Piera Honegger kreiert High Fashion, die Berühmtheiten begeistert. Eurovision-Star Nemo trug eines ihrer Werke. Doch mit der Modebranche kann die Schaffhauserin nichts anfangen.
Im Grossraumatelier türmen sich Stoffberge, Schneiderpuppen versperren die engen Gänge, Skizzen von Menschen mit langen Beinen baumeln von Pinnwänden. Hier, im dritten Stock der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel, teilen sich 25 angehende Modedesigner ihren Kreativspot. Jede hat ihr Pult, ihre Kleiderstange. Am Fenster baumeln Kordeln aus Jeansstoff von der Decke. Hier ist Piera Honeggers Platz.
Seit Sommer 2023 lebt die 21-Jährige mehrheitlich in Basel, wo sie mittlerweile im dritten Semester Modedesign studiert.
Aufgewachsen ist Honegger auf dem Emmersberg. In der Kunstszene ihrer Heimat trat sie schon ein paar Mal in Erscheinung: An der Interna 22 stellte sie in der Kammgarn aus und wirkte an kleineren Modeshows mit. Diesen Sommer stand sie als Pianistin der Band Klub Mathé auf der Talent Stage des Stars in Town. Und: ESC-Star Nemo trug am Openair Gampel einen ihrer Looks auf der Bühne.
Dass jemand auf einer grossen Bühne trägt, was sie hier fabriziert, habe sie «gepusht», sagt Honegger, als sie sich auf ihren Ateliertisch setzt und die Füsse auf dem Stuhl abstellt.
Es ist auch ein kleiner Triumph über das System. Denn die Jungdesignerin wählt in ihrer Kunst einen Weg, mit dem sie sich den Mechanismen der heutigen Modebranche bewusst entgegenstellt.
Frei nach Fundus
Piera Honegger macht Kunst aus Material, das andere in die Tonne kippen. Unter ihren Füssen reihen sich Kartonkisten mit Stoffresten aneinander, in einem 90-Liter-Abfallsack wartet ein gigantischer Knäuel aus schwarzweiss gestreiften Jersey-Bahnen auf seine modische Auferstehung. An der Kleiderstange daneben hängen einige ihrer Entwürfe. Ein dunkler fransender Pulli, dessen mehrschichtige Stoffstreifen in der Mitte V-förmig ineinanderfliessen. Eine kurze, grellpinke Jacke aus einer alten Matratze, an die sie gerade noch eine Kapuze annähen will. Ein blumiges Patchwork aus gerafften, bunten Stoffen, von dem Honegger noch nicht genau weiss, ob es Oberteil oder Jupe sein soll.
Honeggers Teile sind Unikate. Weil sie nur mit Stoffresten arbeitet, kann sie kein Stück ein zweites Mal fertigen. Das Material fischt sie aus der Restekiste der Schule oder bekommt es geschenkt. Das hat einerseits ökologische Gründe: Seit Jahren trägt Honegger privat nur Second-Hand-Kleidung, über die noch immer dominierende Fast Fashion in der Modebranche kann sie sich blitzartig in Rage reden. Andererseits kanalisiert sie mit dieser Einschränkung ihre Kreativität. «Würde ich zusätzlich neue Stoffe verwenden, wären die Möglichkeiten noch grenzenloser», sagt die Designerin.
Um sie schneller abändern zu können, verfasse sie viele ihrer Ideen statt im dicken Skizzenbuch mittlerweile digital, sagt Honegger. Mit ihren Einfällen hantiert sie schnell und sprunghaft. «Notiere ich heute zehn Ideen, überzeugen mich morgen sieben davon nicht mehr», sagt die Studentin. Vieles verleide ihr schnell, Stoffe wie Technik.
Neue Projekte entstehen bei Honegger primär vom Stoff ausgehend, über den sie gerade stolpert, und weniger von einer fixen Vorstellung der Designerin ausgehend. «Diese Fäden», sagt Piera Honegger und fasst wie zur Demonstration tief in den Abfallsack mit den schwarzen Stoffstreifen, «habe ich gesehen und dachte: geil!» Was genau daraus werden soll, ergebe sich dann «im Prozess».
Ihre wichtigste Ressource dabei: Intuition. Und weil sie nur mit Reststoffen arbeitet, vertraut sie dieser ziemlich blind, schneidet, färbt und näht dem Bauchgefühl entlang, bis sie am Ende einen Entwurf in den Händen hält. «Das gefällt mir dann, oder eben nicht.»
Früh übt sich
Hört man ihr zu, könnte man meinen, Honegger sei schon immer Modemacherin gewesen. «Meine Mutter erzählte mir letztens, dass ich mich schon als Kind immer selbst ankleiden wollte», sagt Piera Honegger. Daran mag sie sich zwar nicht erinnern, aber gebastelt, genäht und gezeichnet habe sie schon früh. Mit den Schnittmustern ihrer Mutter, einer Handarbeitslehrerin, habe sie zuhause Etuis und Puppenkleider genäht, und dann irgendwann beschlossen, es mit Kleidern für Menschen zu probieren.
Modedesignerin werden, das wollte sie schon in der Oberstufe.
Seit 2020 teilt Piera Honegger ihre Entwürfe auf einem Instagram-Account, dem gut 400 Menschen folgen. Anfangs, noch während sie die Kantonsschule besuchte, zeigte sie dort einzelne Stücke; einen Hut aus einem alten Kissen, einen mehrlagigen Jupe aus Joghurtkartons. Die Bildunterschriften – ein Fest der Lakonik: «En chüssihuet» und «Joghurtkonsum». Bald nach der Matura bezog Honegger ein Atelier im Westflügel der Kammgarn, das sie aber mit dem Umzug nach Basel wieder aufgeben musste. Ab 2022, als Honegger an der Zürcher Hochschule der Künste das Propädeutikum absolvierte, tauchen auf ihrer Instagram-Seite ganze Looks auf, aufwändig designt und inszeniert. Mit diesem Dossier hat sie im Frühling 2023 die Aufnahmeprüfung an die Basler Hochschule geschafft.
Bei aller Leidenschaft für die Sache und dem intakten Selbstverständnis als Künstlerin drückt doch auch immer ein wenig Selbstironie durch Piera Honeggers Sätze. «Fragt mich nicht, warum genau ich was mache», sagt sie. So, als wäre alles hier, auch der Erfolg mit Nemo, einfach ein guter Zufall.
Dabei weiss die Schaffhauserin künstlerisch ziemlich genau, was ihr zusagt – und was nicht.
Mehr Kunst als Mode
«Mir gefallen komplexe Stoffe», sagt Piera Honegger und holt ihre Stoffmusterkiste hervor. Mit rotem Faden steht ihr Name daraufgestickt – ein Geschenk ihrer Mutter, um Ordnung in die Nähsachen der damaligen Primarschülerin zu bringen. Darin liegen zwei Dutzend Proben, lagenweise Streifen auf einen Stoff genäht, manchmal vier, fünf aufeinander. Dazwischen Risse, die die unteren Schichten sanft hervortreten lassen.
Ihr momentanes Lieblingsstück aber hängt über ihrem Tisch: Ein Muster aus Denim- und drei, vier weiteren Stoffen, die sich über einem roten Netzstoff in Bahnen schlängeln. Diese Technik hat sie für ihren neusten Look verwendet, der mit seiner ausgefallenen Silhouette sofort den Blick fängt. Puffärmel aus alten Jeans über hautengen roten Ärmeln, ein Puff-Detail aus Denim an jedem Finger, eine ausladende Schlaghose.
Alltagstauglich ist ein Bruchteil von Piera Honeggers Entwürfen. Sie kämpfe öfters damit, dass ihre Teile am Körper durch die vielen Schichten und die komplexe Machart nicht gut halten. Bei den Eierkarton-Looks (Bildunterschrift: «Ei-ngekleidet») habe sie fürs Shooting konstant die Hilfe einer Freundin gebraucht, um die Teile zusammenzuhalten, bei der Jacke aus Luftpolsterfolie ebenso. Wie Nemo ihre schwere Hose, die ausschliesslich aus verwebten Stoffstreifen ohne Innenkleid besteht, für eine gesamte Bühnenshow habe tragen können, sei ihr bis heute schleierhaft. In Zukunft sollen ihre Outfits aber genau für solche Auftritte tauglicher werden.
Die meisten ihrer Teile würde sie denn auch nicht auf der Strasse tragen, sagt Piera Honegger. Kleidung für den Tagesgebrauch zu kreieren, ist aber auch gar nicht ihr Ziel.
Post High Fashion
Zwischen «ready-to-wear-Kleidung» für den Alltagsgebrauch und High Fashion – primär an Modeschauen, auf roten Teppichen und an Shootings zu sehen – liegen eben Welten, erklärt Honegger. «Ich bewege mich eher in der Kunst- als in der Modewelt», sagt sie. Sie wolle designen für Leute, die performen. Die ihre Entwürfe auch als Kunst ansehen.
Von der High Fashion-Branche will die Modedesignerin dennoch nichts wissen. «Da kenne ich mich gar nicht aus, ich kann vielleicht drei Marken aufsagen», sagt sie lachend. Grosse Brands wie Dior oder Prada machten mittlerweile zwar Alltags- und High Fashion-Kollektionen. Aber: «Dior macht doch keine Kunst!» Letztens hätte ihre Klasse in einer Vorlesung die neue Show des Haute-Couture-Labels Balenciaga angeschaut. «Das macht nicht viel mit mir.»
Ihre Inspiration hole sie sich denn auch eher von Künstlerinnen als auf dem Runway. «Das Installative, vielleicht auch das Pompöse, das gefällt mir. Wenn man in einen Raum hineinkommt, einen Look ansieht und erstmal denkt: ‹Uff, das versteh ich nicht.› Und sich dann darauf einlässt und Dinge entdeckt, das finde ich spannend.»
Mit dieser Vorliebe für die Extravaganz scheint Piera Honegger im Atelier der Basler Hochschule gut aufgehoben. Ein meterlanger Filzmantel baumelt vor einem Fenster, ein Kleid aus mit Leim verhärtetem Stoff liegt wie bei antiken Statuen in kunstvollen Falten um eine Puppe drapiert. Hier haben alle ihren eigenen Stil. «Wir inspirieren uns gegenseitig, statt in Konkurrenz zueinander zu stehen», erzählt Honegger.
Die Freiheit vor dem Sturm
Statt Noten gibt es nach der Aufnahmeprüfung bis zur Bachelorarbeit hier nur mündliche Rückmeldungen. In einzelnen Intensivwochen vertiefen sich die Studierenden in spezifische Themen wie Hose oder Jacke, um das Gelernte dann direkt umzusetzen. Gerade hat die mehrwöchige «Studiophase» begonnen, in der die angehenden Modedesignerinnen abgesehen von einigen Mentoratslektionen ganz sich selbst überlassen sind. Der Auftrag, wie Piera Honegger ihn auffasst: «Macht irgendetwas!»
Eine grosse künstlerische Freiheit, die aber auch ihre Tücken birgt: Sie selbst arbeite sehr strukturiert und schaffe deswegen auch meist ein Produkt fertig, sagt Honegger. Als Werk einen unabgeschlossenen «Arbeitsprozess» abzugeben, sei aber auch akzeptiert.
Davon können andere nur träumen. Mitte Oktober war Honegger mit ihrem Jahrgang bei einer Projektwoche in Antwerpen, wo eine der renommiertesten Modedesignschulen Europas steht. «Dort heisst es: Mach eine krasse Hose, und sonst geh», erzählt sie.
Die Härte der Modebranche ausserhalb der vier Wände ihres Ateliers hat sie auch mit Nemos Auftritt in ihrem Dress zu spüren bekommen. Geld habe sie für die Ausleihe nicht bekommen, das sei aber die Norm. Bezahlt werden die Designerinnen mit Präsenz auf den Social-Media-Beiträgen der Stars – das ist in Piera Honeggers Fall aber nicht geschehen. «Das nervt mich», sagt sie. «Aber in dieser Branche weht ein anderer Wind.»
Bevor sie sich auf dem Markt behaupten muss, steht aber erst noch ein Praktikumssemester an, in dem die Studierenden im Ausland Erfahrungen in der Branche sammeln sollen. Honegger will nach London. «Für die Connections», sagt sie mit einem Zwinkern.
Ob sie danach aber überhaupt bei einem Label einsteigt, lässt die Schaffhauserin noch offen. «Vielleicht gründe ich auch ein eigenes Label, oder ich mache etwas ganz etwas anderes», sagt sie offenherzig. Der Reststoff und die Visionen dürften ihr so schnell nicht ausgehen.
Jetzt aber wartet der Stoffknäuel auf Piera Honegger. Sie will nochmal weben, diesmal ein elegantes Kleid oder einen langen Jupe. Hauptsache: Brüche.