Das Recht hingebogen

28. November 2024, Marlon Rusch
Symbolbild: Robin Kohler

Die Staatsanwaltschaft hat einen berüchtigten Unternehmer, der einen Mann auf ­offener Strasse mutmasslich mit einer Pistole bedrohte, zu Unrecht freigesprochen. Das zeigt ein ­Dokument, welches die AZ vor Gericht erstritten hat. Eine Analyse.

Im Sommer 2023 berichtete die AZ über einen stadtbekannten Unternehmer, der in der Schaffhauser Altstadt mutmasslich einen jungen Mann mit einer Pistole bedroht hatte und ihn damit zwingen wollte, ihm Informationen zu geben. Wir recherchierten über mehrere Jahre zum Fall, werteten Quellen aus, darunter verschiedene Gerichtsurteile, und sprachen mit Expertinnen, Strafverfolgungsbehörden und Beteiligten (nachzulesen hier). 

Der Fall interessiert uns, weil der Unternehmer in Schaffhausen für seine unzimperlichen Geschäftspraktiken und seinen rabiaten Umgang mit anderen Menschen berüchtigt ist – in der Regel mit seinem Tun jedoch davonkommt. So geschah es auch in diesem Fall: Der junge Mann erstattete Anzeige und die Schaffhauser Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Drohung, Nötigung und Widerhandlung gegen das Waffengesetz. Nachdem der mutmassliche Täter dem Opfer aber eine stattliche Summe gezahlt hatte (gemäss Informationen der AZ bekam der junge Mann einen fünfstelligen Geldbetrag, damit er seine Anzeige zurückzieht), stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Der Unternehmer wurde nicht bestraft.

Der Verdacht der AZ: Es handelte sich um einen Fall von Zwei-Klassen-Justiz, bei dem sich ein einflussreicher Mann unrechtmässig von der Strafverfolgung freigekauft hatte. Wir  leiteten in unserem Artikel her, dass kaum ein Szenario denkbar ist, bei dem die Einstellung rechtens gewesen wäre. Beweisen konnten wir das jedoch nicht, da sich der Unternehmer und die Staatsanwaltschaft dagegen wehrten, dass die AZ die Einstellungsverfügung einsehen konnte, jenes Dokument also, in dem die Staatsanwaltschaft begründen musste, warum sie den Fall einstellte, ohne Anklage zu erheben. 

Also versuchten wir mit einem Rekurs an den Regierungsrat, das Dokument zu erstreiten, doch der Regierungsrat liess uns ebenfalls abblitzen. Schliesslich reichten wir beim Obergericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein. 

Nun liegt das Gerichtsurteil vor: Die AZ gewinnt gegen den berüchtigten Unternehmer und die Schaffhauser Staatsanwaltschaft. Wir dürfen die Einstellungsverfügung einsehen (siehe Box unten). Und das vom Frühling 2022 datierte Dokument beweist, was wir vor über einem Jahr geschrieben haben: Dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Unternehmer eingestellt hat, ist kaum zu rechtfertigen. Mit dem Fall hätte sich ein ordentliches Gericht befassen müssen. Die Staatsanwaltschaft hat das Recht hingebogen, um den Fall ad acta legen zu können. 

In dubio pro duriore

In der Einstellungsverfügung machte der  zuständige Staatsanwalt Martin Bürgisser drei Argumente. 

Weil der Unternehmer und der junge Mann sich aussergerichtlich geeinigt hatten (die Geldzahlung), so Bürgisser, könne die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Drohung einstellen. Diese Argumentation ist korrekt, denn eine Drohung ist ein sogenanntes Antragsdelikt, es wird nur ermittelt, wenn das Opfer Ermittlungen fordert. 

Beim Vorwurf der Nötigung und der Widerhandlung gegen das Waffengesetz handelt es sich jedoch um Offizialdelikte, also um Delikte mit einer gewissen Schwere, bei denen die Staatsanwaltschaft auch ermitteln muss, wenn keine Anzeige vorliegt.

Bezüglich der Nötigung – also dazu, dass der Unternehmer den jungen Mann mit der Pistole gezwungen haben soll, ihm Informationen zu geben –, schreibt Bürgisser, die Beweislage sei uneindeutig. In den polizeilichen Befragungen hätten die verschiedenen Beteiligten «nicht völlig deckungsgleiche Aussagen» zur Frage gemacht, was der Unternehmer mit der Pistole bezwecken wollte. Es scheine zwar klar, dass er ihn «zu einem bestimmten Verhalten zwingen wollte», wozu genau, sei jedoch «nicht ganz klar geworden». Also hat Staatsanwalt Bürgisser das Verfahren wegen Nötigung eingestellt. 

Diese Begründung wirkt sehr gesucht. Die Staatsanwaltschaft hat ursprünglich Ermittlungen aufgenommen, weil ein «hinreichender Tatverdacht» bestand und es «klare Anhaltspunkte» gab, auch für den Straftatbestand der Nötigung. Dass nun «nicht völlig deckungsgleiche Aussagen» vorliegen und «nicht ganz klar geworden» ist, was der Unternehmer mit der Pistole genau bezwecken wollte, ist kaum ein hinreichender Grund, die Ermittlungen einzustellen. Nach dem Grundsatz in dubio pro duriore müsste die Staatsanwaltschaft selbst bei einem vagen Verdacht, dass es eine Nötigung gegeben haben könnte, Anklage erheben. So könnte sich ein unabhängiges Gericht ein Urteil bilden. Das hat die Staatsanwaltschaft mit ihrer Einstellungsverfügung verhindert.

Und auch beim dritten Anklagepunkt, der Widerhandlung gegen das Waffengesetz, argumentiert Staatsanwalt Bürgisser nicht nachvollziehbar. 

Das Sturmgewehr hinter dem Ofen

Nachdem der Unternehmer den jungen Mann mutmasslich auf offener Strasse mit einer Pistole bedroht hatte, durchsuchten Polizeibeamte am frühen Morgen des 2. November 2018 seine Altstadtwohnung und fanden dabei mehrere Waffen. Darunter einen Schreckschussrevolver, eine Luftdruckpistole sowie ein Sturmgewehr 57. Die Pistole, mit der er mutmasslich den jungen Mann bedroht hat, konnte jedoch laut Aussage des Staatsanwalts «nicht identifiziert und sichergestellt werden».

Das Sturmgewehr 57 aber, die frühere Standardwaffe der Schweizer Armee, die heute noch viele ehemalige Soldaten zu Hause haben, stand beim Unternehmer ungesichert mit eingesetztem Verschluss und eingesetztem Magazin hinter dem Kachelofen im Wohnzimmer – offenbar jederzeit einsatzbereit.

Staatsanwalt Bürgisser geht in seiner Einstellungsverfügung punkto Waffengesetz nur auf diese «vorschriftswidrige Aufbewahrung des Sturmgewehrs 57» ein, welche er als eine «Übertretung» interpretiert.

Neben Verbrechen (schweren Straftaten mit einer Mindestgefängnisstrafe von einem Jahr, etwa Raub oder Mord) und Vergehen (minderschweren Straftaten, die mit Geldstrafen erledigt werden können, etwa Diebstahl oder Beleidigungen) sind Übertretungen die Lappalien des Strafrechts (darunter fällt etwa Kiffen oder falsches Parkieren). 

Bei Widerhandlungen gegen das Waffengesetz kennt die Schweizer Justiz erfahrungsgemäss kein Pardon. Kleinste Verstösse werden hart bestraft. Wenn jemand seine Schusswaffe «fahrlässig» – also ohne Vorsatz – nicht sicher aufbewahrt, kann das zwar als reine Übertretung gewertet werden. Wenn jedoch ein Mann, der einen anderen Menschen auf offener Strasse mit einer Pistole bedroht hat, sein Sturmgewehr zuhause in der Stube mit eingesetztem Magazin und allzeit griffbereit hinter dem Ofen lagert, ist das kaum «fahrlässig» und müsste eigentlich als Vergehen gewertet werden.

Der grosse Unterschied im vorliegenden Fall: Ein Vergehen gegen das Waffengesetz verjährt erst nach sieben Jahren, eine Übertretung bereits nach drei Jahren. Indem Staatsanwalt Martin Bürgisser nur eine Übertretung feststellte, konnte er die Strafverfolgung gegen den Unternehmer nach dreieinhalb Jahren wegen Verjährung einstellen. Das hat er getan. Somit waren alle drei Anklagepunkte vom Tisch, der Fall konnte zu den Akten gelegt werden. 

Vermutlich haben alle Beteiligten davon profitiert. Der junge Mann bekam eine Stange Geld dafür, dass er im Gegenzug die Vereinbarung unterschrieb. Der Staatsanwalt hatte einen mühsamen Fall weniger auf seinem Berg an unerledigten Fällen. Der Unternehmer kam straffrei davon.

Gelitten hat jedoch der Rechtsstaat, der zugelassen hat, dass sich ein einflussreicher Mann von seiner Strafe freikauft.