Migräne hat Praxedis Kaspar-Schmid jahrzehntelang in Schmerz und Ungewissheit gestürzt. Daraus ist ein persönlicher Ratgeber entstanden.
«In meinem Kopf wächst eine Art Lavamasse, die sich ausdehnt, aufquillt, an die Schädelwände stösst, während gleichzeitig von aussen ein eiserner Ring eng und enger um meinen Kopf geschraubt wird. Von innen drängt es nach aussen, von aussen nach innen. (…) Wenn ich mich auf meinem Bett von einer Seite auf die andere drehe, kommt der Brechreiz, mein Magen sondert Galle ab, deren Bitterkeit im Mund hängen bleibt.»
Mit solchen Migräneanfällen lebt Praxedis Kaspar-Schmid seit bald 60 Jahren. Schmerz in unterschiedlicher Heftigkeit und Regelmässigkeit haben ihr Leben seit Kindstagen begleitet, bestimmt, teilweise fast zerstört. Jetzt, mit 74 Jahren, ist die Schaffhauserin die chronischen Kopfschmerzen und Übelkeitsattacken dank eines neuen Medikaments grösstenteils los.
Wäre ein solches schon fünfzig Jahre eher gefunden worden – ihr Leben wäre wohl anders verlaufen. Doch damit hadert Kaspar-Schmid heute nicht mehr. Stattdessen hat die Journalistin und Autorin, ehemalige langjährige AZ-Redaktorin und heutige -Kolumnistin, ihre Lebens- und Leidensgeschichte aufgeschrieben. Damit will sie Betroffenen und deren Umfeld helfen.
Ihre Biografie ist Teil eines Ratgebers, den ihr Neurologe Andreas Rudolf Ganteinbein angestossen hatte. Der in Zurzach und Bülach praktizierende Kopfschmerzspezialist wollte einen Ratgeber für Betroffene schreiben, der den therapeutischen Zeigefinger in der Kitteltasche lässt, wie er im Vorwort schreibt. Und habe mit Praxedis Kaspar-Schmid nach langer Suche die perfekte Co-Autorin gefunden.
Der 100-seitige Band «Leben mit Migräne. Erfahrungen und Ratschläge einer Patientin und ihres Neurologen» bündelt Kaspar-Schmids Geschichte, Gespräche zwischen Patientin und Arzt, medizinische Fachinformationen und Tipps für Migränikerinnen.
Das Autoren-Duo will damit über den persönlichen Zugang die Sichtbarkeit und das Verständnis für die Migräne-Krankheit erhöhen – auch bei Nichtbetroffenen. Gelingt das?
Geschickter Bogen
Seine inhaltliche Tragweite kündigt das schmale Buch schon in den ersten Seiten an. Praxedis Kaspar-Schmids Lebensgeschichte ist nicht nur Zeugnis eines besonders schlimmen und hartnäckigen Krankheitsverlaufs von Migräne. Sie ist auch Abbild einer medizinhistorischen Entwicklung, die sich im Zeitlupentempo abspielte: Bis in die Siebzigerjahre blieb Migräne im Medizinstudium völlig unerwähnt, erst in den Neunzigerjahren kamen erste Medikamente zur Akutbehandlung auf den Markt. Die Wirkung dieser «Triptane» konnte sich bei übermässigem Konsum allerdings schnell ins Gegenteil verkehren und den Schmerz verstärken – ein Teufelskreis, in dem sich auch Kaspar-Schmid verfing.
Bis zu einer Million Menschen in der Schweiz sind von der vermutlich genetisch vererbten Krankheit betroffen. Wohl mit ein Grund, weshalb die Migräneforschung trotzdem nur schleppend voranging: Frauen erkranken dreimal häufiger als Männer.
Wer von dieser häufigsten neurologischen Erkrankung betroffen ist, hat einen falsch arbeitenden Rezeptor in der zentralen Schmerz- und Reizverarbeitung, der heftigere Reaktionen auf Reize auslöst als bei Nichtbetroffenen. Was dabei im Hirn genau passiert, kann die Forschung bis heute nicht sagen.
Und Co-Autor und Neurologe Andreas Rudolf Gantenbein weiss auch gar nicht, wie sich Migräne anfühlt. Genau deswegen will er Betroffenen das Wort überlassen. Mit Praxedis Kaspar-Schmid hat er eine Co-Autorin, die trotz jahrelangen Schreibens nur über ihre Krankheit nie ein Wort verfasst hat. Und es dann in einer Art tut, die einen leer schlucken lässt.
Die zermürbende Konstante
Kaspar-Schmids Erfahrungsbericht «Migräne leben» ist die Geschichte eines bewegten Lebens, das vor der Krankheit immer wieder stillstand.
Als Mädchen sorgt sich Kaspar-Schmid schon um die oft bettlägerige Mutter, bevor die Migräneanfälle mit knapp 16 Jahren auch bei ihr einsetzen und ihren Alltag mit ständigen Schmerzen überziehen. Zur Krankheit dazu kommt ein Bruch mit dem Elternhaus, weil die Tochter früh heiratet und mit 28 Jahren Mutter dreier Söhne ist. Die Migräne trägt sie als Schatten stets mit sich: «Hast du Kopfweh heute, fragen die Kinder, wenn ich sie am Morgen wecke. Hast du Kopfweh heute, habe ich als Kind jeden Morgen meine Mutter gefragt», beschreibt Kaspar-Schmid die unheilvolle Parallele.
Als sie Mann und Kinder nach 14 Jahren Ehe verlässt, am Existenzminimum lebt und ihr ältester Sohn mit neunzehn Jahren an einem Hirntumor verstirbt, stürzt Kaspar-Schmid in ein tiefes Loch. Nur die Sinnlosigkeit ihres eigenen Todes für ihre Kinder hält sie am Leben. Ein Cocktail aus Antidepressiva und Migräne-Medikamenten beschert ihr eine Palette an Nebenwirkungen, die man sich ungern genauer ausmalt. Und immer mit dabei: das unaufhörliche Hämmern im Kopf. Ist es nicht da, verdirbt die Angst vor seinem baldigen Wiedereinsetzen jegliche Zuversicht im Alltag.
Erst, als sie sich in eine Rehaklinik begibt, verbessert sich Kaspar-Schmids Zustand. Damals ist sie gut sechzig Jahre alt. Doch die Milderung hält nicht an. Wenige Jahre nach ihrer Pension kehrt die Krankheit in aller Härte zurück. Kaspar-Schmid muss 70 Jahre alt werden, bis in der Medikamentenforschung der Durchbruch gelingt – und sie dank einer Spritze ein Leben führen kann, in dem sie fast migränefrei ist.
Der Preis: Praxedis Kaspar-Schmid muss sich nach fast sechzig Jahren Schmerz und Zurückgebundensein die Frage stellen, wer sie ohne die Krankheit überhaupt ist. Und wer sie hätte sein können.
Es ist eine eindrückliche, poetische Abhandlung eines Lebensweges, der in berufliche Erfolge und privates Glück hinauf und immer wieder in tiefste Abgründe führt. Kaspar-Schmid erzählt im Präsens, schmückt die Lebensabschnitte mit Details aus. Sie schreibt viel in Metaphern, malt mit Wörtern schaurige Bilder des Schmerzes, die trotzdem so unmittelbar sind, dass man sich immer wieder in der Frage verliert, ob das Geschilderte die heutige Realität der Autorin oder doch eine erinnerte ist.
Ob der Langwierigkeit des Leidens befällt einen mit der Zeit eine Ohnmacht. Ein wenig aber auch wegen der gewaltigen Sprache. Mancherorts hätte mehr sprachliche Nüchternheit dem Leid mehr Platz gelassen, ein Fremdwort weniger das literarische Geschick der Autorin nicht ganz so offensichtlich ins Zentrum gerückt. Ob sich mit Umschreibungen wie «Der Schmerz ist ein Popanz» viele Betroffene identifizieren können, ist fraglich.
Mit ihrer Erzählung schafft sich der Ratgeber selbst ein Herzstück, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Ein Kern aber auch, der die restlichen, medizinisch fundierten und stärker auf die Behandlung ausgelegten Teile damit zwangsweise abfallen lässt.
Tipps und Tricks aus erster Hand
Wer im Erfahrungsbericht nicht ganz nachkommt, erhält in den anschliessenden Interviews – Andreas Rudolf Gantenbein stellt erst Fragen an seine Patientin, danach umgekehrt – noch einmal eine Kurzzusammenfassung. Diesmal in einer einfacher zu fassenden Sprache. Praxedis Kaspar-Schmid gibt auch hier spürbar den Ton an, der Mediziner Gantenbein bleibt neben ihr auch mit seiner jahrelangen Erfahrung als Neurologe eher im Hintergrund.
Es folgen «Migräneslogans», Kurzanleitungen und -tipps für Betroffene, die aus Visiten bei Migränikern und Migränikerinnen im von Gantenbein betreuten Kopfschmerzprogramm stammen. Darin wird auch klar, dass die bildliche Sprache, die Kaspar-Schmid verwendet, nicht von ungefähr kommt. Weil die Krankheit weder fassbar noch sichtbar ist, muss der Schmerz für Aussenstehende umschrieben oder verglichen und damit immer auch ein Stück weit verzerrt werden.
Die Begriffe im abschliessenden Migräne-ABC scheinen teilweise ein wenig gesucht, liefern in angenehmer Kürze und Verständlichkeit aber interessante Fakten, die hängenbleiben.
So ergibt sich im Ratgeber in gebotener Kürze ein umfassendes Bild einer Krankheit, die sporadisch mühsam sein, oder in Praxedis Kaspar-Schmids Fall eben ein Menschenleben in ihren Fesseln halten kann. Ein Sachbuch mit literarischer Hälfte, die zuweilen überbordet, die Lektüre allerdings lohnt.
Der Ratgeber «Leben mit Migräne» ist im Kohlhammer Verlag erschienen. Am 25. November 2024 findet um 19.30 Uhr in der Stadtbibliothek eine Buchpräsentation mit Gespräch, Kurzlesung und Fragerunde statt.