Seit diesem Winter habe ich erstmals Angst, alleine nach Hause zu gehen. Und ich schäme mich dafür. Versuch einer inneren Rückeroberung.
Es war im November vergangenen Jahres, als ich mich plötzlich auf dem Heimweg zu fürchten begann. Den ganzen Winter hindurch und bis heute frage ich mich spätabends, wie ich nach Hause komme. Mein Spazierweg führt entweder durch den dunklen Promenadenpark oder – durch zahlreiche Unterführungen – dem Rhein entlang. Neuerdings nehme ich manchmal einen Umweg mit dem Bus oder gleich das Taxi. Gehe ich zu Fuss, telefoniere ich währenddessen mit meinem Freund, um mich sicherer zu fühlen.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal aussprechen werde, aber: Ich habe Angst, allein nach Hause zu gehen. Und ich schäme mich dafür.
Es gab einen Auslöser für diese Angst. Anfang November vergewaltigte ein unbekannter und bis heute nicht gefasster Mann eine 22-jährige Frau beim Ebnatkreisel auf ihrem Heimweg. Es war eine weitere schreckliche Gewalttat an Frauen, die Schaffhausen in letzter Zeit erschütterte, und sie brachte das Fass zum Überlaufen. Zwei Frauen riefen über Instagram den Fahrdienst «Get Home Safe» ins Leben, innert 24 Stunden zählte die Gruppe über 2400 Follower. Daneben entstanden vergangenes Jahr lokal mehrere weitere private Initiativen gegen sexualisierte Gewalt, die Schaffhausen national in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Der Tages-Anzeiger widmete dem Thema einen Artikel und eine Podcast-Folge; es wurde vielerorts thematisiert, ob sich Frauen in Schaffhausen im Ausgang und auf dem Nachhauseweg noch sicher fühlen.
Und plötzlich muss ich mich das auch selbst fragen. Zwinge ich mich dazu, darüber nachzudenken, läuft es mir heiss und kalt den Rücken hinunter.
Der fremde Mann
Die Angst ist ein Spielverderber, das bekam ich schon als Kind zu spüren. Als ich etwa zehn Jahre alt war, wollte ich zusammen mit einer Freundin eine Hütte im Wald bauen. Ich malte mir die schönsten Erlebnisse in der Wildnis aus. Doch wenig später sagte meine Freundin zu mir, wir dürften nicht weitermachen, ihre Mutter hätte es verboten: «Wenn ein fremder Mann kommt, hört euch niemand schreien». Das sei nicht gut für zwei Mädchen, so abgelegen im Wald, wir sollten lieber ums Haus herum spielen. Ich war enttäuscht und verunsichert. Anscheinend gab es etwas – den «fremden Mann» –, das uns daran hinderte, die gleichen Abenteuer wie die Jungs zu erleben.
«Stranger Danger» nennt man die befürchtete Gefahr durch den Fremden. Statistisch gesehen ist diese Angst unbegründet. Sexualisierte Gewalt passiert grossmehrheitlich im häuslichen Umfeld. Der «fremde Mann» ist eine Konstruktion, welche diese Tatsache verschleiert, schreibt Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, in ihrem Buch Jede_Frau. «Frauen wachsen in einer Gesellschaft auf, die sie das fürchten lehrt. Als weiblich sozialisierte Person wird dir von klein auf eingetrichtert, dass du Angst haben sollst. Bevor du überhaupt verstehst, wieso und wovor.» Die Angst vor sexualisierten Übergriffen sei bei vielen weiblich sozialisierten Menschen ein ständiger Begleiter, besonders in jungen Jahren, so Lavoyer. Dabei schwinge stets die grosse Angst vor einer Vergewaltigung mit. Es werde kaum darüber gesprochen, «dass die übersteigerte Angst und das Ständig-auf-der-Hut-Sein nicht nur einschränkend, sondern auch sehr erschöpfend sind.»
Ganz selbstverständlich
Als junge Erwachsene wollte ich mich durch die Angst nicht einschränken lassen. Es störte mich, dass die Männer, wenn wir in Freundes- oder Familienrunden zusammensassen, viel wildere Storys (von früher) erzählen konnten als ich. Mittlerweile bin ich zum Schluss gekommen, dass das zu einem Teil auch daran liegt, wie Männer lernen, ihre Abenteuer vor Publikum zu präsentieren. Damals aber wollte ich unbedingt mithalten und so viel wie möglich erleben. Ich hatte und habe Angst vor vielen Dingen: Nachts alleine in den Keller zu gehen zum Beispiel oder sogar, allein zu Hause zu sein. Draussen aber wollte ich kein Territorium abtreten. Ausserdem kannte ich damals in den 2010er-Jahren mehr Männer, die Opfer von körperlicher Gewalt wurden im Ausgang (was statistisch auch der Realität entspricht). Ich glaubte, als Frau sei ich sicherer.
Wie viele meiner Freundinnen streifte ich nach dem Ausgang nach Hause, den Mauern entlang, die Strasse auf und ab schauend, wachsam und versuchsweise selbstbewusst – denn Täter suchen sich angeblich unsichere Frauen als Opfer aus, das lernten wir so. Auch die Freundinnen von damals sagen heute: Sie hätten keine Angst gehabt, alleine nach Hause zu gehen. Aber, so sagt eine: «Ich hatte auf dem Heimweg schon oft einen Stein in der Hand».
Die Fassade der Furchtlosigkeit mussten wir mühsam aufrechterhalten. Die Angst liess sich nicht ganz abschütteln, sie war wie ein Schatten, der ganz selbstverständlich mitgeht. Und sie erwischte einen durchaus auch mal kalt. Einmal, ich war mit einer Freundin unterwegs in den Ausgang, verfolgten uns Männer in einem Auto. Wir hatten Panik und flüchteten in einen Park, wo wir uns versteckten, bis die Luft rein war.
Ich erschrecke heute immer wieder, wie ich solche negativen Erlebnisse aus meinem Leben über die letzten Jahre hinweg einfach vergessen habe. Dass Frauen belästigt und bedrängt werden, war eine akzeptierte Realität. Wir erlebten das wöchentlich im Ausgang. Politisch diskutiert haben wir darüber nicht. Die einzige Möglichkeit schien, darüber hinwegzuschreiten und gefährliche Dinge trotzdem zu tun.

Gekaperte Angst
Mit den Jahren nahm mein Bedürfnis, mich in gefährliche Situationen zu begeben, ab. Zugleich wirkte vieles gar nicht mehr gefährlich – ich wurde, seit ich etwa 30 Jahre alt bin, viel weniger belästigt, bedrängt und beobachtet als früher. Ich konnte mir darüber hinaus eine Selbstsicherheit aufbauen, was nicht zuletzt mit meinen Privilegien als weisse Frau zusammenhängt. Auf dunklen Wegen blieb ich zwar wachsam. Aber die Angst wies ich in den vergangenen Jahren noch weiter von mir.
Dies vor allem auch, weil ich mich an der Diskussion um die Sicherheitspolitik im öffentlichen Raum störte. Allzu schnell bekam diese einen rassistischen Unterton. Ich erlebe oft, dass die Angst der Frauen von rechten Narrativen gekapert wird: Tönt eine Frau an, dass sie nicht gerne alleine nach Hause geht, wird das in vielen Kreisen dankbar aufgenommen. Das Gespräch dreht sich dann in Folge aber nicht darum, wie das Leben von Frauen sicherer gemacht werden kann, sondern um Zuwanderung, um islamistische Radikalisierung, um steigende Jugendgewalt und Vebrecherbanden aus dem Osten und Nordafrika.
Die Diskussion endete oft darin, dass wir draussen nicht genügend Überwachung und zu wenig Polizeipräsenz hätten.
Schaffhausen, so höre ich in letzter Zeit oft, sei unsicher. Die Schlagzeilen und kolportierten Geschichten aus der Kleinstadt scheinen sich dabei mit einer gefühlten Bedrohung durch die weltweiten schlechten Nachrichten zu vermischen.
Ich selbst fühlte mich in Schaffhausen, so wie halt in der Schweiz überhaupt, in der Vergangenheit sicher. Ich hatte keine Lust, dass mein weibliches Sicherheitsempfinden instrumentalisiert wird. Allein schon deshalb sagte ich, wenn es zur Diskussion kam, dass ich auf dem Nachhauseweg keine Angst hätte.
Rückeroberung
Das alles wurde auf den Kopf gestellt, als mich vergangenen November auf dem Heimweg plötzlich die Angst packte. Die Angst war nicht nackt, sie war begleitet von einer Menge anderer Gefühle: Ich schämte mich, weil ich mich schwach fühlte und mich fürchtete. Ich schämte mich, weil ich diese Furcht zuvor stets geleugnet hatte und sie jetzt zugeben musste. Es war, als hätte ich in der Vergangenheit etwas übersehen. Das, was statistisch eigentlich nicht passiert, ist passiert: Ein fremder Mann vergewaltigte eine Frau auf dem Nachhauseweg. Er läuft bis heute frei herum. Das machte mich zu allem hinzu auch einfach wütend, weil ich das Gefühl hatte, mich nach all den Jahren nun doch selbst einschränken zu müssen.
Mittlerweile, auch da es draussen heller und wärmer wird, haben sich die Angst und die Scham etwas gelegt. Die Wut ist geblieben. Frauen und weiblich gelesene und sozialisierte Menschen werden mit ihrem (Un-)Sicherheitsempfinden alleine gelassen und sind gezwungen, sich ihre Strategien, wie sie damit umgehen, selbst zurecht legen. Da ist es wohl verständlich, wenn man in ein Gefühlschaos gerät.
Dabei kann man neben dem eigentlichen Problem – den bestehenden Machtverhältnissen – ganz konkrete Dinge im Aussen benennen, die dazu beitragen, dass sich insbesondere mehrfach diskriminierte Menschen an bestimmten Orten unwohl fühlen. Mein Heimweg ist spärlich beleuchtet, unübersichtlich, einengend. Was auf mich zudem bedrohlich wirkt: die demokratiefeindlichen, rassistischen und sexistischen Schmierereien in den Unterführungen rund um den Rhein, die sich wie eine männliche Machtdemonstration anfühlen.
Dass solche Details tatsächlich einen Einfluss haben, merkte ich, als im Winter auf meinem Heimweg plötzlich ein ganz anderes Zeichen auftauchte. Es waren Aushänge, die das Antlitz von Gisèle Pelicot zeigten. Das Schaffhauser Kollektiv der «feministischen Stadtplaner:innen» hatte diese an Orte gekleistert, an denen sich FINTA*-Personen nachts unsicher fühlen oder Gewalt erleben. Unter dem Bild war der Ausspruch von Pelicot, die den Prozess gegen ihre Vergewaltiger für die Öffentlichkeit geöffnet hatte, gedruckt: «Shame must change side» – die Scham muss die Seite wechseln. Es fühlte sich wie eine kleine feministische Rückeroberung des Raumes an.
*FINTA steht für Frauen, Inter Personen, Nichtbinäre Personen, Trans Personen und Agender Personen