Mehrere Frauen treten die neue Legislatur im Kantons- und im Grossen Stadtrat nicht an, obwohl sie gewählt wurden. Dahinter stehen strukturelle Gründe.
Spätestens seit dem feministischen Streik und den sogenannten Frauenwahlen 2019 und 2020 gehört es zum guten Ton, jeweils nach den Wahlen die Geschlechtsanteile der neu gewählten Parlamente auszuweisen. Die Schaffhauser Wahlen dieses Jahres bildeten diesbezüglich keine Ausnahme: Im Kantonsrat stieg der Anteil Frauen von total 23 auf 37 Prozent, im Grossen Stadtrat von 22 auf 30 Prozent.
Doch der Fokus auf die Geschlechterfrage hat nun einen unerwarteten Backlash nach sich gezogen. Der Auslöser: Innert kurzer Zeit teilten mehrere gewählte Parlamentarierinnen mit, dass sie ihr Amt nicht antreten respektive zurücktreten werden. «Null zu zwei für die Frauenfrage», schlussfolgerten die Schaffhauser Nachrichten kurzerhand, als die Jungsozialistin Leonie Altorfer und die Junge Grüne Lena Jaquet mitteilten, sie würden die Wahl nicht annehmen.
Als dann eine Woche später auch die SP-Kantonsrätin Sahana Elaiyathamby ihren Rücktritt bekannt gab, weil sie in wenigen Wochen ihr zweites Kind erwartet, und als auch klar wurde, dass auf die drei Frauen drei Männer folgen werden, schien das Narrativ perfekt. Auf den Punkt brachte dies unter anderem der SVP-Mann Mariano Fioretti, der in beiden Parlamenten sitzt, in einem Leserbrief: «Diejenigen, die lautstark mehr Frauen in der Politik fordern, setzen die Prinzipien, die sie von anderen Parteien einfordern, selbst nicht um.»
Dieses Framing kritisierten die Juso und die Jungen Grünen nochmals einige Tage später in einer Medienmitteilung und in einem Instagram-Post: «Dass der Verzicht dieser beiden jungen Frauen nun zum Politikum gemacht wird, ist eine unverhältnismässige Schuldzuweisung.» Es werde bewusst Stimmung gemacht gegen zwei junge, linke Politikerinnen, die sich exponieren. Ihre Entscheidungen nicht ernst zu nehmen, kritisierten die Jungparteien als unfeministisch.
Nur: Blickt man ein paar Legislaturen zurück, erstaunt die jetzige Debatte um Rücktritte. Erstens sind die drei aktuellen Fälle statistisch betrachtet keine Ausreisser. Und zweitens sinkt der Frauenanteil in den Räten auch während der Legislatur regelmässig.
Ein Drittel tritt zurück
Die AZ hat die Zusammensetzung des Kantonsrats wie auch des Grossen Stadtrats seit den Wahlen 2012 – und damit also drei Legislaturen – untersucht.
Unsere Analyse zeigt: Im Durchschnitt tritt jede dritte Person, die ins Parlament gewählt wurde, im Lauf der Legislatur zurück. Im Grossen Stadtrat ist die Rücktrittsquote bei Männern und Frauen ausgeglichen. Im Kantonsrat hingegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau während der Legislatur zurücktritt, über alle Legislaturen gerechnet höher als bei einem Mann.
Dabei fällt im Kantonsrat besonders die Legislatur von 2016 bis 2020 auf. Hier wurde das Parlament am stärksten erneuert: Acht Frauen verliessen den Kantonsrat vorzeitig, darunter Katrin Bernath (GLP), da sie 2017 in den Stadtrat gewählt wurde, und Martina Munz (SP), weil sie in den Nationalrat eintrat. Bei den Männern gingen unter anderem Werner Bächtold, Jürg Tanner und Richard Bührer, alle von der SP. Grund war eine allgemeine Verjüngungskur, welche die Partei durchbringen wollte.
In den vergangenen Wochen wurde auch kritisiert, dass auf die drei linken Frauen nun drei Männer folgen: Auf Lena Jaquet folgt Gaétan Surber (Junge Grüne), auf Leonie Altorfer folgt Julian Marti (Juso) und auf Sahana Elaiyathamby folgt im Kantonsrat Hannes Knapp (SP). Auch dieser Umstand ist alles andere als besonders.
Nehmen wir den Grossen Stadtrat als Beispiel: Seit den Wahlen 2012 sind insgesamt neun Frauen während der Legislatur zurückgetreten – nur in vier Fällen rückte auch eine Frau nach. Trat ein Mann zurück, rückte sogar nur in zwei Fällen eine Frau nach: Manuela Bührer (AL) übernahm den Sitz von Andi Kunz und Manuela Roost (FDP) jenen von Nihat Tektas, beide vor rund zehn Jahren. Auf insgesamt 19 Männer, die zurücktraten, folgte hingegen jeweils ein Mann. Während der nun endenden Legislatur folgten auf zwei Frauen zwei Männer – Hansueli Scheck rückte für Susanne Kobler (SVP) und Felix Derksen für Nathalie Zumstein (Mitte) nach – und lediglich eine Frau auf eine Frau, nämlich Lena Jaquet auf Iren Eichenberger (Grüne).
Anders gesagt: Tritt ein Mann aus dem Grossen Stadtrat zurück, liegt die Chance, dass eine Frau nachrückt, bei nicht einmal 10 Prozent. Tritt eine Frau zurück, liegt diese Chance bei rund 45 Prozent – übrigens in den linken wie auch in den bürgerlichen Parteien.
Zwischenfazit: Die Stimmbevölkerung will zwar mehr Frauen in den Parlamenten. Doch während der Legislatur setzt immer wieder ein Jo-Jo-Effekt ein.
Warum ist das so?
Keine Doppelmandate
Die Gründe, warum die drei Frauen jetzt nicht antreten, sind individuell. Gleichermassen sind sie stellvertretend für übergeordnete Probleme. Das zeigt sich im Gespräch mit der Politologin Sarah Bütikofer. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte: Frauen in der Politik.
Aktuelles Beispiel aus Schaffhausen ist Leonie Altorfer. Die Juso-Co-Präsidentin wurde im September mit 628 Stimmen in den Kantonsrat gewählt und im November mit 746 Stimmen (kumuliert) in den Grossen Stadtrat. Sie begründete die Nichtannahme der Wahl ins Stadtparlament damit, dass ein Doppelmandat weder mit ihrer Lohnarbeit noch mit ihrem Privatleben vereinbar sei. Priorität habe für sie der Kantonsrat. Dazu kommt, dass ihre Partei (wie auch die SP in den meisten Fällen) statutarisch keine Doppelmandate vorsieht. Trotzdem kam es zu kritischen Voten – warum stellte sich die Jungsozialistin überhaupt auf, wenn sie nicht beides machen wollte? Altorfer antwortet: «Es ist völlig normal, dass Parteien jene Personen auf die Listen schreiben, mit denen sie Stimmen machen können. Bei kleinen gilt das umso mehr.» Zudem ärgere sie der Doppelstandard: «Bei Christian Schenk, der ebenfalls aufgrund eines Doppelmandats auf seinen Sitz im Kantonsrat verzichtet, fiel kein schlechtes Wort. Das muss doch zeigen, dass die Skandalisierung am falschen Ort passiert», sagt Altorfer.
Ein Doppelmandat auszuschliessen sei ein absolut legitimer Grund, ein politisches Amt nicht anzunehmen, hebt Politologin Sarah Bütikofer hervor. Denn generell werde der zeitliche Aufwand und das für politische Ämter nötige Engagement von Kandidierenden oft unterschätzt. «In kleinen Parteien kommt erschwerend dazu, dass sich die Vorbereitungsarbeit für Geschäfte oder auch für Kampagnen auf noch weniger Köpfe verteilt», so Bütikofer.
Aus diesem Grund seien auch Fluktuationen in den Parlamenten während der Legislatur normal – und sogar höher, als dies aktuell in Schaffhausen der Fall ist. «National betrachtet ist eine 50-prozentige Fluktuation in kantonalen und kommunalen Parlamenten ganz normal. Schaffhausen bildet also keine Ausnahme.» Ebensowenig handle es sich um ein linkes Problem: «Der Frauenanteil in linken Parteien ist einfach höher. Mit mehr bürgerlichen Frauen im Parlament gäbe es dort auch mehr Fluktuationen.»
Allerdings gibt es Aspekte, die es Frauen systematisch erschweren, ein politisches Amt zu besetzen – einer davon ist die schwierige Vereinbarkeit von Familie und politischer Arbeit. Beispielhaft dafür: SP-Kantonsrätin Sahana Elaiyathamby.
Elaiyathamby erklärte in einem Interview in den Schaffhauser Nachrichten, sie hätte gerne im Kantonsrat weiterpolitisiert. Für ihren Rücktritt macht sie strukturelle Gründe geltend: Sie erwartet in wenigen Wochen ihr zweites Kind. Parlamentarierinnen haben aber weder einen geregelten Anspruch auf Elternzeit noch auf jemanden, die oder der sie während ihrer Abwesenheit vertritt. Generell würden die Strukturen nicht vorsehen, dass gewählte Kantonsrätinnen und -räte aufgrund von Elternschaft, Krankheit oder beruflichen Verschiebungen länger ausfallen, betont Elaiyathamby. «Das führt dazu, dass es besonders für Frauen schwieriger ist, zu partizipieren. Das stellt für mich ein Demokratiedefizit dar und ich hoffe, dass das Thema bald wieder im Kantonsrat diskutiert wird», so die SP-Politikerin.
Ein Stellvertretungsmodell für den Kantonsrat wurde erst im vergangenen Sommer diskutiert – und besonders von bürgerlicher Seite her kritisiert. An der Abstimmung vom 18. August erteilte schliesslich die Mehrheit der Schaffhauser Gemeinden der Vorlage eine Absage, wenn auch äusserst knapp: Es musste gar ein zweites Mal ausgezählt werden, weil nur 48 Stimmen den Unterschied machten.
Betreffend der Vereinbarkeit von parlamentarischer Arbeit mit Familie und Beruf gebe es – nebst einer temporären Stellvertretung – eine Vielzahl an Forderungen, sagt Politologin Sarah Bütikofer. Kinderbetreuungsangebote oder die Möglichkeit zur digitalen Sitzungsteilnahme seien das eine. Aber auch Rahmenbedingungen wie die Sitzungszeiten spielen eine Rolle. «Eine Sitzung von 18 bis 20 Uhr, wie das Schaffhauser Stadtparlament sie kennt, ist familienunfreundlich. Selbst Sporttrainings fangen oftmals später an, weil die Vereine wissen, dass man nach der Arbeit erst essen und eventuell die Kinder zu Bett bringen muss», so Bütikofer.
Auch das Geld zählt
Dazu kommt: Muss man sich zwischen einer politischen und einer beruflichen Karriere entscheiden, wählen Frauen gemäss Politologin Bütikofer tendenziell öfter den Beruf – aufgrund der besseren Planbarkeit und des besseren Einkommens. Es gibt also auch ökonomische Gründe dafür, wer im Parlament sitzt – und wer nicht. Im Schaffhauser Kantonsrat beläuft sich das Sitzungsgeld aktuell auf 200 Franken, was einer Parlamentarierin zwischen fünf- und zehntausend Franken im Jahr einbringt. Im Grossen Stadtrat sind es seit einer Erhöhung um 20 Franken vor zwei Jahren neu 150 Franken Sitzungsgeld. Der damalige Vorstoss wollte nebst einem fälligen Teuerungsausgleich im Übrigen auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Parlamentsarbeit erreichen.
Über ein weiteres strukturelles Problem entbrannte im Sommer 2023 eine Debatte: die Gesprächskultur in den Räten. Nachdem sich die SP-Grossstadträtin Livia Munz und die Mitte-Grossstadträtin Nathalie Zumstein öffentlich über die Sitzungskultur ärgerten, zählte die AZ erstmals die Redezeit aller Parlamentarier und Parlamentarierinnen im ersten Halbjahr 2023 aus. Das Resultat: Die fünf Top-Redner sind allesamt Männer. Ein SVP- und ein SP-Mann standen jeweils gar über eine Stunde am Rednerpult (AZ vom 20. Juli 2023).
Nicht nur der Redeanteil ist unausgewogen. Mehrere Frauen teilten auch die Überzeugung: Die Zwischenrufe, wenn eine Frau spricht, das nicht ernst genommen werden, ja der respektlose Umgang einiger Männer sei einer der Gründe, warum sich viele Frauen nicht in der Politik engagieren wollen.
Lena Jaquet spielt indirekt auf dieses Thema an, als sie bekannt gibt, dass sie die Wahl in den Grossen Stadtrat nicht annimmt. Sie rückte vor einem Jahr für Iren Eichenberger nach und politisierte Seite an Seite mit Parteikollege Gaétan Surber. Bei den diesjährigen Wahlen habe sie gehofft, dass es für die Jungen Grünen für zwei Sitze reichen würde. «So wäre ich gerne weiterhin dabei gewesen», sagt sie. Zwar hätte sie sich durchaus zugetraut, das Amt nun auch alleine zu übernehmen. Sie kommt aber auch zum Schluss: «Wer weiblich sozialisiert ist, hat mehr Hürden, in einem Parlament zu sein. Männer brauchen tendenziell weniger Überwindung, um sich an einen solchen Ort zu trauen und vor allen redend zu denken. Das ist natürlich nicht naturgegeben, sondern rührt von der Art und Weise her, wie wir aufwachsen.»
Auch Politologin Bütikofer sieht ein Problem übergeordnet: «Mit mehr Frauen in der Politik wäre die Situation eine andere. Und zwischen den Parteien ist die Geschlechterverteilung enorm ungleich – linke Frauen sind in den Parlamenten besser vertreten als bürgerliche.» Mit einem höheren Anteil besonders auch bürgerlicher Frauen wäre nicht nur die Bevölkerung besser abgebildet. «Dann kämen mehr Perspektiven und Lebensrealitäten zur Sprache und möglicherweise wäre auch der Umgangston in den Ratssitzungen mit einem höheren Frauenanteil ein anderer», hält Bütikofer fest.
Obwohl also die Stimmbevölkerung einen höheren Frauenanteil in den Parlamenten verlangt, verpasst man es, Strukturen zu schaffen, damit sie auch dort bleiben.
Mitarbeit: Simon Muster