Götter töten und andere Spässe

31. März 2025, Sharon Saameli
Kevin, Nicolas, Martina, Patrick und Yasmin (v.l.n.r.) mitten im neuen Dreh-Set für die neuste Show. Fotos: Robin Kohler
Kevin, Nicolas, Martina, Patrick und Yasmin (v.l.n.r.) mitten im neuen Dreh-Set für die neuste Show. Fotos: Robin Kohler

In einem versteckten Studio in Schaffhausen spielt eine Gruppe Freund:innen Rollenspiele und streamt sie ins Netz. Warum?

Glut Mulchschaufler ist ein Wesen des Untergrunds und will das nicht bleiben. Denn seit sie im Abfall die Heldenfabeln von Titania Drachenherz entdeckt und die Geschichten verschlungen hat, ist sie der Idee verfallen, selber zur Heldin zu werden. Darum verlässt sie ihr Zuhause, die Kanalisation, mit einem Morgenstern in der einen Klaue und einem Schild (den sie aus ihrem Lieblingsbuch gebaut hat) in der anderen. Gluts grösste Angst sind nicht Werwölfe oder Katakomben, sondern als nicht ritterlich und edel wahrgenommen zu werden.

Gut, dass der drachenartige Kobold auf das «Bunte Rudel» stösst. Denn die quirlige Gruppe hat ein einziges Ziel: die Welt vor Dämonen, Drachen und anderen diabolischen Abgesandten zu retten. Und das ist bitter nötig. Denn der Kontinent Oreillin, auf dem das Rudel lebt, ist kein sicherer Ort. Es ist eine Welt, die eigenen Regeln folgt und sich in den Köpfen rund um einen Spieltisch in Schaffhausen entfaltet. Kurz: Sie ist eine Schöpfung der Diceons.

Die Diceons – der Name ist eine Wortentlehnung von «dice», englisch «Würfel» – sind eine Gruppe Freund:innen, die zusammen in Schaffhausen das Rollenspiel Dungeons and Dragons (kurz DnD) spielen. Das machen in der Schweiz zwar viele. Aber die Diceons zeigen ihre Abenteuer auf verschiedenen Kanälen im Netz und sind somit landesweit einzigartig. Seit der Prolog zur Geschichte vor bald vier Jahren online ging, veröffentlichen die Spieler:innen jeden Sonntag rund eineinhalbstündige Episoden. Seither kamen Charaktere dazu, andere gingen, neue Städte und Gesetze und Abenteuer haben sich entfaltet. Wer die Gruppe kennenlernt, das Set sieht und das, was darin entsteht, merkt sofort: Hier sind Leute mit enorm viel Fantasie und Liebe für die Sache am Werk.

Aber warum machen sie das überhaupt?

Die Würfel fällen das Urteil

Als die AZ am vergangenen Wochenende im kleinen Studio vorbeischaut, ist gerade Umbauzeit. Alle paar Monate verlässt das «Bunte Rudel» das laufende Abenteuer und schreibt stattdessen eine Kurzgeschichte. Und die braucht ein neues Set. Dieses Mal geht es um Hexen, und so liegen auf dem Spieltisch zwischen Klebebandrollen, Heissklebepatronen und Plastikkerzen verschiedenste Requisiten verteilt: bauchige Kugelflaschen mit glitzrigen Zaubertränken, die «Dragon’s Breath» heissen, Verletzte heilen oder die Lebensenergie aufladen; Bücher mit verwunschenen Gravuren; eine Schatztruhe mit Münzen; Miniaturdrachen und ein Totenkopf; und natürlich Würfel: Sechser, Achter, Zehner, Zwanziger.

Die Würfel sind der Herzschlag des Rollenspiels. Mit ihrem Ergebnis fällt auch das Urteil über Erfolg oder Misserfolg einer Aktion. Trifft ein Hieb den Drachen oder prallt er von den Schuppen ab? Fällt der böse Prinz auf den Bluff der Gruppe herein? Schafft es die Heldin, dem magischen Blitzschlag auszuweichen und den Gott zu töten?

Nicolas hinter den Spielfigürchen, welche die Held:innen der Diceons darstellen.
Nicolas hinter den Spielfigürchen, welche die Held:innen der Diceons darstellen.

Das Universum befolgt einen Haufen Regeln – das Abenteuer selbst schreiben aber die Spieler:innen. Das beginnt damit, sich einen Charakter wie Glut Mulchschaufler zu erstellen. Glut gehört Martina, die auch das neuste Hexenabenteuer verantwortet. Kevin spielt den Mönch Linus, Yasmin die Magierin Patzer, Mira die Halbelfe Lia, Julian spielt Dimitri, den Goliath, und Pascal den Menschen Sven (ja, es gibt auch Menschen im DnD-Universum). Alle haben einzigartige Fähigkeiten, Eigenschaften und Stärken. «Die meisten von uns arbeiten gern mit Flaws, gehen also davon aus, welche Probleme ein Charakter mitbringt, was er nicht kann», sagt Kevin. Dies diene dem Drama, dem Konflikt – also der Geschichte.

Der «kleine Tolkien»

Denn das ist es, was die Diceons in ihren eigenen Worten tun: Geschichten erzählen. «Es ist, als würdest du ein Buch lesen, aber du bist die Figur im Buch und sagst, was du tun willst», sagt Nicolas. Ihm, der von der Gruppe als «kleiner Tolkien» bezeichnet wird, kommt eine besondere Rolle zu: Als Spielleiter erschafft und beschreibt er die ganze Welt, in der das «Bunte Rudel» sich bewegt. Denn «Dungeons and Dragons» liefert zwar das Multiversum, das aus verschiedenen Existenzebenen wie der Feenwildnis, dem Schattensaum oder dem elementaren Chaos bestehen. Eigene Welten bauen sich die Spieler:innen darin trotzdem. Der Kontinent Oreillin, die Stadt Eilon und ihre Historie, all das entstammt der Fantasie von Nicolas. Seine Aufgabe ist es zudem die Spieler:innen durch die Geschichte zu führen. Er erzählt nicht nur, in welcher Welt und Situation sich die Held:innen befinden, sondern auch was sie – basierend auf den Würfeln – erleben. Das klingt dann etwa so (aus Episode 77 der Kampagne, «der Herr der Jagd»):

Nicolas: Gerüchte über einen Drachen und verschwundene Bekannte haben das «Bunte Rudel» dazu bewegt, den Wildhainwald, den Trollberg und das Grab von Abnoba aufzusuchen. Nachdem sie vier Prüfungen absolviert haben und Stärke, Glauben, Wurzeln und Herz bewiesen haben, stehen sie jetzt vor dem Übeltäter der ganzen seltsamen Vorkommnisse Wildhainwaldes: einem gefallenen Engel. Die Flügel krude abgeschnitten steht er vor euch, und bei euch dabei: Corvo, der erste Jäger, der ebenfalls schon seit längerem mit den Vorkommnissen im Wildhain konfrontiert war und diese zu lösen versuchte. Kurzzeitig von dem Wesen, das jetzt vor euch steht, übernommen, begrüsst es jetzt Corvo auch freundschaftlich (er schlüpft in die Rolle des Wesens): «Hallo Corvo.»
Gusi (spielt Corvo): Es ist wahrscheinlich kein grosses Geheimnis, wer mich übernommen hat.
Nicolas: «Verrückt: Die Erinnerung, sie kehrt langsam zurück, nicht? Es ist mir gleich ergangen, seitdem du mich gerettet hast. Ich habe sogar deinen Namen vergessen. Das tut mir leid.» (Er springt zurück in der Rolle des Erzählers) Du siehst eine Träne, die ihm die Wange runterläuft.
Gusi: Was bist du?
Nicolas (als Wesen): «Ich bin Jerezej, Seraphin der ersten Ordnung von Lunia, Wächter des Silbersees, Heilige Faust Serefes und Diener Alators. Ich hatte Alator versprochen, dass ich wachen werde über die gefangenen Dämonen des Kupferkonkordates. Als ich erfahren habe, dass ein Diener der Weberinnen kommen konnte, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht. Ich bin in eure Welt zurückgekehrt. Aber ich wusste nicht, wie sehr sie sich in meiner Abwesenheit verändert hat.» Er blickt umher. «Als ich das letzte Mal hier war, waren die Toten in diesem Grab noch am Leben und dieser Ort gerade frisch erbaut. Ich nannte diese Leute meine Freunde und ihre Hallen sogar kurzzeitig mein Zuhause. Denn sie haben mich trotz unserer Unterschiede liebevoll bei sich aufgenommen, haben mir von ihren Taten erzählt, von ihrem Gott Ymir. Jetzt sind von ihnen an diesem Ort nur noch Gebeine übrig, ihre Taten vergessen, und ihr Gott Ymir wird von euch verkannt, seine Gesetze mit Füssen getreten.»

Die Hälfte der Arbeit eines Spielleiters sei Vorbereitungsarbeit, sagt Nicolas, die andere Hälfte sei Improvisation. «Die Kunst ist, die Spieler:innen nie wissen zu lassen, was was ist.» Wie sich die Charaktere bewegen, steuert er allerdings nicht. «So kommt es auch mal vor, dass ich eine Stadt komplett durchdenke und gestalte, aber das Rudel dann sagt, dass es dort nicht bleiben will. Diese Möglichkeit zu haben, ist zentral.» Wichtig sei ihm auch die Ethik des Spiels: Als Spielleiter ist er im permanenten Dialog mit den Spieler:innen. Themen und Genres, welche sie ablehnen, wolle er aktiv vermeiden – es geht um den Spass aller.

Dabei drückt auch der inklusive Anspruch von Dungeons and Dragons durch: Es vereint Menschen am Tisch, die zusammen etwas erleben wollen. Dadurch müssen die Hürden tief genug sein, damit niemand ausgeschlossen wird – aber das Spiel gleichzeitig anspruchsvoll genug, dass der Reiz bleibt. «Vielen von uns geht es darum, sich auszuprobieren, Ideen auszuleben, die man im echten Leben nicht umsetzen kann», sagt Yasmin.

Zusammen Grosses erleben

Eskapismus ist also ein Aspekt, der Dungeons and Dragons so attraktiv macht: Alles sein und alles machen zu können, was in der physischen Welt keinen Platz hat, war den Spielemachern vor 50 Jahren ein grosses Anliegen. Das Spiel ist das erste dieser Art und hat heute eine deutlich breitere Fangemeinschaft – auch, weil es sich in der Popkultur niedergeschlagen hat. Serien wie «Stranger Things» und «The Big Bang Theory» verhalfen dem Gemeinschaftsspiel zu mehr Popularität, und 2023 ist gar ein Film erschienen, der auf dem Spiel basiert und bisher über 200 Millionen Dollar eingespielt hat. Das zeigt auch, dass Dungeons and Dragons die moralische Panik, die sich vor allem in den 1980er-Jahren um das Spiel aufgebaut hatte, zu grössten Teilen hinter sich lassen konnte. In den USA erreichen Gruppen, die live spielen, ein Millionenpublikum.

Das bringt auch den zweiten Aspekt ins Spiel, den die Diceons immer wieder betonen, wenn sie über ihr Hobby sprechen: Gemeinsam Geschichten entwickeln, das Abenteuer gemeinsam bestreiten, mit den anderen mitfiebern, mitfühlen und mitdenken schafft eine Basis für Gemein- und Freund:innenschaft.

Warum das Ganze auch online stattfindet? Für die Diceons gibt es vor allem einen Grund: dem zusätzlichen Kick, auch anderen zu zeigen, was man kann – Geschichten erzählen, schauspielern, aufwändige Sets bauen, Kameras bedienen, Musik komponieren, Kostüme schneidern. «Wir feiern einfach das ganze Spiel», sagt Nicolas, «und darum finden wir es toll, die Geschichten einem weiteren Publikum zugänglich zu machen.» Martina, die das kommende Hexenspecial leiten wird, ergänzt: «Anders könnte man den Aufwand, den wir in dieses Hobby stecken, kaum rechtfertigen.»