Simon Stocker ist nicht mehr Ständerat: Das Bundesgericht hebt seine Wahl in einem historischen Urteil auf. Der abgesetzte Ständerat im ersten Interview nach dem Entscheid.
Das ist passiert
Das Bundesgericht hebt die Wahl von Simon Stocker mit seinem Urteil vom 24. März 2025 per sofort auf. Die Vorinstanzen hatten diese Wahl noch gestützt. Das Bundesgericht begründet seinen Entscheid damit, dass Simon Stocker seinen Lebensmittelpunkt schlicht nicht in Schaffhausen gehabt habe und es nicht – wie das Obergericht entschieden hatte – sowohl einen zivilrechtlichen als auch einen anderen politischen Wohnsitz geben könne.
Auch genüge es nicht, dass Stocker eine «hinreichend enge» Beziehung zum Kanton pflegte, um diesen im Ständerat vertreten zu können. Dies hatte das Obergericht ihm attestiert; das Bundesgericht hält dazu aber fest, dass die Kantonsverfassung eine Wohnsitzpflicht vorsehe. Zwar sei ersichtlich, dass die Familie ihren Wohnsitz «in naher Zukunft» nach Schaffhausen habe verlegen wollen. «Nicht ersichtlich ist hingegen, dass er am Wahltag in Schaffhausen über einen von seiner Familie getrennten Wohnsitz verfügte und seinen Lebensmittelpunkt bereits dahin verlegt hatte.» Das Bundesgericht stützt sich darauf ab, dass die Familie die grössere Wohnung in Zürich hatte und primär dort gelebt habe. Auch habe Stocker «mehrheitlich» in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs gearbeitet.
Es wird allerdings nicht wie vom Beschwerdeführer gefordert der bei den Wahlen im November 2023 zweitplatzierte Thomas Minder als Ständerat eingesetzt, sondern es werden Neuwahlen angesetzt. Zudem behalten Stockers bisherige Handlungen als Ständerat ihre Gültigkeit; seine Wahl wird nicht per Wahltag, sondern per Urteilstag aufgehoben.
Die Staatskanzlei teilte am Mittwochmittag mit, dass der Termin für die Neuwahlen auf den 29. Juni 2025 gesetzt wird.
AZ Simon Stocker, wie geht es Ihnen gerade?
Simon Stocker Nach über einem Jahr als Ständerat muss ich auf Feld eins zurück. Im ersten Moment war ich geschockt. Aber ich fühle keinen Groll, und ein Stück weit bin ich erlöst. Die letzten eineinhalb Jahre waren belastend. Jetzt steht wieder ein Wahlkampf an. Ein solcher ist natürlich auch immer anstrengend.
Das Bundesgericht hat Ihre Wahl aufgehoben, die Stimmen von 15’769 Schaffhauser:innen werden ungültig. Wer ist dafür verantwortlich?
Ich akzeptiere dieses Urteil. Aber die Grundlage dafür ist ein veraltetes Familienbild.
Sehen Sie auch Verantwortung bei sich selbst?
Nein. Man führt sein Leben, und häufig kommt es anders als geplant. Ich würde nichts anders machen und habe erst recht nichts falsch gemacht.
Sehen Sie eine Verantwortung bei Ihrer Partei, der SP Schaffhausen?
Nein, null und nichts.
Bei der Staatskanzlei, die Sie zur Wahl zugelassen hat?
Auch nicht.
Aber jemand ist doch dafür verantwortlich, dass Sie als Ständerat gewählt wurden, obwohl Sie gemäss Bundesgericht nicht wählbar waren.
Man weiss ja bis zu einem gewissen Grad, wer die Stimmrechtsbeschwerde angestrebt hat. Meine Partei, ich und auch alle anderen sind davon ausgegangen, dass Ehepartner:innen verschiedene Wohnsitze haben können. Das Bundesgericht hat nun anders entschieden. Niemand hat einen Fehler gemacht.
Spielen Sie auf die Indizien an, dass Personen aus dem nahen Umfeld von Thomas Minder hinter der Stimmrechtsbeschwerde gegen Sie stecken?
Ich nenne keine Namen. Die Medien haben aufgearbeitet, was die Motivationen verschiedener Akteure hinter der Stimmrechtsbeschwerde gegen meine Wahl waren. Daraus ist für mich das Bild entstanden, dass die Einreichung dieser Stimmrechtsbeschwerde nicht «natürlich» abgelaufen ist.
Hatten Sie selbst vor der Wahl Abklärungen gemacht, ob Ihre Wohnsituation ein Problem sein könnte?
Wieso hätte ich das tun sollen? Halb Schaffhausen wusste um meine Wohnsituation.
Sie sprechen von einem veralteten Familienmodell, das die Grundlage für den Bundesgerichtsentscheid legt.
Es ist heute nicht mehr unüblich, das Ehepartner:innen an verschiedenen Orten wohnen. Jemand will an einem Ort arbeiten, der oder die andere an einem anderen Ort. Das ist heute sicher häufiger als noch vor ein paar Jahren. Auch unter Politiker:innen gibt es viele, die das Familienleben nicht mehr strikt traditionell gestalten, rechts wie links auf dem politischen Spektrum. Diesem Umstand trägt das Urteil des Bundesgericht keine Rechnung. Es sagt ganz im Gegenteil, dass der Wohnsitz von Ehepaaren immer am selben Ort sein muss. Wären wir nicht verheiratet, wäre das alles kein Problem gewesen.
Das stimmt so nicht. Im Urteil steht, dass auch Ehepartner:innen getrennte Wohnsitze haben können. Allerdings müssten sie dafür tatsächlich an verschiedenen Orten wohnen. Bei Ihnen hatte allerdings schon das Obergericht festgestellt, das Sie mehrheitlich in Zürich übernachtet und zum Zeitpunkt der Wahl dort gewohnt haben.
Die Gerichte stützen ihre Beurteilungen auf «hard facts» ab – also auf die Wohnungsgrössen und die Anmeldungen bei den Gemeinden. Diese «hard facts» sind, wie sie eben sind. Aber das Leben, das ich und meine Frau führen, besteht aus viel mehr. Es ist ein aufwändiges Leben, weil wir beide unsere Bedürfnisse haben, die wir wahrnehmen wollen. Da kann kein Gericht hineinblicken. Das Bundesgericht spricht uns jetzt ab, dass wir unser Leben individuell gestalten können. Der eigene Lebensweg wird mir entrissen.
Zum Zeitpunkt der Wahl hier zu wohnen, ist nunmal die Voraussetzung, um als Schaffhauser Ständerat gewählt zu werden.
In den letzten eineinhalb Jahren musste ich den Medien gegenüber ständig unser Modell rechtfertigen. Es ist schon bedenklich, dass öffentlich verhandelt wird, wo ich jetzt genau wie viele Nächte geschlafen habe. Was hat das mit Politik zu tun? Unsere Woche zum Zeitpunkt der Wahl sah so aus, dass unser Sohn Theo von Montag bis Donnerstag in Zürich in der Kita war. Dazwischen sind wir nach Schaffhausen gekommen. Von Montag bis Donnerstag habe ich mein Leben jeweils unterschiedlich gestaltet, keine Woche war wie die andere. Und von Donnerstag bis Montag waren wir in Schaffhausen. Hier ist mein Lebensmittelpunkt, ich habe meine Familie hier und bin hervorragend vernetzt. Ich finde es grotesk, dass mir das abgesprochen wird.
Sollte der Kanton denn Ihrer Meinung nach die Voraussetzung aufheben, dass ein Ständerat bei seiner Wahl im Kanton stimmberechtigt sein muss?
Nein. Das Problem ist, dass die Fälle, in denen Ehepartner:innen verschiedene Wohnsitze haben dürfen, zu eng definiert sind. Das müsste man ändern. Dafür muss man nicht das kantonale Wahlgesetz ändern.
Was wäre aus Ihrer Sicht ein gutes Kriterium dafür, damit jemand im Kanton Schaffhausen Ständerat sein darf?
Ich war 42 meiner 44 Lebensjahre hier, ich habe mich gesellschaftlich und politisch engagiert, exponiert und eingesetzt. Ich wurde von den Schaffhauser:innen in den Stadtrat gewählt. Da frage ich mich schon, was ich denn sonst noch mitbringen muss.
Gab es im Hintergrund bereits Vorbereitungen für die Neuwahlen?
Nein, wir waren alle überrascht von diesem Urteil und mussten erst zusammensitzen und besprechen. Aber jetzt ist das Team bereits wieder im Modus: «Denen zeigen wir es.»
Ihre Wahl war neben einer sehr guten Kampagne sicher auch der spezifischen Situation und einem angeschlagenen Gegenkandidat geschuldet. Wie schätzten Sie Ihre Chancen ein, bei den Neuwahlen wiedergewählt zu werden?
Schon bei den Stadtschulratswahlen am Anfang meiner Karriere hiess es, ich hätte rechnerisch gesehen gar nicht gewählt werden dürfen. Das zieht sich bei mir irgendwie durch. Aber die Leute wählen Menschen, von denen sie überzeugt sind, dass sie nahbar sind und sich für sie einsetzen. Die Menschen sehen ja, was ich in meiner langen Zeit als Politiker für Schaffhausen alles gemacht habe. Das kann ich im Wahlkampf in die Waagschale werfen. Den Rest müssen dann die Wähler:innen im Kanton beurteilen.
Sie haben also keine Angst, dass von bürgerlicher Seite nun ein starker Kandidat oder eine starke Kandidatin portiert wird?
Ich beurteile meine Gegenkandidat:innen nie, das überlasse ich den Medien. Ich habe aber den Eindruck, dass auch viele Bürgerliche nur noch den Kopf geschüttelt haben ob dieser Posse.
Profitieren Sie politisch vielleicht sogar von dem Urteil?
Viele haben mir im letzten Jahr versichert, sie würden mich bei Neuwahlen erst recht wählen. Ein SVP-Weinbauer zum Beispiel hat mir gesagt, er hätte mich normalerweise nie gewählt. Aber das sei ja schon allerhand, was da gelaufen sei. Das ist für mich wohltuend. Ich stelle mich weiterhin zur Verfügung. Wenn die Leute mich wollen, wollen sie mich. Sonst nicht.
Ihre Verteidigung vor Obergericht hatte stark darauf abgezielt, dass wegen einer angeblich verpassten Frist nicht auf die Klage eingetreten würde. Hätte man hier mehr Arbeit in die inhaltliche Argumentation stecken sollen?
Es gibt eine Kaskade aus rechtlichen Argumenten, wir mussten zuerst formell argumentieren. Es gab keine Priorisierung der Argumente. Wir haben gemacht, was wir machen konnten, das Gericht hat es anders beurteilt. Ich will das heute nicht mehr bewerten.
Sie selbst hatten schon vor Gericht stark auf das Gleichstellungsargument zwischen Mann und Frau abgestellt. War das aus Sicht der Verteidigung ein Fehler?
Nein, ich bin einfach ein Feminist, der findet, dass meine Frau selbst entscheiden darf, wo sie arbeiten will.
Das tönt, als wäre Ihre Frau auch genervt.
Genervt ist nur der Vorname. Aber wir blicken jetzt in die Zukunft. Ich kandidiere einfach nochmals und, davon bin ich überzeugt, gewinne nochmals. Den grössten Gefallen würde ich der Gegenseite tun, wenn ich jetzt gebrochen wäre und aufgeben würde.
Das Bundesgericht hat die Trennung des zivilen und politischen Wohnsitzes, die das Obergericht gemacht hatte, wieder zurückgenommen. Wie beurteilen Sie das?
Ich will mich jetzt nicht mehr zu den einzelnen Punkten des Urteils äussern. Das eine ist, was die Juristinnen sagen. Das andere ist mein Leben.
