Cringe, aber frei

14. Mai 2025, Sharon Saameli

Fellkostüme, Kirschblütentee, Cosplay und androgyne Stars aus Japan: An der KitsuCon trifft Dorfrealität auf globale Popkultur.

Vor dem Reckensaal in Thayngen tollt ein Rudel Jugendlicher mit flauschigen Masken auf den Köpfen und Pfotenhandschuhen herum. Am Boden sitzend springen sie mit den Hinterbeinen kräftig in die Höhe und landen wieder auf den Vorderpfoten. Die Fuchsruten, die sie an der Hüfte tragen, peitschen mit der Bewegung mit. Manche kämpfen spielerisch miteinander oder machen Tiktok-Tänze für die Kamera, und als ein Influencer im weissen Fuchskostüm mit dem Namen «White Point» auftaucht, scharen sie sich um ihn. Der Mann, der sich als «Alpha» der Meute vorstellt (er ist wohl ihr Babysitter), blickt uns erschöpft an.

Dass die Furries – so heissen die Leute, die sich für Tiere mit menschlichen Zügen begeistern – jemals im beschaulichen Thayngen auffahren würden, hätte sich im Dorf wohl niemand träumen lassen. Dabei würde sich an diesem Wochenende in der Mehrzweckhalle noch viel mehr zusammenbrauen. Dort, wo sonst der Jodelklub Konzerte gibt und der Musikverein sein Chränzli, wo Blut gespendet wird und die Gemeinde über Baupläne informiert, da tummeln sich zwei Tage lang all jene, die der japanischen Popkultur verfallen sind: Animefans und Karaokesänger:innen, Matcha-Aficionados und Spielkartensammler, Gamerinnen und Cosplayer.

Wie gross diese erste Ausgabe der «Kitsu­Con» wird, die der Verein «­KitsuneDream» hier zum ersten Mal durchführt, realisieren wir erst, als immer mehr vorwiegend schwarz gekleidete, dramatisch geschminkte und gepiercte Menschen Trauben um den Eingang bilden. «Wisst ihr, ob die Stühle im Saal noch weggeräumt werden?», fragt uns einer von ihnen, «die werden sonst zum Sicherheitsrisiko».

Bühne frei für Cosplay

Immerhin am Nachmittag bleibt noch alles beseelt. Laut ist es im Reckensaal dennoch. Die Showgruppe «Lucky 13» führt ein Theaterstück vor, in dem sich verschiedene Anime-Figuren – für Kenner:innen: Naruto ist dabei und Sailor Moon, allerdings als Ork – zusammen das Spiel «Dungeons and Dragons» spielen (dazu mehr in der AZ vom 25. März 2025). ­Sailor Moon steht später am Stand der Showgruppe und stellt sich mit dem Namen Jonah vor. Cosplay sei für ihn eine «Olympiade der Kreativität», sagt Jonah. Schminken, Nähen, das Konzipieren und Spielen einer selbst ausgearbeiteten Rolle und eine Portion Detailversessenheit gehören zum Cosplay dazu.

So speziell das im Dorf anmuten mag: Von anderen Verkleidungsriten – etwa der Fasnacht – unterscheidet sich diese Praxis noch nicht unmittelbar. Anders ist sicher, dass es im Cosplay einen Haufen Regeln gibt: Diskriminierende Charaktere zum Beispiel sind nicht erlaubt.

Auch sind zahlreiche Waffen entweder ganz verboten oder nur mit stumpfer Klinge und runder Spitze erlaubt, und Requisiten wie Flügel, Stacheln und Schwänze dürfen eine gewisse Länge nicht überschreiten. Kleiner Zubehör wie Drachenhörner und Fuchsschwänze sind aber nicht bewilligungspflichtig – und besonders süss auszusehen auch nicht, wie wir bei der nächsten Station der Convention lernen.

Im Wunderland

Weiter hinten sind Metallgitter vereinzelt mit Kirschblütenzweigen dekoriert. Sie grenzen den Theaterbereich von der nächsten Station an der Convention ab: dem «Maiden Café». Hier gibt es Kirschblütentee und «Fuwa-ccino» – «Fuwa» heisst übersetzt «flauschig» – zu trinken, das Soda mit Melonensirup und einer Kugel Vanilleglacé kommt mit einem Pokémon-Zuckerfigürchen daher, und der «Wonderland Cake» wird auf Wunsch mit einem Zuckerglasur-Stift dekoriert. Hier soll alles vor allem eins sein: schnusig.

Zwei Maids mit Furry-Dekor.
Zwei Maids mit Furry-Dekor.

Akii und Inori begrüssen uns überschwenglich und bitten zu Tisch. Die beiden tragen rosa-weisse Kleidchen, die von der Taille stark abstehen. Unsere Bestellung belegen sie mit einem japanischen Zauberspruch und untermalen ihn, indem sie ihre Hände zu Herzen formen. Auch Akii und Inori heissen nicht richtig so – die Maids und Butler haben alle einen Alias und sogar eine Hintergrundgeschichte. Akii zum Beispiel ist ein mintgrüner Dinosaurier aus der Jurazeit, aber eben auch eine Gestaltwandlerin, die sich für den Tag in menschliche Form verwandelt hat. Das erklärt sie mit aufgeweckten Augen und zeigt auf das Stegosaurus-Handtäschchen, das um ihren Körper baumelt. Inori dagegen ist ein türkisfarbener Hermelin, der den Schnee liebt und verspricht, die Herzen seiner Gäste innert Sekunden zu stehlen. «All das ist typisch für Maiden Cafés, wie es sie in Japan schon immer gegeben hat», sagt Akii. Ihr gehe es bei diesem Hobby vor allem um Spass. Inori ergänzt: «Es ist eine schöne Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und etwas zu tun, was ich sonst nicht tun würde. Und es ist einfach gottlos herzig.»

Im Japanischen gibt es für die niedliche, liebenswerte Ästhetik einen Ausdruck: Kawaii. Kawaii ist, wer keinerlei negative Eigenschaften hat, wer bezaubert. Kawaii ist alles, was Kulleraugen hat, rosa ist und etwas kindlich. Es ist eine Ästhetik, die an der «KitsuCon» dominiert – auch am Markt ist vieles «gottlos herzig»: Man kann Mangas kaufen und gehäkelte Plüschtiere, Haarreifen mit Katzenohren, Ohrringe und Halsketten, Sticker und Pins, vieles davon selbstgemacht, auch Bilder und Bücher und diverses Cosplay-Zubehör.

Gleichzeitig wird gerade hier deutlich, dass die Convention noch in ihren Anfängen steht: Das Exzessive, das aufwändig Gebastelte, Glitzrige, das bisweilen Kitschige an Marktständen und an Dekoration der ganzen Convention wirkt auf dem immergleichen Ziegelboden und an der Holztäfelung der 50-jährigen Schweizer Mehrzweckhalle teils etwas verloren. Familiär und gemütlich solle die Convention aber bleiben, auch weitere Ausgaben, sagt Cyrill Möckli, Präsident des Vereins KitsuneDream. Dass sie in Thayngen stattfindet, hatte primär Kostengründe. Erfahrung für Grösseres hätte der Neunkircher aber: Möckli hat auch schon Cons für über 200 000 Menschen mitorganisiert, darunter die DoKomi in Düsseldorf. Derartige Verhältnisse will er hier nicht.

Dennoch kommt kurze Zeit später internationales Flair auf.

Glamour aus Tokio

Gegen 16 Uhr werden die düster gekleideten und stark gestylten jungen Menschen vor dem Eingang der Mehrzweckhalle unruhig. Auf Anweisung des Sicherheitsdienstes stellen sie sich in Zweierreihen auf. «Hört zu», ruft eine Sicherheitsfrau mit harter Stimme, «es dürfen jeweils zwei Personen mit mir mitkommen».

Im Untergeschoss wartet «DazzlingBAD» auf seine Fans. Die japanische Band hat heute ihren ersten Auftritt in ganz Europa – in Thayngen. Der Verein KitsuneDream zahlte ihnen Kost und Logis, für den Flug kam die Visual-Kei-Band selber auf. Für ihr Europadebüt sind Fans nicht nur aus der Schweiz, sondern aus Deutschland, England, Spanien, Tschechien und Polen, ja selbst aus Japan zum Reckensaal gereist. Zwei von ihnen, Roku und Kaori aus Japan, sind mit drei dicken Koffern für die drei Tage angereist – gefüllt mit verschiedenen Outfits.

Eine Anhängerin der «Visual Kei»-Szene. Fotos: Robin Kohler
Eine Anhängerin der «Visual Kei»-Szene. Fotos: Robin Kohler

Im «Visual Kei» geht alles um Ästhetik und Ausdruck. Das führt auch dazu, dass manche sich zwar gerne fotografieren lassen, aber dabei kein Wort sagen. Andere erzählen gern von ihrer Szene.

«‹Visual Kei› ist in den 1980ern unter Einflüssen des Glamrock, Goth und Punk in Japan entstanden», erklärt uns der Niederländer Val, der nach dem Fotoshooting mit der Britin Alex auf der Treppe sitzt und aufs Konzert wartet. Er trägt kniehohe Lackstiefel mit Absatz, einen schwarzen Tüllrock, ein Shirt mit Reissverschluss über die Brust und Lackhandschuhe – extravagant wie die meisten. Zeitweise sei die Szene zur absoluten Randerscheinung geworden. «Nun aber ist der Zugang zum japanischen Style und zu ‹Visual Kei› über Tiktok sehr einfach», sagt Alex. Der Stil ist auch durchwegs als Rebellion gegen Konformität und Geschlechterstereotypen zu verstehen. Viele Bands – auch DazzlingBAD – präsentieren sich androgyn, fast geschlechtslos. «Das ermutigt andere, es ihnen gleichzutun», sagt Val, «auch wenn die Gesellschaft selber noch sehr zweigeschlechtlich ist».

Epilog

Auf dem Heimweg finde ich das Social-Media-Profil von Jonah, der am Nachmittag als Sailor Moon auf der Bühne stand. Er schreibt: «I am cringe but I am free», frei übersetzt also: «Ich bin peinlich, aber ich bin frei.» Ein Satz, der über der ganzen KitsuCon stehen könnte. Wer die Zwänge von Norm und Normalität hinter sich lässt und die Scham mit ihnen, kann alles machen und werden: Drachen-Maid, Puppe oder Plüschfuchs.

Die erste «KitsuCon» in Thayngen dauert bis in die tiefe Nacht. Nach dem Konzert stellt sich der weisse Furry-Fuchs «White Point» hinters Dj-Pult – allerdings ohne seinen felligen Anzug. Mit den Pfoten könnte er das Mischpult nicht bedienen.