Eine Künstlerin und ein Historiker zeigen auf: In Schaffhausen gab es zahlreiche Verknüpfungen zum Kolonialismus. Und sie planen eine Aktion. Im Gespräch mit Sasha Huber und Hans Fässler.
Vor einigen Jahren flog Sasha Huber mit dem Helikopter auf das Agassizhorn. Dort schlug sie, wie eine frühe Pionierin in (falschen) Pelz gekleidet, ein Schild ins Eis. Es war die symbolische Umbenennung des Agassizhorns. Denn der namensgebende schweizerisch-amerikanische Glaziologe Louis Agassiz (1807-1873) war nicht nur ein weltweit gefeierter Naturwissenschaftler. Er war auch ein einflussreicher Rassist. 1850 liess er sieben versklavte Menschen, darunter den Kongolesen Renty zwangsweise und unbekleidet fotografieren, um die angebliche «Minderwertigkeit der schwarzen Rasse» zu «belegen». In Erinnerung an Renty sollte das Agassizhorn neu seinen Namen tragen, so forderte es Sasha Hubers Tafel. Mit ihrer Bergtour landete sie international in den Schlagzeilen.
Sasha Huber hat schon an einigen Orten Staub aufgewirbelt. Oft geht es dabei um den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit. Dabei erhält die Künstlerin, die in Eglisau aufgewachsen ist und heute in Helsinki wohnt, wissenschaftlichen Rückenwind: Und zwar vom St. Galler Historiker Hans Fässler, einer Grösse der Schweizer Kolonialismusforschung. Kennengelernt hat sie Fässler, als er sein Projekt «Démonter Louis Agassiz» gründete und sie ins Komitee einlud (im Zuge dessen Huber eben ihre Gedenktafel in das Agassizhorn rammte). Seither arbeitet die Künstlerin mit dem Historiker zusammen.
Nun ist Sasha Huber in der Vebikus Kunsthalle in Schaffhausen zu Gast – eingeladen von Kurator Andreas Lüthi, der in Eglisau ihr Lehrer war. Und sie hat Grosses vor.
AZ Sasha Huber, als Sie das Agassizhorn umbenennen wollten, schrieb Ihnen ein Gemeindepräsident auf Ihr Gesuch zurück, Sie sollen Ihre Aktion doch in den USA abziehen. Die kolonialen Bezüge im Berner Oberland seien «höchstens eine Randnotiz». – Auch Schaffhausen ist doch «bloos e chlini Stadt», wie Lokalbarde Dieter Wiesmann sang.
Sasha Huber Die Schweiz fliegt beim Thema Kolonialgeschichte unter dem Radar und wäscht ihre Hände gern in Unschuld. «White Innocence» nennt man das. Die Schweizer Geschichte wird oft als Erfolgsstory dargestellt. Doch auf wessen Schultern konnte dieser Erfolg und Wohlstand aufgebaut werden?
Hans Fässler Die Schweizer Industrie basiert auf der Textilindustrie, und diese basiert auf Baumwolle. Und Baumwolle basiert auf Sklaverei.
Und nun richten Sie Ihren Blick auf Schaffhausen.
Huber Egal, wo man hingeht: Wenn man an einem Ort an der Oberfläche kratzt, findet man immer etwas zur kolonialen Vergangenheit – so hast du das einmal gesagt, nicht wahr, Hans? Wir arbeiten schon lange zusammen, er ist mein wissenschaftlicher Berater. Als ich ihm von der Anfrage des Vebikus erzählte, sagte er, dass er Schaffhausen interessant findet. Und so begann er, weiter nach kolonialen Spuren zu suchen…
Sie, Hans Fässler, waren also bereits an Schaffhausen interessiert.
Hans Fässler Schaffhausen hat schon in den Recherchen für mein Buch «Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei» eine Rolle gespielt. Damals bin ich auf Johann Konrad Winz aus Stein am Rhein gestossen, der oberhalb des Rheinfalls in Neuhausen eine Villa bezogen hatte. Er war ein Sklavenhalter. Lange dachte ich, Kolonialgeschichte betreffe nur die grossen protestantischen Städte des Mittellandes wie Zürich, Basel oder Genf. Mittlerweile sehe ich, dass auch Kleinstädte und selbst Dörfer in koloniale Geschäfte verstrickt waren. Für Sashas Ausstellung habe ich jetzt eine kleine Enzyklopädie der Schaffhauser Kolonialbezüge erstellt. Ich war selbst überrascht, was ich alles gefunden habe. Es sind Geschichten, die ich über diese Ausstellung hinaus weiterverfolgen werde und von denen ich hoffe, dass sie in Schaffhausen etwas auslösen.
Bevor wir uns diese Geschichten anschauen, kurz zu Ihnen, Sasha Huber: Sie wollen – auch in Schaffhausen – mit Kunst gesellschaftliche Veränderungen anstossen.
Huber Kunst ist mein Weg, mich auszudrücken. Das hat viel mit der Herkunft meiner Mutter zu tun. Sie ist aus Haiti und floh in den 60er-Jahren vor der Diktatur nach New York, wo sie meinen Vater kennenlernte. Zusammen mit ihm kam sie nach Eglisau. Sie verbot mir immer, Haiti zu besuchen, weil es zu gefährlich sei. Also begann ich, mich künstlerisch mit der Geschichte des Landes auseinanderzusetzen. So entstanden meine ersten Werke: «Shooting Back».
Sie nutzen dazu eine Tacker-Pistole. Das klingt nach Waffe.
Huber Absolut. Als ich das Werkzeug ausprobierte, fühlte es sich an wie eine Waffe und tönte auch so. Das war für mich ein Ventil und erlaubte mir, Machtverhältnisse sichtbar zu machen. Zuerst porträtierte ich Kolumbus und die Duvalier-Diktatoren, die unsere Familie aus Haiti vertrieben hatten. Doch nach mehreren Porträts merkte ich, dass ich meine Energie nicht mehr für diese Machthaber verschwenden will. Ich widmete mich neu denen, die Unrecht erlitten hatten oder in der Geschichtsschreibung vergessen gingen. Das «Schiessen» hat sich fortan zu einem «Zusammennähen» der kolonialen Wunden entwickelt.
Für die Ausstellung im Vebikus haben Sie einen Text erstellt, der altehrwürdige Schaffhauser nennt, die zu ihrer Zeit in die Sklaverei involviert waren. Wer hat die schmutzigsten Hände?
Fässler Ich würde nicht sagen, dieser oder jener Herr hat die dreckigsten Hände. Ein Sklavenhalter wie Johann Konrad Winz war natürlich sehr direkt beteiligt, während etwa das Schaffhauser Handelshaus Amman etwas indirekter mit Zucker, Indigo oder Tabak handelte. Für mich neu war die Geschichte des Schaffhauser Arztes Herrmann Peyer, der Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika als Eisenbahnarzt für die deutsche Kolonialmacht arbeitete und dort im Zuge des Genozides Zwangsarbeiter behandelte.

Ist Ihr Text ein Pranger?
Fässler Der Begriff Pranger gefällt mir gar nicht. Es geht nicht darum, Personen an den Pranger zu stellen, sondern es geht im Prinzip um Geschichtsschreibung. Kolonialismus und Anti-Schwarzer Rassismus waren ein Wirtschaftssystem.
In der Ausstellung geht es auch stark um den Schaffhauser Wilhelm Joos. Wer war er?
Fässler Wilhelm Joos ist ein fast vergessener Schaffhauser aus dem 19. Jahrhundert. Er war Arzt und kam aus gutem Hause. Er ist viel gereist, vor allem in Brasilien. Dort hat er die Sklaverei gesehen und war schockiert. Als er zurückkam, ging er in die Politik und wurde 1861 als Parteiloser in den Nationalrat gewählt. Sein erster Vorstoss befasste sich mit Schweizern, die in Brasilien Versklavte hielten. Der Bundesrat liess einen Bericht erstellen und kam 1864 zum Schluss: Sklaverei sei kein Verbrechen. Im Gegenteil: Würde man den Sklavenbesitzern ihr «rechtmässiges Eigentum» wegnehmen, wäre dies ein Gewaltakt, ein «Act de Violence», wie es in der französischen Version des Berichts heisst.
Was für eine Verdrehung.
Fässler Ja, das ist pervers. Und der heutige Bundesrat stellt sich immer noch auf den Standpunkt, das sei zu jener Zeit halt die gängige Ansicht gewesen. Doch das könnte historisch nicht falscher sein: 1864 war bereits völlig klar, dass die Sklaverei abgeschafft wird und ein Unrecht ist. Die Schweiz war die letzte westliche Regierung, welche die Sklaverei entschuldigte, banalisierte und rechtfertigte.
Krass, das wusste ich nicht.
Fässler Jedenfalls: Es war der grosse Verdienst des Schaffhausers Wilhelm Joos, dass er die Sklaverei damals aufs politische Parkett brachte. Doch warum ging Joos vergessen? Warum erinnert heute nichts mehr an ihn? Joos gebührt ein ehrender Ort. Er muss bekannter werden in Schaffhausen.
Was planen Sie?
Huber Wir regen im Rahmen der Ausstellung an, dass an Wilhelm Joos’ Wohnhaus, dem «Haus zum goldenen Falken» an der Vorstadt 40/42, eine Gedenktafel für ihn angebracht wird. Wir planen das auf Englisch, mit internationalem Anstrich, um Schaffhausen von aussen etwas anzustupsen.
Fässler Es gab in Schaffhausen schon Bestrebungen, Wilhelm Joos zu ehren, habe ich erfahren. Nur dauert dieser Prozess sehr lange.
Und durch eine Kunstaktion geht das schneller?
Fässler Sasha zeigt mit ihrer Arbeit, wie man mit Kunst etwas bewirken kann. Im Versuch, das Agassizhorn umzubennen, hatte unser Komitee praktisch alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Wir haben Medien und die Behörden x-mal angeschrieben. Es ging nicht mehr weiter. Und dann kommt eine Künstlerin und macht etwas Freches. Sie fertigt ein Schild an, fliegt mit dem Helikopter auf den Gipfel, und installiert das Schild dort oben. Das hat unglaublich viel ausgelöst.
Bei Ihrer Aktion beim Agassizhorn zeigte sich, wie abwehrend die Menschen oft reagieren, wenn man sie mit Lasten aus der Vergangenheit konfrontiert. «Bei uns werden Sie weiterhin auf Granit beissen», schrieb Ihnen etwa ein Gemeinderat damals zurück.
Huber Ja. Wenn die Leute sich an etwas gewöhnt haben, ist es schwer, daran zu rütteln.

In Schaffhausen sorgt es regelmässig für rote Köpfe, wenn jemand die Diskussion um den «Mohrenbrunnen» aufbringt.
Fässler Ah! Den muss ich noch in meine Enzyklopädie aufnehmen.
Was ist Ihre Meinung? Muss die Brunnenfigur oder zumindest der Name weg?
Fässler Der «Mohren»-Begriff ist historisch sehr komplex. Ich tendiere bei diesen Darstellungen dazu, dass sie mindestens durch ein Schild kontextualisiert werden sollen. Die Entfernung aus dem Stadtbild kann problematisch sein, weil wir damit die Spuren unserer kolonialen Geschichte ausradieren, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Aber natürlich verstehe ich, wenn People of Color sich an diesen stereotypen Darstellungen stören und eine Entfernung verlangen. Da muss man dann die Debatte führen. Sprachlich indessen kann man die Problematik eines solchen Brunnens jederzeit markieren und ihn als M-Brunnen bezeichnen.
Huber Klarer finde ich es beim «M-Kopf» zum Essen. Man isst symbolisch den Kopf einer Schwarzen Person, das finde ich problematisch. Auch, weil diese ja immer wieder neu produziert werden. In meiner vergangenen Ausstellung in Eglisau habe ich mich stark mit dem Thema befasst: Ich hatte im Familienarchiv entdeckt, dass mein Urgrossvater in der Stadt Zürich einen Kolonialwarenladen führte – woraufhin ich die Werkserie «No Mohr» anfertigte.
Beisst sich das eigentlich manchmal nicht, wenn man Künstlerin und Aktivistin zugleich ist? Als Aktivistin verfolgt man ein klar definiertes Ziel.
Huber Ich kann das nur zusammen denken. Aber letzten Endes mache ich Kunst, keine Politik. Das Schöne an der Kunst ist, dass du eine Welt entwerfen kannst, wie du sie dir vorstellst.
Glauben Sie, dass Sie Schaffhausen aufrütteln können?
Fässler Meine Hoffnung ist, dass sich im Gedenken an Wilhelm Joos etwas bewegt. Ich wünsche mir, dass ein neues Bewusstsein für die koloniale Vergangenheit entsteht, auch in Schaffhausen.
*
Sasha Hubers Ausstellung «I See You» läuft vom 15.3. bis zum 4.5. in der Kunsthalle Vebikus (Parallel dazu die Ausstellungen von Pascal Lampert). Die Vernissage ist am Freitag, 14.3., um 19 Uhr.