«Die Leute müssen meine Trauer kennen»

10. Februar 2025, Sharon Saameli
Foto: Robin Kohler

Alisa Alibanović lebt seit 30 Jahren in Neuhausen. Trotzdem lässt das Migrationsamt sie nicht mit ihrem hilfsbedürftigen Ehemann zusammenleben. Eine Geschichte über Trauma und die Grenzen des Gesetzes.

Plötzlich geht alles ganz schnell. 

An einem Donnerstagmorgen um 7 Uhr betreten Beamte der Schaffhauser Polizei ein Patientenzimmer im Kantonsspital auf dem Geissberg. Im sechsten Stock legen sie dem Patienten Edin Ilmić Handschellen an. Er soll nach Bosnien ausgeschafft und dafür zum Flughafen gebracht werden. Der Ausschaffungsversuch misslingt – Ilmićs Papiere sind nicht auffindbar. Er wird zurück ins Spital gebracht, wo ihn seine Frau verstört und unter Schmerzen vorfindet.

Die Frau heisst Alisa Alibanović, und sie ruft noch am selben Morgen auf der AZ-Redaktion an. Im Zeitraffer skizziert sie, was in den vergangenen eineinhalb Jahren alles geschehen ist – es ist viel und unübersichtlich, und sie sagt eindringlich, sie habe Angst um ihren Mann.

Als sie die Journalistin in der Woche darauf in ihrer Wohnung in Neuhausen empfängt, ist es bereits zu spät. Denn am Samstagmorgen, zwei Tage nach dem ersten Ausschaffungsversuch, kehren die Polizisten ins Patientenzimmer zurück und nehmen Edin Ilmić erneut mit. Der zweite Versuch gelingt: Um 12.45 Uhr hebt in Zürich ein Flugzeug mit geringer Verspätung ab, keine zwei Stunden später betritt Ilmić bosnischen Boden. Ohne seine Frau, ohne Aussicht auf medizinische Versorgung, ohne eine Ahnung, wie es für ihn weitergeht.

Trotzdem will Alisa Alibanović reden. Sie serviert Kuchen und Tee mit Kardamom und Minze, Hund Lani wuselt zwischen den Beinen des Besuchs herum. Auf dem Fenstersims reihen sich Bilder von ihr und ihrem Mann aneinander. So wirklich ins Gespräch kommt sie zunächst nicht, immer wieder klingelt das Telefon, «entschuldigen Sie bitte», sagt sie, und dann die grosse Erleichterung: Ihr Mann kann bei einem Kollegen ihres Vaters in Bosnien unterkommen. «Er hätte sonst ins Altersheim gehen müssen, weil es keine Zentren für Menschen wie ihn gibt», sagt sie. Danach hat sie den Kopf frei. Die Geschichte, die sie darauf erzählt, handelt von Traumata und Abhängigkeiten – aber auch von der Schweizer Migrationspolitik und von den Grenzen der Verhältnismässigkeit.

Flucht vor den Kriegsgräueln

In Bosnien und Herzegowina, da beginnt auch die Geschichte von Alisa Alibanović. Sie wächst in Brčko im Nordosten des Landes auf, einer Stadt halb so gross wie Schaffhausen und direkt an der Grenze zu Kroatien. Dort besucht sie das Gymnasium. Als der Bosnienkrieg ausbricht, ist Alisa Alibanović gerade 18 Jahre alt.

Die Gräuel des Bosnienkrieges, der Anfang April 1992 mit dem Zerfall Jugoslawiens eingesetzt hatte, sind gut dokumentiert: ethnische Säuberungen – allen voran das Massaker von Srebrenica –, Kriegsgefangenenlager, systematische Vergewaltigungen und Folter. Bis 1995 fordert der Krieg rund 100 000 Todesopfer und schlägt mehr als zwei Millionen Menschen in die Flucht. In der Schweiz setzt eine Solidaritätsbewegung ein: 1993 beschliesst der Bundesrat die vorläufige kollektive Aufnahme der Kriegsvertriebenen. Insgesamt finden rund 18 000 Menschen aus Bosnien und Herzegowina Schutz in der Schweiz, rund 5000 von ihnen werden als Flüchtlinge anerkannt. Nach Ende des Krieges im Jahr 1995 kehren über 10 000 Menschen zurück in ihre versehrte Heimat.

Wie sie selbst den Krieg erlebt hat, möchte Alisa Alibanović an diesem Abend in ihrer Wohnung in Neuhausen nicht ausführen. «Die posttraumatische Belastungsstörung, wissen Sie.» 

Erinnerungsstücke an Ehemann Edin Ilmić. Auf dem Bild davor: Hund Lani. Foto: Robin Kohler

Die Stadt, in der sie aufwächst, wird zwischen den Fronten zerrieben. Alibanović kommt am 13. April 1994 mit einem Touristenvisum in die Schweiz. Da ist sie 21 Jahre alt. Sie bleibt hier, baut sich in Neuhausen ein neues Daheim auf. Als sie im Asylverfahren den Status F erhält, beginnt sie sofort zu arbeiten: Sie putzt in einem Restaurant, später serviert sie auch, sie betreut Kinder und arbeitet bei der Post. «Ich wusste nicht, was Ferien sind, ich wollte einfach unabhängig sein», erinnert sie sich heute. Sie wollte den Verwandten, die sie in der Schweiz hatte, nicht zur Last fallen.

Das Trauma des Krieges bleibt an ihr haften. Zwar erhält Alisa Alibanović nach langem Hin und Her – 15 Jahre, wie sie sagt – die Aufenthaltsbewilligung B. Doch just in dem Moment, in dem ihr Verbleib in der Schweiz gesichert ist, setzt eine massive Erschöpfung ein. Und die Angstzustände beginnen. «In der Psychiatrie Breitenau hat mir eine Ärztin noch gesagt, sie sehe das bei Menschen aus Bosnien oft», erinnert sich Alibanović. 

Gesundheitsprobleme – besonders psychische Probleme wie Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen – sind unter bosnischen Zuwander:innen weit verbreitet. Zu diesem Schluss kommt unter anderem eine Studie des Staatssekretariats für Migration (SEM) aus dem Jahr 2014. Dabei, so schreibt das SEM, haben diese Probleme ihre Wurzeln nicht nur im Krieg, sondern durchaus auch in der Migrationspolitik selbst: Ein unsicherer Aufenthaltsstatus, die Angst vor weiteren Gewalterfahrungen wie einer Ausschaffung und eine ungewisse Zukunft befeuern psychische Erkrankungen.

Bei Alisa Alibanović kommt ein schwerer Autounfall im Jahr 2001 hinzu, bei dem sie eine Freundin verliert und ein Schleudertrauma erleidet. «Das hat meine Ängste und Panikattacken verstärkt», sagt sie. Seit 2011 erhält sie eine 50-prozentige IV-Rente, zudem bezieht sie Ergänzungsleistungen. Sie integriert sich weiterhin gut in Neuhausen. Seit 2017 ist sie in der Gärtnerei der Altra Schaffhausen tätig und arbeitet eine Zeit lang auf Abruf als Übersetzerin beim Schweizerischen Arbeiterhilfswerk (SAH) in Schaffhausen. Daneben hat sie einen Kurs in Nail Design absolviert und will sich in Richtung Fussreflexzonenmassage weiterbilden. Sie habe viel Energie in den Händen, sagt sie dazu. Ende dieses Jahres will sie sich einbürgern lassen. Die Zeichen dafür stehen gut: Der Neuhauser Gemeinderat hat sich in einer Sitzung Ende letzten Jahres positiv zur Einbürgerung ausgesprochen. Den endgültigen Entscheid fällt die Einbürgerungskommission. 

Liebe in Zeiten der Krankheit

Edin Ilmić – der Mann, den sie nun zu retten versucht – lernt sie im Jahr 2016 kennen. «Per Zufall», erzählt sie, nämlich über Facebook. Er lebt zu diesem Zeitpunkt noch in Bosnien. «Als wir das erste Mal miteinander telefonierten, hat er angefangen zu weinen», erinnert sich Alibanović, «er hatte so viele Probleme in der Familie. Er musste sich um alle kümmern, sehr jung schon arbeiten, auch schwarz. Er hatte ein hartes Leben.» Die beiden verlieben sich und starten eine Fernbeziehung, verbringen drei Monate mal hier, mal dort. 

Dann verunfallt Edin Ilmić mit dem Motorrad. Das ist im Frühling 2022.

Er verletzt sich schwer am Kopf. Das Subduralhämatom – eine Art Hirnblutung – zieht Operationen und monatelange Besuche in Spitälern und Kliniken nach sich. Bis heute hat Edin Ilmić eine Nervenschädigung, er ist halbseitig gelähmt und hat chronische Schmerzen. Ausserdem leidet er an Diabetes Typ 2 und unter einer Persönlichkeitsstörung, vermutet wird eine paranoide Schizophrenie. Die Diagnosen entstammen einem Bericht der Spitäler Schaffhausen, wo er im Dezember 2024 untersucht und behandelt wird.

«Wissen Sie», sagt Alisa Alibanović in ihrer Wohnung, die Ohren ihres Hundes kraulend, «heute denke ich: Wie dumm war ich, dass ich ihn nicht früher geheiratet habe. Er hätte hier arbeiten können, er hätte eine Zukunft gehabt.» Für sie ist nach dem Unfall sofort klar, dass sie für ihren Partner sorgen will. Darum heiraten die beiden im Mai 2023, und Edin Ilmić zieht zu seiner Partnerin nach Neuhausen. Gleichzeitig stellen die beiden einen Antrag auf Familiennachzug – es beginnt ein bürokratischer Spiessrutenlauf, der in der Ausschaffung von Edin Ilmić seinen vorläufigen Höhepunkt findet.

Das Paar braucht einen langen Atem. Nebst dem Familiennachzug müssen die beiden ein zweites Gesuch stellen, eines um sogenannten prozeduralen Aufenthalt. Es geht um die Frage, ob Ilmić in der Schweiz bleiben darf, während das erste Gesuch noch hängig ist. Behördliche Praxis ist, dass solche Gesuche nur eine Chance haben, wenn der Familiennachzug mit grosser Wahrscheinlichkeit bewilligt werden kann.

Der Antrag scheitert. Das Migrationsamt und der Regierungsrat entscheiden, dass die Voraussetzungen für den prozeduralen Aufenthalt nicht erfüllt seien und Ilmić im Ausland warten müsse, bis über den Familiennachzug entschieden sei. Alibanović und Ilmić ziehen diesen Entscheid bis ans Bundesgericht weiter – erfolglos. Bleibt also noch der eigentliche Familiennachzug.

Der Familiennachzug ist grundsätzlich dazu da, dass Menschen ihr Grundrecht auf Familienleben wahrnehmen können. Gerade für geflüchtete Menschen ist dieses Instrument aber sehr hürdenreich – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz schon mehrfach für ihre teils zu strengen Vorschriften beim Familiennachzug gerügt. 

Weil Bosnien und Herzegowina nicht EU-Mitglied ist, gelten besonders strenge Regeln – unabhängig davon, dass der Staat seit 2022 offizieller EU-Beitrittskandidat ist.

Darum werden die Ergänzungsleistungen, die Alisa Alibanović bezieht, letztlich zu einem Problem. Denn seit einer Verschärfung des nationalen Ausländergesetzes AIG, die 2019 in Kraft getreten ist, dürfen Ausländer:innen aus sogenannten Drittstaaten keine Ergänzungsleistungen mehr beziehen, falls sie Kinder oder Partner:innen in die Schweiz nachziehen möchten. Mit diesem Argument lehnt schliesslich auch das Migrationsamt das Gesuch um Familiennachzug ab. Die Beschwerde des Ehepaars ist beim Regierungsrat weiterhin hängig. Ilmić versucht noch, mit einem Asylgesuch etwas Zeit zu gewinnen – im Wissen, dass er keine Chance auf Asyl hat, aber in der Hoffnung, dass eine Wegweisung für nicht möglich oder nicht zumutbar befunden wird.

Dann, kurz vor Weihnachten 2024, kommt Edin Ilmić trotzdem in Ausschaffungshaft. Doch er bleibt nicht lange. Denn der ärztliche Dienst des Gefängnisses interveniert: Ilmić sei nicht «hafterstehungsfähig», zu krank für die Haft. Am 23. Dezember wird er ins Kantonsspital verlegt, in einen Raum, der Patientenzimmer und Gefängniszelle zugleich ist: zwei Überwachungskameras an der Decke, dicke Metallstäbe am Fenster und zwischen Bett und Zimmertür, Schläuche hinter dem Bett und ein Notfallknopf für den Patienten. Ein Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes bewacht das Zimmer.

In diesem Zimmer trifft ihn die AZ am Tag nach dem ersten Ausschaffungsversuch diesen Januar. Alisa Alibanović übersetzt für ihren Mann: «Am frühen Morgen sind sie gekommen und haben mir Handschellen angelegt und einen Gürtel. Dann haben sie mich zum Flughafen gebracht. Heute sind meine Schmerzen stärker. Ich zittere, ich frage mich die ganze Zeit, ob sie nochmals kommen. Dieses Hin und Her macht mich fertig.»

Widersprüchliche Gutachten

Ein Hin und Her herrscht in Ilmićs Fall offensichtlich auch bei den Behörden selbst. Besonders deutlich macht dies die Ausschaffungsfirma Oseara. Sie beurteilt im Auftrag des SEM die Flugtauglichkeit von auszuschaffenden Migrant:innen und begleitet zudem Ausschaffungsflüge. 

Für Edin Ilmić hat die Firma zwei Gutachten erstellt, eines am 24. Dezember, das andere eine Woche später. Im ersten hält der Arzt – er ist auch Verwaltungsratspräsident der Firma und arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis im Zürcher Unterland – fest: Ilmićs Zustand mache eine «eine stationäre medizinische Betreuung, neurologische Abklärung sowie eine engmaschige psychiatrische und/oder neurologische Behandlung inkl. Rehabilitation notwendig». Weder die Flug- noch die Hafttauglichkeit seien gegeben, Edin Ilmić könne also nicht ausgeschafft und sein Zustand solle stattdessen in sechs Wochen neu beurteilt werden.

Der Weg zum Schweizer Pass: Bald steht für Alisa Alibanović der Einbürgerungstest bevor. Foto: Robin Kohler

Dieses Urteil ist bemerkenswert: Insgesamt stuft die Oseara laut Eidgenössischem Justiz- und Polizeidepartement weniger als ein halbes Prozent aller auszuschaffenden Personen als nicht transportfähig ein. Zudem schreckte das Unternehmen in der Vergangenheit auch bei sehr heiklen Fällen nicht davor zurück, Patient:innen als transportfähig einzustufen. Dokumentiert sind beispielsweise die Ausschaffung eines schwer suizidalen Mannes sowie die Ausschaffung einer im achten Monat schwangeren Frau, der das Zürcher Spital Triemli eine Transportunfähigkeit bis zum errechneten Geburtstermin attestiert hatte.

Bei Edin Ilmić hingegen vollzieht der Oseara-Arzt plötzlich eine 180-Grad-Wende. Denn am 31. Dezember, eine Woche nach dem ersten Gesuch, kommt er plötzlich zum Urteil: Der Mann ist flugtauglich. Die AZ hat den Arzt mit seinen Gutachten konfrontiert und ihn um eine Begründung gebeten, zumal sich Ilmićs Beschwerden innert Wochenfrist kaum hätten bessern können. Doch der Oseara-Chef verweist auf die ärztliche Schweigepflicht – und das SEM gibt zu Einzelfällen keine Auskunft.

Aus demselben Grund lässt auch das Migrationsamt Schaffhausen die meisten Fragen zur Geschichte von Alisa Alibanović und Edin Ilmić unbeantwortet. Dienststellenleiter Fridolin Hunold teilt per Mail mit: «Wir weisen darauf hin, dass auch im Vollzugsbereich das Verhältnismässigkeitsprinzip zur Anwendung kommt. Die verfahrensrechtlichen Grundlagen werden eingehalten. Das Wohl und die Würde der rückzuführenden Person haben oberste Priorität.»

Michael Stampfli widerspricht. Der Schaffhauser Rechtsanwalt hat die Familie durch die vergangenen eineinhalb Jahre begleitet. Er sagt: «Das Migrationsamt hätte sich ohne weiteres auf den Standpunkt stellen können, dass eine Ausreise nicht zumutbar ist, und Herrn Ilmić die vorläufige Aufnahme gewähren können. Die Betroffenen sind aus medizinischen Gründen stark aufeinander angewiesen, was auch ärztlich bestätigt wurde. Zudem liegen medizinische Unterlagen vor, die bestätigen, dass Edin Ilmić in seinem Herkunftsstaat eine Verschlimmerung seines Gesundheitszustands droht.» Da Alisa Alibanović aller Voraussicht nach Ende Jahr Schweizerin sein wird, werde das Familiennachzugsgesuch spätestens dann zu bewilligen sein, so Stampfli weiter. «Es ist daher unverhältnismässig, Herrn Ilmic für den absehbaren Zeitraum noch auszuschaffen.»

Epilog

Jetzt, da das Schlimmste eingetreten ist, sei ihr Kopf klarer, ruhiger, sagt Alisa Alibanović zum Schluss. Und holt ein letztes Mal aus: «Es ist einfach schrecklich», beginnt sie. «Die Leute müssen meine Trauer kennen. Alles, was ich wollte, ist meinen Ehemann zu pflegen. Ich habe immer alles bezahlt, jede Rechnung, jedes Medikament, für mich und für meinen Mann. Ich habe keine Schulden und war nie straffällig. Ich bin nicht schuld daran, dass ich krank bin. Wie können sie mir das Leben mit meinem Mann verbieten? Wissen Sie, ich liebe die Schweiz, ich bin so dankbar und lerne gerne alles, um den Schweizer Pass zu erhalten. Ich kenne den Rütlischwur, das Jahr 1291, die drei Urkantone. Ich kenne Neuhausen auswendig, ich bin hier zuhause. Ich hoffe so sehr, dass diese Geschichte meiner Einbürgerung nicht im Weg steht. Aber ich bin auch schockiert, wie die Schweiz mit Menschen wie mir umgehen kann.»