In Bargen zeigt sich die Kluft in der nationalen SVP-Basis im Kleinen. Vor allem, weil sich dort niemand für Parteien interessiert.
Das Sünneli hat allen Grund zu strahlen. Würde die Schweiz jetzt wählen, käme die SVP schweizweit auf einen Wähleranteil von 29,9% – ein neuer Höchstwert. Das zeigen neue Meinungsumfragen, die diese Woche veröffentlicht wurden.
In Schaffhausen dürfte diese Zahl gar noch höher sein. Bei den eidgenössischen Wahlen vor gut einem Jahr erreichte die Volkspartei – alle ihre Unterlisten zusammengezählt – bereits über 39%.
Doch vor dem Sünneli ziehen auch Wolken auf. Auch das zeigt die Umfrage. In der Volkspartei öffnet sich eine Schere: Die Basis wählt stramm rechts – bei Abstimmungen aber stimmt sie vermehrt auch mit linken Parolen.
Ohne einen entscheidenden Teil der SVP-Basis, die anders als die Parteileitung für eine 13. AHV-Rente, gegen den Autobahnausbau oder gegen die Mietvorlagen gestimmt hat, wäre die Linke nicht als Siegerin aus diesen Abstimmungen hervorgegangen.
Auch am nördlichsten Zipfel der Schweiz, im 345-Seelendorf Bargen, ist etwas in Bewegung.
Zwischen 2015 und 2023 ist der Wähleranteil der SVP bei den Nationalratswahlen dort zwar um knapp 10 Prozent gesunken. Vergangenes Jahr konnte die SVP dennoch rund 58% der Stimmen auf sich vereinen.
Doch geht es um die Sache, reisst die traditionell bürgerliche Gemeinde immer wieder aus. 2024 gar fünfmal, auf nationaler wie kantonaler Ebene.
Im März nahm Bargen die 13. AHV-Rente an, und zwar mit dem zweithöchsten Ja-Anteil im Kanton. Sogar in der linksstimmenden Stadt war die Zustimmung prozentual geringer.
Im August sagte das Dorf überdeutlich Ja zur Stellvertreterlösung im Kantonsrat, den neuen Axpo-Vertrag, gegen den ein linkes Komitee Stimmung machte, lehnte die Stimmbevölkerung ab.
Ende November nahm Bargen auch die Umsetzungsinitiative deutlich an – gegenüber der Transparenz-Initiative, die Bargen 2020 noch mit einer Stimme Unterschied abgelehnt hatte, stieg die Zustimmung um 13 Prozent. Aber nicht nur politische Geheimniskrämer haben in Bargen einen schweren Stand, sondern auch Vermieter: Vor zwei Wochen versenkte das Dorf beide Mietrechtsvorlagen, bei der Untermiete war Bargen neben Schaffhausen und Neuhausen damit alleine.
Was ist da los im Swingstate Bargen?
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Nix zu holen für Parteien
Montagnachmittag, der Bus nach Bargen ist ab Merishausen leer. Die Gemeinde zuhinterst im Durachtal macht im fahlen Winterlicht einen etwas trostlosen Eindruck. Auf der A4, die das Dorf seit über 50 Jahren in zwei Hälften teilt, donnern Lkws mit 80 Sachen vorbei.
«Hier wissen die Leute, was sie abstimmen sollen, das muss ihnen keine Partei sagen», sagt Gemeindepräsident Michael Mägerle ein wenig stolz. Die Abstimmungsergebnisse vom letzten Wahlsonntag liegen vor ihm auf dem Sitzungstisch in der Gemeindekanzlei. Dass seine Gemeinde beide Mietrechtsvorlagen abgelehnt hat, erklärt er sich damit, dass 70 der 170 Haushalte im Dorf Mietobjekte sind – ein vergleichsweise hoher Wert.
Für die anderen Ausreisser hat er keine Erklärung. Einen Vergleich mit Beggingen, wo Einwohnerzahl und SVP-Wähleranteil nur leicht höher liegen als in Bargen, weist Mägerle entschieden von sich. «Die sind ja wirklich rechts!»
Wie Mägerle über die Dorfpolitik und die Arbeit im Gemeinderat erzählt, wird eines schnell klar: Auf politisches Hickhack und strikte Parteilinien hat in Bargen niemand Lust.
Wenn es denn überhaupt Parteilinien gäbe.
Ausser der SVP-Sektion gibt es im Dorf keine Ortspartei. Und auch die SVP Bargen ist nicht mehr als eine Hülle. Präsident Erhard Stamm wohnt schon lange nicht mehr in der Gemeinde, und viel mehr Engagierte als die zwei anderen Vorstandsmitglieder habe die Partei auch nicht, hört man im Dorf.
Die Mitglieder des Gemeinderats in Bargen sind alle parteilos. Eine Tradition, die mit einigen Ausnahmen schon lange bestehe, sagt Mägerle. Er selbst sitzt seit 2009 im Gemeinderat und hat das Präsidium seit 2017 inne. «Wir haben nie einen Politiker auf Kantonsebene hervorgebracht. Es gibt keine Alphatiere, die hier lauthals Politik machen und Leute in Parteien mitreissen», erklärt er.
Statt politischen Lagern hat sich hier, im waldumsäumten Kessel am Fuss des Randens, eine Kultur der Offenheit und des Miteinanders entwickelt; quasi die Antithese zum Klischee des abgelegenen Kaffs, in dem jeder in seinem eigenen Gärtchen kehrt. Im letzten verbleibenden Tankstellenshop wird leidenschaftlich über die geköpften Vogelleichen diskutiert, die die Katzen auf die Fussmatten legen. Wer nicht aus Bargen kommt, wird trotzdem geduzt und interessiert danach gefragt, ob man sich hier schon einmal begegnet sei.
Die Lokalpolitik in Bargen ist also stark konsensorientiert. Das muss sie wegen der stets klammen Finanzen und dringend nötigen Investitionen in die Infrastruktur auch sein.
Das erklärt aber noch nicht, warum die Gemeinde in Sachfragen öfters mal links abstimmt. Dafür braucht es einen Blick in die Zahlen. Und einen Anruf bei einer aufgeweckten Rentnerin.
Kleines Dorf, grosser Einfluss
Immer wieder ergeben Nachwahlbefragungen, dass das Portemonnaie an der Urne mitbestimmt. Mit einem durchschnittlichen Einkommen von 57’000 Franken liegt die Bargemer Bevölkerung unter dem kantonalen Schnitt von 63’000 Franken (der nationale Durchschnitt liegt bei 67’000 Franken). Auch in der Altersstruktur hebt sich Bargen vom Kantonsmittel ab: Die 40- bis 64-Jährigen machen in Bargen 43,2% der Bevölkerung aus – im Kanton sind es nur 34,7%. Bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente, so zeigen es Umfragen, stimmten Menschen mit tiefen Einkommen und solche kurz vor dem Rentenalter besonders oft für den Rentenausbau.
Das klare Resultat zugunsten der kantonalen Umsetzungsinitiative hingegen hängt möglicherweise mit einer einzigen Frau zusammen. Babeth Waldburger, die vor 16 Jahren mit ihrem Mann Edi Weber nach Bargen gezogen war, wurde durch eine Forschungsarbeit von Webers Sohn auf das Problem der intransparenten Politikfinanzierung sensibilisiert, erzählt sie am Telefon. Bereits 2020 hat sie für die Transparenz-Initiative gespendet, diesen Herbst hat sie Flyer für die Umsetzungsinitiative in alle Bargemer Briefkästen verteilt. Eine Woche bevor all die anderen Abstimmungsunterlagen eintrafen, wie die 72-Jährige sagt. Und fügt an: «Parteipolitisch bin ich nicht aktiv.»
In einem kleinen Dorf wie Bargen kann das Engagement einer Einzelperson einschenken. Bei der Abstimmung zur Umsetzungsinitiative, an der 106 Personen teilnahmen, war jede Stimme rund ein Prozent wert.
Das weiss auch Babeth Waldburger: «Hier ist eine niederschwellige Mitwirkung möglich. Das spüren die Leute.» Als der grosse Brunnen vor dem heute geschlossenen Gasthof Krone defekt war, war man sich im Dorf uneins, ob er saniert oder abgerissen und kleiner wieder aufgebaut werden sollte, erzählt Waldburger. Jemand aus der Bevölkerung schlug vor, einen Spendenaufruf zu starten, um sehen zu können, was der Brunnen den Bargemern wert war. Und es lag ihnen viel daran – der Gemeinderat sanierte den Brunnen.
Das gallische Dorf
Weshalb Bargen so deutlich Ja sagte zur Stellvertreterlösung im Kantonsrat, bleibt ein Rätsel. Fast nirgendwo im Kanton leben anteilsmässig weniger stimmberechtigte Frauen als in Bargen. Gerade weil das Dorf aber immer wieder damit kämpft, den Gemeinderat vollständig zu besetzen, wissen die Bargemer aber: Engagiert sich jemand, muss man diesen Sorge tragen. Und vielleicht wäre so der Weg in die kantonale Politik leichter gewesen.
Lassen sich einige der Abstimmungs-Ausrufezeichen mit der dorfeigenen Politkultur erklären, hängen die Gründe für die Annahme oder Ablehnung in bestimmten Sachgeschäften vielleicht auch tiefer. In der geradlinigen Hemdsärmligkeit, die der Alltag in einer finanzschwachen Gemeinde erfordert, in der Altersstruktur der Bewohnenden.
Bargen erscheint wie ein gallisches Dorf, das sich in seiner politischen Eigenständigkeit auch eine Freiheit des parteiunabhängigen Denkens bewahrt hat.
Oder wie Michael Mägerle sagt: «Das Dorf steht über allem.»