Der Schaffhauser Lyriker Markus Waldvogel hat mit dem Fotografen Peter Blaser einen Gedicht- und Bildband herausgegeben. Dabei zeigt sich auch, wie schnell sich Naturpoesie in heikle Gebiete begeben kann. Von Jonas Frey.
Wenn man über das Verhältnis von Mensch und Natur spricht, kann vieles gleichzeitig wahr sein. Unter dem Naturbegriff versteht man alles, was nicht von Menschen geschaffen wurde – und doch sind Menschen Teil der Natur. Jene ist sowohl Lebensgrundlage der Menschen als auch ihr Feind. Um die Folgen der Klimakatastrophe abwenden zu können, brauchen Menschen ein anderes Verhältnis zur Natur, jedoch vor allem, um die Gewalt der Natur zu bezwingen. Unberührte Landschaften sind an Friedlichkeit kaum zu überbieten – Erdbeben reissen ohne Vorwarnung Zehntausende Menschen in den Tod. Dass es auch andere moralische Lebewesen gibt als die Menschen, zeigt die soziale Interaktion eines Honigbienenvolkes. Das Zusammenleben der Meerestiere ist ein Gemetzel.
Wie verhält sich diese Ambivalenz nun, wenn Lyrik über Natur spricht? Welche Position nimmt man als Dichter:in ein? Auf diese Frage gibt der neu erschienene Gedicht- und Fotoband «Der Schatten einer Fledermaus» des aus Schaffhausen stammenden Lyrikers Markus Waldvogel und des Fotografen Peter Blaser schon im Vorwort eine erste Antwort: «Wir wurden unterwiesen von der Lage der Dinge», schreiben die beiden, die über Jahre hinweg unter anderem «Bäumen, Flüssen, Parks, Wolken und Seen» nachspürten. Kurz: Es gehe darum, sich in der Beobachtung der Natur von deren Erscheinungen führen zu lassen. Nature Writing nennt sich dieses Genre, das sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit erfreut.
Auf 231 Seiten korrespondieren Kurzgedichte jeweils in der deutschen Originalfassung und der französischen Übersetzung von Nicole Durot mit intensiven Schwarz-Weiss-Fotografien. In den Gedichten geht es mal um den Kiesel im Rhein, dann um die Konturen des Herbstes, den Duft des Sommerabends, den Flug der Libellen, sprechende Blüten und die Ohnmacht des Menschen gegenüber der Natur. Die Gedichte sind realistisch, leidenschaftlich und impressionistisch verfasst und immer – entgegen dem Ruf der Gegenwartslyrik, verschlüsselt und unverständlich zu sein – in sehr klarer, nahbarer und plastischer Sprache.
Es gibt verschiedene Arten, wie man Lyrik lesen kann. In einer davon steht das Gedicht für ein Rätsel, ein Zeichensystem, das es zu lösen gilt. Steckt in den aufgemachten Bildern etwa das Geheimnis einer Biographie, einer Moral, einer Zeit? Hier ist Lyrik Forschungsarbeit, Kulturgeschichte und Diskurs. Eine andere Möglichkeit, Gedichte zu lesen, ist jene des konzentrierten Erlebens. Man setzt sich hin, schaut ganz lange und genau, welche Phänomene sich aus den Wörtern zusammensetzen, in welche Stimmung man durch sie gerät. Das Gedicht verkommt während der Lektüre zu einer Zusammenballung der Realität und damit zu ihrer Hinterfragung.
Über Markus Waldvogel
Markus Waldvogel wurde 1952 in Schaffhausen geboren. Er war als redaktioneller Mitarbeiter bei der AZ und bei den Schaffhauser Nachrichten tätig. Heute lebt er als Autor und Philosoph in Evilard bei Biel. Er arbeitet unter anderem für die Literarische Biel, ist Begründer der Bieler Philosophietage und Moderator des Café Philo Fledermaus. Er schreibt Essays, Kolumnen, Sachbücher und Poesie.
Für die bestmögliche Lektüre von «Der Schatten einer Fledermaus» bietet sich zweitere Methode an. Denn die prägnante Form der Texte in Austausch mit den Bildern lädt ein, zu verweilen, sie mehrmals zu lesen, genauer zu werden. Den stärksten Eindruck im Band hinterlassen jene Gedichte, die Naturbeschreibung auf eine sprachlich direkte, metaphernarme und dadurch zärtliche Weise betreiben. «Die Schatten der Liegestühle / zeigen nach Nordost / der Hahn kräht im Nachbarsgarten / ein Lufthauch im verwilderten Park / Hinter den Giebeln schlägt es halb vier / vor der Küche / tschilpen drei Spatzen / ein kühles Glas noch / und der Tag geht dahin».
Diese Zeilen lesen sich, als ob das Gedicht ein impressionistisches Gemälde wäre, das eine Stimmung in einem flüchtigen Moment einfängt. Sie kommen weitgehend ohne Mensch aus. Auch wenn über einen verrosteten Zaun im schweren Schnee und Dämmerlicht gesprochen wird, über den zwei Gänse fortfliegen, erinnert das an einen gerahmten Monet im Museum. Ein paar Seiten später wird man tatsächlich von einem Bild abgeholt, jedoch ohne Farben. Es ist eine Fotografie Peter Blasers.
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Dann gibt es auch üppigere Gedichte von Waldvogel: «Tausendfaches Gelispel / von Hafer Senf und Korn / abgemähte Felder / wo zwei Falter sich verfolgen / im Duft des Abends.» Die Räume zwischen den Zeilen fordern auf, sie mit Fragen zu füllen. Woher kommt das Gelispel, das ich im Brummen der Insekten erkenne und weshalb finde ich es schön? Ist es, weil ich eine Ähnlichkeit zwischen Natur und Mensch beobachte?
Im Unterschied zu den Fotografien kommen viele der metaphernreicheren Gedichte allerdings selten bis gar nie ohne Mensch aus – und an manchen Stellen ist das auch gut so. Zum Beispiel, wenn Mitleid thematisiert wird, das man bei der Betrachtung von Insekten empfindet: «Eine Biene / mit nur einem Flügel / zitternd unterm Lavendel / zieht in mein Herz um». Ein Fünfzeiler zum weinenden Gletschersterben, dem Verklingen einer «jahrhundertealte[n] Melodie» zeigt, wie ein Aufspüren menschlicher Attribute in der Natur gelingen kann. Es sind jene Stellen, wo man Eindrücke über das praktische Verhältnis von Kunst und Natur erhält, das oft auf Flüchtigkeit basiert. Kaum schaut man hin, ist die Fledermaus wieder weg, wie’s im Titelgedicht steht. Was bleibt, ist ein Schatten – eine Erinnerung, an die man sich heftet. Man sieht immer nur die Hälfte des Ganzen.
Die konzentrierte und auf das Erleben fokussierte Lektüre von «Der Schatten einer Fledermaus» steckt also voller zärtlicher Momente. Entscheidet man sich jedoch für die erste Lesemethode, also dazu, einen verborgenen Sinn in den Texten zu suchen, provoziert «Der Schatten einer Fledermaus» einige kritische Einwände. Nature Writing kann sich in gefährliche Gebiete begeben, wenn es das Leben der Menschen in einen vergleichenden Zusammenhang mit der Natur stellt, wenn Natur mystifiziert und überhöht wird. So begibt sich auch Markus Waldvogel dann und wann auf einen Pfad, der vom schlechten Menschen zur moralischen Natur weist.
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Eines der Leitmotive in Waldvogels Gedichten sind Nachrichten: schlechte Meldungen über Entwicklungen in der Welt, wie wir sie jeden Tag lesen. Über manche Strecken entsteht eine Stimmung der allzu einseitigen Zivilisationskritik, in der die verwerflichen Handlungen der Menschen – symbolisiert durch die Nachrichten – im Gegensatz zur Idylle der Natur stehen. Auf der einen Seite gerät alles aus den Fugen, auf der anderen – im Garten, «wo’s friedlich grüsst» – ist «alles im Lot». So nachvollziehbar das Entsetzen gegenüber dem gegenwärtigen Weltgeschehen ist: Die Frage nach den Abgründen auf der Gartenoberfläche selbst bleibt ungestellt. Das Bild einer vom Menschen unbefleckten Natur kommt an manchen Stellen verherrlichend daher. «Die Sterne befällt ein Frösteln / wenn sie in den menschlichen Abgrund sehen», heisst es beispielsweise in einem Gedicht. In einem anderen wird das Verhältnis Kosmos-Mensch anhand einer Wachstumskritik noch radikaler aufgemacht: «Der Nachthimmel beruhigt die Raffenden nicht / und weder Ebbe noch Flut / können sie bremsen». Und an anderer Stelle heisst es: «Die leere Muschel / weiss mehr vom Leben / als alle Nachrichtensprecher».
Ist man auf der Suche nach dem tieferen Sinn im Gedicht, erhält man in solchen Zeilen den Eindruck, als sei der Mensch ein amoralischer Fremdkörper in einem durch und durch guten System. Der Garten, der Kosmos, der Nachthimmel, die Muschel – diese Elemente der Natur verkommen zu einer Projektionsfläche dessen, was der Mensch offenbar nicht sein kann: friedliebend, in sich ruhend, demütig, allwissend. Die ganze Wahrheit erzählt eine solche Polarität zwischen Mensch und Natur nicht. Bis auf eine kleine Stelle, wo die «Sonne ihr Regime» aufzieht, spielt Herrschaft, Schrecken und Gewalt in der Natur keine Rolle. Die Abwesenheit von Moral in Vulkanausbrüchen, das willkürliche Morden in Wäldern und Ozeanen, die Lebensunfähigkeit im Kosmos – das alles fällt in den Gedichten hinter einen einseitigen Begriff von Natur zurück, der aus Betrachtungen Mythos macht. Auch die Tatsache, dass der Mensch ein Teil der Natur ist und deshalb der Begriff von Natürlichkeit an sich fragwürdig ist, fehlt damit.
Vielleicht hat Waldvogel diesen Einwand mitbedacht. So lautet ein Gedicht gegen Ende: «Natürlich gibt’s in der Natur / nicht nur die / Nabelschnur / Es gibt die Flocken / des Winters / die Blüten danach / fallende Blätter / und Früchte / Die Nähe zu allem / bindet uns ein / Ich trinke / ein Glas / vom ewigen Wein.»
Es sind versöhnliche Zeilen.