Seit Jahrtausenden kritzeln die Menschen Toilettenwände voll. Versuch einer Typologie der Schaffhauser Klo-Graffiti.
Wir blicken zur Decke einer öffentlichen Toilette auf der Breite und sehen einen riesigen, goldenen Penis.
Es wird Frühling und es zieht uns wieder mehr nach draussen, wir sitzen am Lindli und mit jedem Getränk wird etwas notwendiger: die öffentliche Toilette.
Bevor Sie nun weiterlesen, müssen Sie uns etwas schenken: Vorschussvertrauen. Am Ende dieser Zeilen, so hoffen wir, haben wir Sie davon überzeugt, dass öffentliche Toiletten nicht nur eine wichtige öffentliche Einrichtung, sondern, mehr noch, das letzte Refugium in der Moderne sind. Oder zumindest der Ort, an dem der Mensch noch wirklich Mensch sein kann, und wo er weder von Überwachungskameras bedrängt wird, noch befürchten muss, einen digitalen Fussabdruck zu hinterlassen.
Die öffentliche Toilette, so wollen wir Ihnen nahelegen, ist ein Ort der Freiheit, der um jeden Preis verteidigt werden muss.
Dafür müssen wir aber zuerst kurz in die wissenschaftliche Literatur zu einem unkonventionellen Thema eintauchen: die Studie der sogenannten Latrinalia, gemeinhin auch als Klo-Graffiti bekannt. Und wir wollen gemeinsam durch die stillen Örtchen der Stadt streifen und die Frage beantworten, was Kritzeleien wie der goldige Riesenpenis mit uns zu tun haben. Also: Nase zu und durch.
Eine kleine Geschichte der Klo-Kritzelei
Der Mensch hat sich schon immer gerne in Wände eingeschrieben, das wissen wir von steinzeitlichen Höhlenmalereien. Diese erzählten von grossartigen Jagdbeuten und religiösen Praktiken. Die erste historisch verbriefte Klo-Kritzelei liess aber länger auf sich warten. Der römische Poet Martial wies im ersten Jahrhundert nach Christus die Bitte eines Freundes ab, ein Gedicht über ihn zu schreiben, und empfahl diesem stattdessen schroff, nach einem «versoffenen Dichter» Ausschau zu halten, «der mit dunkler Kohle Verse schreibt, welche die Leute beim Scheissen lesen».
Im alten Rom war der Gang zum Abort noch eine Gemeinschaftsaktivität und die Klo-Kritzeleien, wie man sie später auch in den Ruinen von Pompei fand, stellten somit auch einen kooperativen Akt dar. Schliesslich wurde man von anderen Toilettengänger:innen beobachtet, vielleicht sogar angespornt, während man seine Beleidigungen mit dunkler Kohle an die Wand kritzelte.

Das änderte sich, als sich über die Jahrhunderte der Gang auf die öffentliche Toilette privatisierte. Das Leben draussen wurde mit jeder technischen Errungenschaft berechenbarer und von Autoritäten kontrollierbarer und so fand man sich, sobald man die Toilettentür hinter sich zuzog, für einen kurzen Moment in einem ganz privaten und wirklich freien Raum wieder.
Und die Menschen nutzen diesen Ausbruch aus der sauberen, glatten Moderne bis heute für kleine, aufständische Akte des Vandalismus. Sie beschmutzen die Wände mit Beschimpfungen, Bedürfnissen und Sehnsüchten. Das Publikum sind die nachfolgenden Toilettengänger:innen. Eine heterogene und zugleich homogene Gruppe: auf einer öffentlichen Toilette treffen alle Klassen und Generationen aufeinander, aber weil Toiletten bis heute mehrheitlich geschlechtergetrennt sind, ist das Publikum doch klar umrissen.
Dabei kommen verschiedene Faktoren zusammen: die Unsichtbarkeit des Autoren, die Toilette als gleichzeitig öffentlicher und privater Raum, die Begrenztheit des Mediums (die Kabinenwand) sowie auch die Garantie eines Publikums – denn auf der öffentlichen Toilette verschliesst man die Augen ungern. Das alles führt zu einer ganz spezifischen, einzigartigen Form der Kommunikation: kurz, humorvoll, enthemmt, nicht zuletzt verletzlich. Oft geht eine Kritzelei auf eine andere ein, es bilden sich über die Jahre hinweg ganze Sammlungen von Gesprächen auf Klotüren. Auf Frauentoiletten, so zumindest der aktuelle Stand der Forschung, sind die Graffitis mehrheitlich positiv, sie drücken gegenseitige Unterstützung in Beziehungsthemen oder bei der psychischen Gesundheit aus. Männer sind hingegen vulgärer, sie schreiben mehr über Sex und Politik, sie stellen wenig Fragen und machen grossspurige Aussagen.

Zahlreiche wissenschaftliche Studien zu Latrinalien aus Ländern wie China, Zimbabwe oder Malta zeigen, dass an den stillen Orten urmenschliche Themen wie Sexualität, Religion und Identität verhandelt werden, gerade jene, die ausserhalb der vier Klowände tabu sind. So sind Klo-Graffitis immer auch ein Hinweis darauf, was die Menschen, wenn sie für einen kurzen Moment frei sind, wirklich umtreibt.
Von Gezeter und Gefühlen
Und damit zurück zum goldenen Penis auf der Breite. Wir sind auf der Suche nach einer Typologie der Schaffhauser Klo-Kommunikation. Was sind die Themen, über die die Schaffhauser:innen auf den stillen Örtchen der Stadt sprechen? Dafür suchen wir neben den öffentlichen Toiletten im Verkehrspark, beim Mosergarten oder im Promenadenpark auch die Klos im TapTab, in der Kerze und im Corner Pub auf.
Was schnell auffällt: Auf den Schaffhauser Toiletten geht es rabiat zu und her. Noch relativ harmlos liest sich der fortdauernde Streit zwischen dem Musikduo DMS-Boyz («FCK DMS», öffentliche Toilette Mühlentor) und der Steiner Rap-Crew SAR («FCK SAR», Männertoilette im TapTab). Persönlicher wird es im Corner Pub, wo jemand einen gewissen Denis bei sexuellen Handlungen imaginiert, worauf eine andere Person (vielleicht aber eben auch dieser Denis) darunter gekritzelt hat: «Dini Mueter au». Studien zu Latrinalia kamen in der Vergangenheit zum Schluss, dass Männer ihr kreatives Schaffen auf dem Klo viel häufiger für Beleidigungen verwenden als Frauen. Das ist in Schaffhausen aber nicht der Fall, Beleidigungen sind hier eine Aktivität jenseits der Geschlechterbinarität. Auf die Metalltüre der Frauentoilette beim Mühlentor ist – nicht ganz unironisch – «Alles Hueresöhn» gesprayt, allerdings mit der hinzugefügten Netiquette: «Gruess Christine S.».
Der politische Diskurs auf hiesigen Toiletten ist zwar gesitteter, aber die Schaffhauser:innen scheinen sich, wenn sie Zeit zum Durchatmen haben, wenig für Lokalpolitik zu interessieren. Stattdessen geht es um die ganz grossen Konfliktthemen: «Free Palestine», «ACAB» und «161», ein Zahlenfolge, die für die antifaschistische Aktion steht. Wiederum interessant ist das Pissoir im Corner Pub, wo ein anonymer Autor auf ein Plättchen «SH und ZG geg alle» notiert hat. Die Allianz der finanzpolitischen Geberkantone treibt selbst in der Nasszelle ihre Blüten.

Auch die grossen Gefühle beschäftigen: mal subtil mit zwei Initialen in einem Herz im Frauen-WC, mal sehr romantisch auf einer Herrentoilette. «Susanne, wenn du eine Träne wärst, dann würde ich nie mehr weinen, aus Angst, dich zu verlieren.» Weniger poetisch, sondern schlicht besitzergreifend notiert ein anderer darunter: «Du Armer, S. gehört mir.»
Andere, die noch auf der Suche nach Zärtlichkeit sind, setzten auf den Toiletten dieser Stadt Kontaktanzeigen auf: Analoge Tinderprofile, auf denen sie ausführlich beschreiben, was sie suchen und wann sie dafür Zeit haben. Ein Date scheint auf diese Weise beim Schützenhaus zustande gekommen zu sein: «Ok. Wann?», hat eine Person neben eine Kontaktanzeige geschrieben und die Antwort «Februar» erhalten.
Die Gefahr der Reinlichkeit
Am Zustand der öffentlichen Toiletten lässt sich aber auch ablesen, dass sich Schaffhausen langsam verändert. Gentrifizierung ist womöglich das falsche Wort, aber die Klo-Türen und Wände dieser Stadt werden gesäubert, ausdruckslos gemacht.
Damit wird der Latrinalia-Fundus vernichtet. Im TapTab finden wir nur noch wenige, die Fliesen seien erst vor ein paar Wochen gereinigt worden, so erfahren wir. Im Klo des El Bertins wurden die Wände frisch gestrichen. Selbst etwas aus der Zeit gefallene Orte wie die Kerze bleiben nicht verschont. Als wir die Bar betreten und fragen, ob wir die Toilettentür fotografieren können, sagt ein Gast in breitem Berndeutsch: «Mir wöu de aber keini neui Türe!». Verständlich, diese Türe ist der grösste Latrinalia-Fundus der Stadt. Doch gleich gegenüber, im sichtbar sanierten Frauen-Klo der Kerze, sind die Wände blitzeblank. Alles, was Frauen hier über die Jahre gedacht, gewünscht und geflucht haben – einfach weg.
Und deshalb, nun, wo wir am Ende sind und sich Ihr Vertrauensvorschuss hoffentlich ausgezahlt hat, bleibt nur noch eine Forderung: Damit diese Orte der Freiheit und der Kunst nicht verloren gehen, muss die Politik nicht nur mehr öffentliche Toiletten schaffen, sondern sie auch ins Kulturgüterschutzinventar aufnehmen.