Die Sonderschule des Vereins Friedeck ist mitsamt ihrem Internat zugrunde gerichtet. Das Problem liegt laut zahlreichen Stimmen nicht zuletzt in der umstrittenen Geschäftsleitung.
Es waren nur eine Handvoll Worte, die das Ende einer Institution verkündeten: Der Verein Friedeck habe sich «vorwiegend aus finanziellen Gründen» entschieden, seine Sonderschule mit Internat per Ende Juli dieses Jahres nicht weiterzuführen, schrieb das Schaffhauser Erziehungsdepartement in einem Communiqué vor drei Wochen.
Nächstes Jahr wäre der Verein Friedeck 200 Jahre alt geworden. Anstatt einer grossen Jubiläumsschrift gibt es nun die karge Meldung zum Aus. 41 Arbeitsstellen und viele Kinder und Jugendliche sind betroffen. Hinter der kurzen Meldung steckt eine grössere Geschichte. Recherchen der AZ zeigen: Die Behörden hatten einen Kinderaufnahmestopp verfügt. Zuerst über das Internat, und kürzlich kam es auch bei der Schule des Vereins zu einer behördlichen Intervention. Die AZ hat in den vergangenen Wochen über ein Dutzend Gespräche geführt, darunter mit mehreren, zum Teil ehemaligen Angestellten des Vereins.
Es ergibt sich das Bild einer Abwärtsspirale unter einer umstrittenen Führung.
Der Aufnahmestopp
Der Verein Friedeck schliesst in der Bildungslandschaft des Kantons Schaffhausen eine wichtige Lücke. Er nimmt verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche auf, die sonst nirgends einen Platz finden. Die Leistungen umfassen vier verschiedene Bereiche, finanziert werden sie in erster Linie vom Kanton. Hauptsächlich betreibt der Verein eine heil- und sonderpädagogische Schule mit 28 Plätzen. Die einen Kinder und Jugendlichen besuchen zusätzlich die Tagesstruktur, die anderen wohnen im «Internat»: Letzteres ist eine sozialpädagogisch geführte Wohngruppe in Neunkirch (bis vor Kurzem gab es noch eine zweite in Gächlingen). Das vierte Angebot des Vereins ist die Time-Out-Klasse für Schüler:innen, die kurzzeitig Abstand von der Regelschule benötigen.
Offenbar war die Situation in der Friedeck schon länger schwierig, und zwar hauptsächlich im «Internat». Die alten Häuser in Neunkirch und Gächlingen entsprachen laut mehreren Personen aus dem Umfeld der Friedeck, mit denen die AZ gesprochen hat, nicht mehr den Standards. Die Räumlichkeiten waren zu eng und dunkel, die Treppen teils steil. Das habe im Alltag mit den psychisch stark belasteten Kindern und Jugendlichen immer wieder zu Konflikten geführt. Man sei für hochkomplexe Fälle, wie sie die Friedeck betreute, zu wenig ausgerüstet gewesen. So gab es vor Ort keine psychiatrische Betreuung. Wenn einer der jungen Klienten in den roten Bereich kam, wurde es oft heikel: Bis die Notfallpsychiater:innen aus Zürich vor Ort waren, dauerte es oft über drei Stunden.
Das Team, so die Personen, mit denen die AZ gesprochen hat, hätte sein Bestes getan. Doch offenbar waren die Mängel irgendwann zu gross. Das Sozialamt startete im Juli 2023 ein aufsichtsrechtliches Verfahren, wie es gegenüber der AZ bestätigt. Und zwar mit einem Knall: Die Behörde verhängte einen absoluten Aufnahmestopp über die Wohngruppen. Ein Aufnahmestopp ist eine überaus schwerwiegende Massnahme. Es seien verschiedene Meldungen zu grundlegenden Qualitätsmängeln im Hinblick auf das Kindeswohl eingegangen, schreibt das Sozialamt auf Anfrage. «Die Mängel betrafen sowohl die Betreuung, die Sicherheit sowie auch die medizinisch-therapeutische Versorgung der im Verein Friedeck platzierten Kinder.» Weitere Details gibt das Sozialamt nicht bekannt. Jedenfalls verordnete es der Friedeck verschiedene Auflagen, die erfüllt werden müssten, damit der Stopp aufgehoben würde.
Das gelang dem Verein nur wenige Monate später: Mit der «Verbesserung der Informationslage zum beanstandeten Sachverhalt» habe der absolute Aufnahmestopp Mitte September 2023 relativiert werden können, so das Sozialamt. Fortan galt ein Aufnahmestopp mit Ausnahmeregelung: Nun bestimmte das Sozialamt über die Platzierungen.
Die Situation blieb für den Verein also herausfordernd. Zur gleichen Zeit arbeitete sich eine neue Geschäftsleitung in die Unterlagen ein. Das neue Team sollte die Sonderschule und das Internat in ruhigere Bahnen lenken.
Das Gegenteil passierte.
Umstrittene Führung
Die AZ hat mit neun zum Teil ehemaligen Angestellten des Vereins Friedeck gesprochen, die meisten von ihnen wollen aus Angst vor Konsequenzen anonym bleiben (folgend nutzen wir für alle den Begriff «Mitarbeitende»). Unabhängig voneinander berichten sie von belastenden Zuständen. Der Grund dafür, so sind sie sich einig: die Geschäftsleitung.
Die administrative Leiterin Alice N.*, die sonst im Immobiliengeschäft tätig ist, trat ihre Stelle im April 2022 an. Im August 2023, nachdem das aufsichtsrechtliche Verfahren des Sozialamts startete, erhielt sie Verstärkung durch den pädagogischen Leiter Peter P., einem Mann vom Fach. Ihm wurde schliesslich auch die Gesamtleitung übertragen. Zusammen sollten sie den Laden so aufstellen, dass das Sozialamt den Aufnahmestopp aufheben würde. Mit Peter P. in der Geschäftsleitung drehte sich der Wind, so schildern es mehrere Mitarbeitende. «Von Anfang an wurde uns zu verstehen gegeben, die Schuld für die Misere liege bei uns», sagt einer. «Uns wurde vermittelt, wir seien alle inkompetent», sagt jemand anderes. Peter P. habe sich nie ein Bild der Situation gemacht, heisst es: «Er hat vom ersten Tag an vermittelt: Mit euch geht das nicht.»
Chef P. selbst beschreibt sein Vorgehen im Jahresbericht des Vereins so: «Wir haben einen weitreichenden Changeprozess eingeläutet.» Und weiter: «Zudem überarbeiten wir unsere Führungsgrundsätze und werden diese etablieren.»
Die Mitarbeitenden sagen, dieser «Changeprozess» sei intransparent vonstatten gegangen. Es sei unklar gewesen, was notwendig wäre, damit der Kinderaufnahmestopp aufgehoben würde und was dies von den Angestellten erforderte. «Das Personal wurde nicht eingebunden, es gab keine gemeinsame Strategie», fasst eine ehemals angestellte Person zusammen.
Stattdessen fing die Geschäftsleitung an einem ganz anderen Punkt an, die Dinge umzukrempeln. Sie zügelte in ein grösseres und teureres Büro im Mühlental in der Stadt. Sie investierte in umfassende IT-Massnahmen, so wurde etwa die erst kürzlich überarbeitete Website nochmals neu gemacht. Weiter stellte die Geschäftsleitung einen Kunsttherapeuten an, einen Bekannten von Chef P., und in den Liegenschaften wurden hochwertige Möbel entsorgt und durch neue ersetzt, so schildern es mehrere Personen. Das irritierte die Belegschaft, die das Gefühl hatte, das Problem werde vom falschen Ende her angepackt.
Die Situation spitzte sich weiter zu, als ein neuer pädagogischer Leiter im Sommer 2024 in die Geschäftsleitung eintrat: Michael J. J. stiess die Angestellten mit seinem rigorosen Auftreten und seinen Vorstellungen von Pädagogik massiv vor den Kopf. Die Mitarbeitenden sprechen von einem rigiden Regime: Der Alltag in den Wohngruppen sei streng durchgetaktet worden. Neu hätten alle Kinder und Jugendlichen bereits um 7 Uhr aufstehen müssen, selbst wenn gerade die Älteren wegen späterem Schulbeginn hätten ausschlafen können. Mehrmals am Tag hätten sich die Kinder und Jugendlichen zudem an Versammlungspunkten einfinden müssen. Die Sinnhaftigkeit solcher Massnahmen sei nie ausgewertet worden. Vieles davon, so sind sich die Mitarbeitenden der Friedeck einig, sei nicht zeitgemäss gewesen und die Eigenverantwortung der Kinder und Jugendlichen sei nicht mehr im Zentrum gestanden. «Es hat sich angefühlt, als wären wir wieder zurück in den 1960er-Jahren», sagt eine Person. Und eine andere: «Dem Team wie auch den Kindern gegenüber wurde dasselbe Gefühl vermittelt: Es geht um Strukturen, egal, wer auf dem Weg verloren geht.»
Es ist im Rückblick offensichtlich, dass es der neuen Geschäftsleitung nicht gelang, ihre Angestellten mitzunehmen. Das sieht auch Markus Eichenberger so. Der Schaffhauser Stadtschulrat hatte einst die Time-Out-Klasse in der Friedeck mit aufgebaut und dort 14 Jahre lang unterrichtet. Er kündigte im November 2023 wegen Differenzen mit der neuen Geschäftsleitung. Heute sagt er: «Die Geschäftsleitung hat das Leitbild des Vereins selbst nicht gelebt. Das ganze System hat an Tragfähigkeit verloren.»
Und auch zwischenmenschlich ging in diesen eineinhalb Jahren viel in die Brüche. Jemand resümiert: «Wäre uns gesagt worden, dass der Verein sich in einer schwierigen Situation befinde und dass die Geschäftsleitung uns alle im Boot brauche, hätte es anders ausgesehen. Die Leute waren motiviert. Doch mit diesem Umgang wurde ein funktionierendes Team zerstört.» Eine andere Person sagt: «Es wurde mit uns gesprochen, als ob wir alle wertlos wären.»
So kam es bei der Friedeck im vergangenen Jahr zu vielen Krankschreibungen und Kündigungen. Wer sich kritisch äusserte, habe sich schnell einen Verweis eingehandelt, sagen mehrere Leute. Verdiente Personen seien entlassen oder degradiert worden. Stattdessen seien Auswärtige hinzugekommen, welche die Geschäftsleitung persönlich kannte.
Das sagt die Geschäftsleitung
In der Friedeck lag also seit Jahren einges im Argen. Statt den Verein nach dem Kinderaufnahmestopp wieder in ruhigere Bahnen zu lotsen, hat die neue Geschäftsleitung die Abwärtsspirale des fast 200 Jahre alten Vereins weiter angekurbelt: durch einen autoritären Führungsstil, einen abwertenden Umgang mit dem Team und durch Misskommunikation.
Das ist die Sicht der Mitarbeitenden. Was sagt die Geschäftsleitung dazu?
Die AZ hat sie mit den Vorwürfen konfrontiert. Gesamtleiter Peter P. schreibt, die Geschäftsleitung und der Vorstand hätten ihr Handeln prioritär nach den behördlichen Auflagen ausgerichtet, aber nicht nur: «Wir von der Geschäftsleitung haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Wir bedauern, dass es uns nicht gelungen ist, den Verein Friedeck in eine positive Zukunft zu steuern. Es tut uns leid, wenn sich einzelne Mitarbeitende in dieser Zeit nicht wertgeschätzt, verunsichert und nicht gehört gefühlt haben. Wenn es uns nicht gelungen ist, unsere Werte wie Transparenz, Respekt, Korrektheit und Fairness, wofür wir einstehen, unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gleichermassen zu vermitteln.» Die Gründe für die Unruhen sieht er auch in der «existenziellen Unsicherheit des Vereins Friedeck» und in den «rigorosen Sparmassnahmen», die man in den letzten Monaten habe verkünden müssen. «Personalabbau und kommende strukturelle Veränderungen wurden von den Mitarbeitenden nicht nur positiv aufgenommen und führten zusätzlich zu Unzufriedenheit und Kündigungen.»
Vorstandspräsident Werner Scherler, der erst seit vergangenem November im Amt ist, betont gegenüber der AZ, dass mehrere Informationsveranstaltungen für das Personal stattgefunden hätten. Die Mitarbeitenden hätten die Streitpunkte gegenüber dem Vorstand nur am Rande thematisiert.
Bis zum Aus
Anfang 2025 kündigte ein grosser Teil des Lehrpersonals der Sonderschule, darunter auch der angesehene Schulleiter. Den verbleibenden Mitarbeitenden wurden im Zuge der Einführung eines neuen Personalreglements Änderungskündigungen vorgelegt. Eine Mitarbeitende sagt: «Man hat uns in Sicherheit gewiegt. Es hiess Anfang Jahr noch, wir seien auf Kurs.»
Tatsächlich aber war es der Geschäftsleitung nicht gelungen, die notwendigen Veränderungen für eine Auflösung des Aufnahmestopps umzusetzen. Und können die Plätze nicht besetzt werden, fliesst auch das Geld der öffentlichen Hand immer spärlicher. Die Situation war mittlerweile in allen Bereichen prekär geworden. Zwölf Stellen waren Anfang 2025 ausgeschrieben, gesucht wurde vor allem rares heilpädagogisches Personal. Schliesslich schaltete sich das Erziehungsdepartement ein und zog die Reissleine. Wie es auf Anfrage schreibt, seien aufgrund der unsicheren Lage «einzelne Aufnahmeprozesse zeitweilig ausgesetzt» worden.
Wenig später folgte das Aus. Die Geschäftsleitung informierte die Angestellten Ende März darüber, dass der Verein seine Angebote per 31. Juli einstelle. Alle Mitarbeitenden würden damit ihre Stelle verlieren. Und die Kinder – viele von ihnen traumatisiert und psychisch belastet – ihr Zuhause oder zumindest den Ort, wo sie zur Schule gingen und ihren Tag verbrachten. Doch ob und wie die Kinder informiert werden sollten, hatte sich die Geschäftsleitung offensichtlich nicht überlegt: Die Internats-Kinder erfuhren es noch am selben Abend durch das Personal. Und erzählten es am nächsten Morgen den anderen in der Schule.
Im vergangenen Herbst war der damalige Vorstand des Vereins Friedeck geschlossen zurückgetreten. Der ehemalige Vorstandspräsident Rolf Simmler ist bereit, mit der AZ zu sprechen. Er sagt, das Vertrauensverhältnis zwischen dem Kantonalen Sozialamt und dem Vorstand sei nicht mehr vorhanden gewesen. «Der Vorstand fühlte sich vom Sozialamt nicht mehr unterstützt. Die Anforderungen, die an uns gestellt wurden, waren sehr komplex und für uns als ehrenamtlich Tätige zeitlich kaum zu bewältigen.» Dass das Personal unzufrieden war, sei auch dem Vorstand teilweise bekannt gewesen, daher seien gewisse Entwicklungen für ihn auch nicht überraschend. Die Personalentwicklung und -führung sei aber Aufgabe der Geschäftsleitung, deswegen habe sich der Vorstand nicht einmischen wollen.
Offenbar war dem alten Vorstand die Sache über den Kopf gewachsen.
Wie so oft scheint es sich beim Scheitern des Vereins Friedeck um eine Mischung aus strukturellen Problemen und Führungsversagen zu handeln. Was bleibt: der Scherbenhaufen einer etablierten, fast 200-jährigen Organisation.
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Wie geht es weiter?
Für die Kinder, die im Internat wohnten, wird ausserkantonal nach Lösungen gesucht. Das betrifft drei der sechs Kinder, die aktuell noch dort wohnen. Die anderen drei beenden ihre obligatorische Schulzeit im Sommer, wobei ein Teil von ihnen aber ursprünglich ein zehntes Schuljahr in der Friedeck in Betracht zog. Das ist nun nicht möglich, das Internat wird nicht weitergeführt. Die anderen drei Angebote (Sonderschule, Time-Out-Klasse, Tagesstruktur) hingegen werden von den Sonderschulen Schaffhausen übernommen, wie das Erziehungsdepartement mitteilte. Die Sonderschulen sind eine selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt des Kantons. Sie seien nun unter Hochdruck daran, die Übernahme zu prüfen, so dass die Kinder und Jugendlichen nach den Sommerferien nahtlos weiter zur Schule gehen können, so das Erziehungsdepartement. Wo das sein wird, ist noch unklar. Auch für das Personal des Vereins bestehe die Möglichkeit, bei den Sonderschulen Anstellung zu finden. Die Immobilien gehören dem Verein. Was mit den Anlagen des fast 200-jährigen Vereins passiert und mit der dahinterstehenden Stiftung, bleibt offen.