«Fuck haters»

19. November 2024, Simon Muster
Steve Merson macht einen Dab für die Kameras. (Der Dab ist eine Tanzfigur aus dem Jahr 2015, bei der der Kopf nach unten sinkt und ein Arm hochgehoben wird.) Foto: Robin Kohler

Seine Fans lieben ihn für seine Geschenke. Der Kanton lud den Influencer Steve Merson zum Real-Talk ein. Wir haben zugehört.

Wir stehen an diesem grauen Sonntagnachmittag an einem Stehtisch in der grauen VIP-Loge im Stadion des FC Schaffhausen in Herblingen. Unter uns auf dem Kunstrasen fährt die dritte Mannschaft des FCS gerade einen Konter über die linke Seite, die Angreifer versammeln sich im Strafraum. Die Flanke fliegt ins Nirgendwo, Abstoss Cholfirst United 1. 

Steve Merson – Ed-Hardy-Mütze, eckige Sonnenbrille, schwarze Lederjacke – schaut zu, zieht kräftiger an seiner Zigarette. «Ein Interview während einem Fussballspiel, das ist neu für mich.» Der Manager des Influencers nickt. Dann drückt Merson die Zigarette aus. «Bitte keine Bilder beim Rauchen.»

Auch für uns ist es eine ungewohnte Situation – wir spüren den Blick des grimmigen Sicherheitsmannes im Nacken, der uns auf die Tribüne gefolgt ist. Der Zürcher Influencer hat ihn engagiert, er soll die vielen Jugendlichen, die Merson offenbar erwartet, in Schach halten. Wie Anfang Jahr in Uster, als der 32-jährige Steve Merson auf seinen Kanälen (307 000 Follower und 6,7 Millionen Likes auf Tiktok) in einem Video ankündigte, gratis Döner zu verteilen. Über 100 Jugendliche tauchten auf. Der Influencer bot zwar selbst fünf Bodyguards auf, aber nach zwei Stunden schritt die Stadtpolizei Uster ein und brach den Event ab. Ein anderes Mal stürmt er mit einer jungen Frau und einer Traube Jugendlicher im Schlepptau durch die Kosmetikabteilung eines Einkaufszentrums. Sie durfte alles, was sie innerhalb von zehn Sekunden in den Einkaufskorb legen konnte, behalten. 

Das ist das Socialmedia-Phänomen Steve Merson: Er verschenkt Essen, Elektroscooter oder auch Lehrstellen, die ihm von Firmen oder Restaurants gesponsert werden, an seine jungen Fans. Merson nennt das «etwas zurückgeben»; man könnte es auch Werbung nennen. 

Im Stadion in Herblingen soll Merson nun aber keine Geschenke, sondern Weisheiten verteilen. Auf Einladung der Fachstelle Gesundheitsförderung, die im Kanton für Prävention und Gesundheitsthemen zuständig ist, lädt der Influencer im Rahmen der Aktionstage psychische Gesundheit zum Real- und Deep-Talk ein. Also zu einem Gespräch darüber, wie es um die psychische Gesundheit der Jugendlichen steht.

Es sei das erste Mal, dass er an einer Veranstaltung dieser Art teilnehme, sagt Merson. «Sonst mache ich ja Entertainment.» Erst kürzlich habe er aber bereits mit der Fachzeitschrift «Suchtmagazin» über das Thema psychische Gesundheit in den soziale Medien gesprochen. Merson selbst wuchs einen Teil seiner Kindheit bei seinem drogensüchtigen Vater auf. Vor ein paar Jahren erkrankte der Influencer dann an Long Covid, fiel in eine Depression. «Wenn ich die Kids auf der Strasse treffe, tun sie immer so, als wären sie happy. Auf Snapchat schreiben sie mir dann aber von ihren Problemen: Beziehungen, Mobbing, drogensüchtige Eltern», erzählt Merson. 

«Und was sagst du ihnen dann?»

«Ich höre ihnen zu und gebe ihnen mit, was Pädagogen ihnen empfehlen würden.» Wir warten, ob noch mehr kommt. 

Schliesslich fragen wir: «Warum hören sie auf dich?»

«Weil ich immer ich selbst bin.»

Empathisch chaotisch

Als Merson die Bühne betritt, haben auf den vielen aufgereihten Stühlen rund dreissig Jugendliche und eine Handvoll Eltern Platz genommen. Aus dem einzelnen grimmigen Sicherheitsmann sind nun drei geworden. Einer seiner Kollegen steht neben einem farbigen Glücksrad; ein anderer bewacht einen Tisch mit Mineralwasser und Süssigkeiten. 

Die Idee, einen Influencer wie Merson einzuladen und so möglichst viele Jugendliche für die Veranstaltung zu begeistern, sei nach einer Umfrage bei den Lernenden in der Kantonsverwaltung entstanden, erklärt Ivy Schuckert von der Gesundheitsförderung. «Mit einer klassischen Kampagne dringen wir nicht zu den Jugendlichen durch.» Zur Gage von Merson kann sie keine Auskunft geben, nur, dass die drei Anlässe der Aktionstage insgesamt mit 13 000 Franken gekostet hätten. Und dass der Deep-Talk mit dem Influencer der teuerste war.

Die Strategie scheint aufzugehen, zumindest teilweise. Die rund 30 Jugendlichen sind interessiert und können über ihr Smartphone interaktiv an der Diskussion teilnehmen. Zwischendurch werden Quizfragen auf der Leinwand eingeblendet, zur psychischen Gesundheit (44 Prozent der Jugendlichen sind gemäss einer Umfrage der Gesundheitsförderung bereits einmal Opfer von Mobbing oder Beleidigungen geworden) oder zu Steve Mersons Leben (seine Abschlussnote im KV: 5). Manche erzählen ihm von Mobbingerfahrungen oder von Dingen, die sie glücklich machen. Der 32-jährige Merson, der sich selbst schon als Vorbild der Generation Z («wie Ronaldo») bezeichnet hat, ist ein empathischer Zuhörer. Er fragt nach, bittet einzelne auf die Bühne, um schwierige Situationen nachzuspielen. «Es ist sehr stark, Emotionen zuzulassen», antwortet er einer Person aus dem Publikum, die erzählt, sie habe schon mal die Nummer 147 für Hilfe angerufen. 

Der Deep-Talk ist aber auch chaotisch, er mäandriert wie ein wildgewordener Algorithmus zwischen den unterschiedlichsten Themen: von Mersons Lieblingslied zu depressiven Gedanken, die Jugendliche plagen, vom Musiker Capital Bra zur Mentalität von Schweizern, Italienern und Türkinnen. Merson tritt wie in seinen Kurzvideos bestimmt und laut auf, seine Antworten sind schnell gschnitten und lassen wenig Grautöne zu. Nicht immer wirkt das, was der Influencer seinen jungen Fans auftischt, vollends durchdacht. Als er aus dem Nichts erzählt, dass er sich als Jugendlicher ohne Musik das Leben genommen hätte, sieht man der sonst souveränen Moderatorin die Überforderung an. 

Mässiger Andrang

Der Elefant im Raum aber: Wie wenige Jugendliche für den Influencer aufgetaucht sind. «Wir sind zufrieden mit der Veranstaltung, haben aber schon mit mehr Jugendlichen gerechnet», so das Fazit von Projektleiterin Bettina Gasser. 

Kurz vor Beginn der Veranstaltung hatte Merson noch in einem Livevideo auf Tiktok seine Fans aufgefordert, ins Stadion nach Herblingen zu kommen. Der 13-jährige Enis sass zu diesem Zeitpunkt in der Zwinglikirche und klickte sich durch seinen Tiktok-Feed. «Als ich gesehen habe, dass Steve Merson in Schaffhausen ist, habe ich sofort meinem Kollegen geschrieben und mich auf den Weg gemacht.» Er und sein Kollege, der 12-jährige Bleon, gefällt, dass Merson offen über sich und seine Probleme spricht. «Und was nehmt ihr von heute mit?» «Dass Gewalt keine Lösung ist.» 

Dann stellen sich die beiden in die Schlange, die sich vor Merson gebildet hat, um ein Selfie zu machen oder ein Kurzvideo mit ihm zu drehen. Merson verschenkt doch noch etwas: Dönergutscheine und Tickets zu einem Rapfestival. Und eine letzte Weisheit. «Gebt nie auf, macht, was ihr richtig findet und» – beide Mittelfinger ausgestreckt – «fuck haters».