war sein Vater schon Parteimitglied. Aber bevor er sich auf die Wahllisten setzen liess, schrieb Brüngger eine E-Mail ans höchste Personal, das die Kantonalpartei damals hatte. Brüngger hatte Regierungsrat Christian Amsler an einem Handballmatch kennengelernt und wollte jetzt wissen, wie das so ist, Politik machen. Amsler, so erzählen es beide, redete ihm gut zu. «Er sagte mir, es sei wie im Sport: manche mögen dich, manche sind deine Gegner», sagt Brüngger.
Brüngger versteht Sportmetaphern. Er war als Kind zunächst Kunstturner, bis man ihm sagte, er sei zu gross. Als 13-Jähriger begann er bei Pfadi Winterthur Handball zu spielen. Ab 1998 spielte er bei den Kadetten Schaffhausen und 1999 bereits in der Nationalmannschaft. Brüngger war Halbprofi, die anderen 50 Prozent arbeitete er im Büro der SIG, wo er seine Lehre als Maschinenmechaniker absolviert hatte. Die Handballmannschaft sei seine Familie gewesen, «nichts war schöner als mit den Jungs auf dem Platz zu stehen». 2006 gründete er mit einem Handballkollegen eine Werbefirma. Als diese 2020 liquidiert wurde, war das allerdings schon lange nicht mehr sein Hauptberuf: Auf Anraten eines Militärkollegen hin liess sich Brüngger zum Piloten ausbilden und flog für eine Weile einen Kasachen im Privatjet durch die Welt. Seit 2013 fliegt er für Easyjet. Seine Lieblingsstrecke ist Basel – Heraklion; Brüngger liebt seinen Beruf, das sagt nicht nur er selbst, sondern auch viele, die Brüngger kennen. 2011 wurde er Vater, heute lebt er in einer Patchwork-Familie mit drei Kindern, das Jüngste ist dreijährig.
Der mit dem Wohnsitz
Über das Privatleben von Simon Stocker ist inzwischen mehr bekannt, als ihm lieb ist: Die halbe Schweiz spekulierte, unter welchem Dach er schläft. Nach einer aus dem Lager des abgewählten Kontrahenten Thomas Minder finanzierten und mit Hilfe der Weltwoche lancierten Wahlbeschwerde entschied letztlich das Bundesgericht: Simon Stockers offizieller Wohnsitz war zum Zeitpunkt der Wahl in Zürich und nicht in Schaffhausen. Das ist der Grund, warum erneut gewählt werden muss. Heute lebt die dreiköpfige Familie Stocker in einer geräumigen Wohnung an der Oberstadt.
Der Nebulöse
In seiner kurzen Zeit im Ständerat stimmte Simon Stocker fast immer mit der Mehrheit der SP-Delegation. Daraus abzuleiten, er sei besonders links, ist aber ein Fehlschluss. Faktisch ist es eher umgekehrt: Mit Stockers Einzug kippte die Mehrheit innerhalb der SP-Delegation, neu waren die Moderaten in der Mehrheit.
Zwei Initiativen zeigen beispielhaft auf, was für Stocker wirksame linke Politik ist – und was nicht.
Die Juso kämpft mit einer Volksinitiative für eine Erbschaftssteuer von 50 Prozent, die ersten 50 Millionen Franken wären steuerfrei. «Da isch halt d’Juso», sagt Stocker, die klassenkämpferische Sprache der Jungpartei widerstrebt ihm. «Ich war nie der Typ, der von bösen Reichen gesprochen hat.» Vor allem aber sei die Initiative «nicht mehrheitsfähig»: «Ich verwende meine Zeit lieber für Sachen, die in nützlicher Frist etwas bewirken.»
Zweites Beispiel: Eine Nationalratskommission will mehr Vaterschaftsurlaub nur auf Kosten der 14 Wochen Mutterschutz realisieren. Die von der SP unterstützte «Familienzeit-Initiative» diese gefällt Stocker, obwohl die Forderung von 18 Wochen im Parlament auch chancenlos sein dürfte: «Die Initiative ist ein guter Hebel.» Denn: «Die beste Volksinitiative ist diejenige, die einen guten Gegenvorschlag provoziert. So erreicht man schneller reale Fortschritte.»

Er wechselt das Thema zur Kita-Initiative, genauer zum Gegenvorschlag, an dem er als Ständerat mitgearbeitet hat: Ein Kompromiss mit kantonalen Betreuungszulagen statt Bundesmilliarden – «so geht Realpolitik», sagt Stocker – es scheint eines seiner Lieblingsworte zu sein. Das macht es so schwierig, in seinen Haltungen eine politische Vision zu erkennen. Etwas verkürzt: Fast allen linken Forderungen kann er etwas abgewinnen, aber fast alles hätte er am liebsten etwas mehrheitsfähiger. Etwas zahmer, etwas verwässerter.
Der Neoliberale
Severin Brüngger wählt als Ort für den Medientermin das Café, das sich im Gebäude des Spitexdienstes Pflegeteam 2000 befindet. Er sitzt hier im Vorstand.
Im Grossen Stadtrat und im Kantonsrat kumuliert hat Severin Brüngger in seiner Karriere bisher elf Vorstösse eingereicht. Aber mit dieser schmalen Bilanz hat er sich ein klares Profil geschaffen. Brüngger hat sich vor allem mit seinem Hass auf die SH Power und Postulaten, die Teilzeitarbeit hätten bestrafen sollen, einen Namen gemacht. Einst hat er auf Twitter (mittlerweile X) gepostet, dass «der erste Schritt zu bezahlbaren Wohnungen die Abschaffung von Mietrecht» sei. In mehreren Posts hat er den argentinischen Präsidenten Javier Milei lobend erwähnt, der gerne mit Kettensäge als Symbol für die Zerlegung des Staates auftritt.
Urs Wohlgemuth, bis vor kurzem FDP-Präsident, sagt: «Severin Brüngger ist sicher ein sehr neoliberaler Mensch und dazu steht er.» Brüngger selbst sagt hinter der weissen Tischdecke des Spitex-Café allerdings, er möge das Wort neoliberal nicht, des negativen Touches wegen. Brüngger versucht in seinem Wahlkampf etwas, was man wenigen Kandidaten raten würde: Sein Profil abzuschwächen. Immer wieder auf seine angebliche Liebe zum Kettensägen-Mann festgemacht zu werden, finde er unfair, er erwähne Milei auf Twitter lediglich, «um positive Beispiele für den Liberalismus» zu zeigen.
Brüngger grüsst im Gebäude des Pflegeteams 2000 links und rechts, führt mit langen Schritten durch die fast leeren Büros des privaten Spitex-Dienstes und erklärt fachmännisch, wieso sie gerade leer sind. Man merkt, dass er sein politisches Profil verbreitern will. Christian Amsler wird kaum der einzige gewesen sein, der Brüngger zur Themen-Diversifizierung geraten hat. Brünggers Wahlkampfleiterin ist Nina Schärrer, die sich in ihrem eigenen Versuch, Ständerätin zu werden, vor zwei Jahren am progressiven Rand der Partei positionierte. Aber Brüngger nutzt eine Phrase, die Amsler später am Telefon 1:1 ebenfalls benutzen wird: Er wolle ein Ständerat für alle Schaffhauser sein.
So gibt sich Brüngger aktuell betont gesundheits- und bildungsfreundlich und sagt auf dem Land, er habe nichts gegen staatliche Direktzahlungen an Bauern, eigentlich der Prototyp antiliberaler Marktverzerrung. Brüngger fischt aber auch am rechten Rand. Er hat sich in Thayngen auf der Bühne mit Roger Köppel gezeigt, zu seinem Unterstützungskomitee gehört Pentti Aellig, der selbst in der SVP rechtsaussen steht (siehe AZ vom 8. Mai), und das Argument der «geeinten Standesstimme» für Schaffhausen verspricht, dass er grossmehrheitlich mit der SVP stimmen wird, sollte er im Ständerat Platz nehmen dürfen. Dem SRF sagte er, dass das insbesondere für «Asyl und Verkehr» gilt. Weitere Verschärfungen im Asylrecht würde er mittragen: «Ich finde zum Beispiel nicht, dass Frauen aus Afghanistan als Flüchtlinge aufgenommen werden sollen, bloss weil sie Frauen sind.»
Ganz sattelfest ist Brüngger im zielgruppengerechten Kommunizieren aber noch nicht. Gefragt, ob er sich als Feminist bezeichnen würde, entgleitet Brüngger kurz das Gesicht. Er finde das eine komische Frage, sagt er, verlangt nach der Definition eines Feministen und fragt, ob man daraus den Titel für den Artikel machen wolle. «Aber selbstverständlich setze ich mich für Gleichberechtigung ein.» Auf Twitter schrieb Brüngger einmal, dass geschlechtsspezifische Lohnunterschiede bei gleicher Leistung nicht existieren. Andererseits stimmte Brüngger im Stadtrat kürzlich für einen vorgeburtlichen Mutterschutz für Stadtangestellte.
Der mäandrierende Brüngger ist zum Teil Wahlkampf, aber nicht nur. Der SVP stand Brüngger schon immer nahe, Kantonsrätin Corinne Ullmann zum Beispiel sagt, sie seien fast immer gleicher Meinung. Die vielleicht umfassendste und gnädigste Beurteilung aus dem linken Lager kommt von der Präsidentin des Grossen Stadtrates und SP-Kantonsrätin Angela Penkov. «Severin Brüngger ist kein besonders origineller FDPler. Er mischt SVP-Rhetorik von vor 10 Jahren mit radikalem Wirtschaftsliberalismus. Aber es gibt einige Lichtblicke.» In Bildungsthemen etwa zeige er eine «gewisse Offenheit, leider ohne klare Lösungsansätze».

Und in der Gesundheitspolitik: Brünggers grösster realpolitischer Einfluss war sein Vorstoss zur Verbesserung der Bedingungen fürs Pflegepersonal. Seit Anfang Jahr präsidiert Brüngger die Gesundheitskommission des Kantonsrates. Seine erste Sitzung hat er verpasst, sowohl Arbeitsplan als auch dieser Termin seien schon vor seiner Wahl in die Kommission festgelegt worden, sagt Brüngger. In der Gesundheitskommission hat er einen Kompromiss mitgetragen, der als Gegenvorschlag zur Spitalinitiative vorsieht, dass der Kanton 70 Millionen Eigenkapital ins Spital schiesst. Ungern zwar, sagt er, «eigentlich müssten die Tarife so sein, dass sich die Spitäler am Markt selbst finanzieren können.» Dafür würde er sich in Bern einsetzen, sagt er, auch wenn das höhere Prämien bedeuten würde. Für seinen Kontrahenten, der das SP-Thema Kaufkrafterhalt in seinen Wahlkampf aufgenommen hat, natürlich ein rotes Tuch.
Der Kompromisseschmieder
Dass Simon Stocker mit Vertreter:innen einer ganz anderen Politik gut zusammenarbeiten kann, ist unbestritten und der Grund für Unterstützung aus einer sehr überraschenden Richtung – pardon: Richting.
«Als Simon erneut zur Wahl antrat, bin ich sofort seinem Komitee beigetreten», sagt die ehemalige SVP-Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel. «Natürlich haben wir das Heu politisch in vielen Themen nicht auf der gleichen Bühne», – Widmer Gysel spricht im Präsens – «aber er ist einfach einer der zuhört, mit dem man Kompromisse findet kann und der Menschen überzeugen kann», sagt sie. Stocker war in der Stadt für Polizei und Sicherheit zuständig, Rosmarie Widmer Gysel auf Kantonsebene. Bei einem ersten Treffen ging es gleich um die brisante Frage der Aufteilung von Sicherheitskosten zwischen Stadt und Kanton und um viel Geld. «In kurzer Zeit hatten wir einen guten Kompromiss», erinnert sich Widmer Gysel.
Kürzlich hat Rosmarie Widmer Gysel das Präsidium des Spitexverbandes des Kantons Schaffhausen an ihren Wunschnachfolger Simon Stocker übergeben. «In seinen politischen Schwerpunkten in den Bereichen Jugend und Alter sowie Gesundheitspolitik, die auch mir am Herzen liegen, bringt Simon Sachkenntnis mit. Das hat mich überzeugt – nebst seiner Persönlichkeit, und die Ständeratswahl ist eine Persönlichkeitswahl.»
Zu Simon Stockers Persönlichkeit gehört auch sein freundlicher Umgang. Er ist überzeugt: Dieser ist notwendig, um in der Politik etwas zu erreichen. Sein Kontrahent war diesbezüglich lange anderer Meinung.
Der Scharfmacher
«Severin hat sich sicher auch mit seinem Stil schnell einen Namen gemacht», sagt sein Freund Amsler. Brüngger hält gerne Brandreden im Grossen Stadtrat; sein Image als Provokateur ist aber auch auf seinem Social-Media-Auftritt zurückzuführen. Einmal kommentierte er den Post eines GLPlers mit «Ihr seht aus wie Arschkriecher, aber durchaus ok». Über die Ratspräsidentinnenfeier von Angela Penkov mit Dragqueen-Auftritt twitterte er: «Selbstbedienung – ein anderer bezahlt und ein durchschnittlicher Mann, der nur als Frau Erfolg haben kann. Ich liebe die SP Schaffhausen».
Manche sind bereit, die Bühnenpersona von Brünggers persönlichem Umgang zu trennen: «Im Büro des Grossen Stadtrates habe ich ihn persönlicher kennengelernt und war überrascht, wie empathisch und freundlich er sein kann», sagt zum Beispiel Penkov. Andere nennen ihn auch integer, er ist keiner, der Intrigen spinnt. Aber zündelt einer lange genug, brennt es irgendwann vielleicht gerade dort, wo eigentlich Heu auf der gleichen politischen Bühne liegt. Der grünliberale Präsident Christoph Hak zum Beispiel sagt: «Irgendwann hat man es sich mit diesem Ton einfach verscherzt.»
Wohlgemuth sagt, Brüngger kommuniziere manchmal vielleicht hart. Das tue seinen Fähigkeiten als Politiker aber keinen Abbruch: «Wenn wir im Kantonsrat Mehrheiten gesucht haben, ist er hingegangen, um andere Parlamentarier:innen von der Sache zu überzeugen. Er ist ein sehr guter Teamplayer, immer im Dienst der Partei.»
Das sieht man in den anderen Fraktionen etwas anders. Maurus Pfalzgraf, der mit ihm im Grossen Stadtrat, dem Kantonsrat sowie den städtischen Kommissionen für Wärmeverbünde und die SH Power sitzt, sagt, mit Brüngger Kompromisse zu finden, sei schwierig. «Sehr aktiv ist er in den Kommissionen sowieso nicht. Er kommt immer mal wieder zu spät und scheint schlecht vorbereitet. Das, was er dann mitbringt, ist schon vor allem seine vorgefasste politische Meinung, dass der Markt alles regelt. Wenn er Vorschläge nicht gut findet, kann er häufig nich konkret benennen, was anders sein müsste, damit er auch dabei wäre.» Dass Brünggers Meinungsbildung schwierig nachzuvollziehen und Kompromisse entsprechend schwierig zu schmieden sind, sagt auch noch ein anderer Kantonsrat, der lieber anonym bleiben möchte: Brüngger wirke unsicher und «so, als lasse er Vieles auf sich einprasseln und entscheide dann einfach irgendetwas».
Dass Brüngger mässig vorbereitet in Sitzungen kommt, sagen ebenfalls mehrere andere Politiker:innen, nicht nur Linke. Brüngger sagt, diese Aussage über ihn enttäusche ihn, und widerspricht: Er bereite sich sehr gründlich auf Sitzungen vor, fast zu gründlich.
Im Wahlkampf ist Brüngger Amslers Rat gefolgt und hat sich im Ton gemässigt. Mehrere seiner Posts sind mittlerweile von X verschwunden. Er verneint zwar, dass das mit dem Wahlkampf zu tun habe, und doch ist klar: Die Kante, die er in den letzten Jahren im Kanton als Sprungbrett genutzt hat, will er für den Ständerat schleifen.
Die zwei Freundlichen
Und der gemässigte Simon Stocker? Bei ihm gibt es quasi nichts mehr zu schleifen. Sein Werdegang zeigt es: Dieser moderate Reformpolitiker, der eigentlich viel zu angepasst ist für die Feministinnen und Jungen Grünen, die für ihn werben – das ist keine Wahlkampfmaske, sondern das ist der echte Simon Stocker.
Was keineswegs ausschliesst, dass er im Wettstreit um Stimmen auch intensiv mit Mitte-Rechts flirtet: Dass Simon Stocker es für richtig hält, dass die Schaffhauser Wirtschaftsförderung einer privaten Firma überlassen wird, ist authentisch. Dass er dies und die Ansiedlungserfolge dieser Firma bei einem Podium im Haus der Wirtschaft vor bürgerlichen Podium in seinem allerersten Satz herausstreicht, ist Anbiederung.
Auf genanntem Podium wirkt Severin Brüngger nervös. Er stockt und stolpert, während Stocker so routiniert spricht, dass es fast gelangweilt wirkt. Aber er spielt seine Erfahrung geschickt aus, widerspricht Brüngger zwar selten direkt, weiss stattdessen fast bei jeder Frage ein Ständeratsgeschäft oder ein Beispiel aus seiner Zeit als Stadtrat zu zücken.
Furchtbar nett sind beide miteinander. Stocker lobt die Fachkenntnis Brünggers im Altersbereich, und der einstige Scharfmacher Brüngger dankt Stocker für einen Vorstoss im Ständerat, «den hätte ich auch unterschrieben». Momentan versuchen offenbar beide, die letzten Unentschlossenen mit Freundlichkeit zu überzeugen. Dass das einem von ihnen leichter fällt, ist nur logisch. Denn auch damit hat Simon Stocker mehr Erfahrung.
