Sieben Männer um den ehemaligen SP-Politiker Urs Tanner wollen die Stadtpolitik Schaffhausens prägen. Ihre Liste Push soll fünfzehn Prozent holen. Wo steht diese Gruppe? Wohin führt ihr Weg?
«Push it to the limit
Walk along the razor’s edge»
– aus dem Titelsong des Films «Scarface»
Es dauert keine Sekunde, bis Urs Tanner eine Antwort abfeuert. Der ewige Cowboy der Schaffhauser Stadtpolitik – seit 1999 streitet und versöhnt er sich im Stadtparlament – will sein Erbe bei den anstehenden Wahlen mit einer eigenen Liste verteidigen. Sie heisst Push, was für «parteilos, unabhängig, Schaffhausen» steht. Er sagt: «Mit fünf bis sechs Sitzen bin ich zufrieden.»
Sechs Sitze, das entspricht mehr als fünfzehn Prozent Wahlanteil im Grossen Stadtrat. Sechs Sitze sind nur unwesentlich weniger als die neunköpfige SP-Fraktion besetzt, Urs Tanners alte Partei, die er vor zwei Jahren im Unfrieden verliess, als jahrelanger Fraktionspräsident, nachdem er sich als Nachfolger von Martina Munz schon sicher im Nationalrat gesehen hatte, dann aber bei der parteiinternen Wahl gegen Linda De Ventura verlor. Sechs Sitze also, so viel wie der hundertzwanzig Jahre alte Schaffhauser Freisinn zurzeit innehat.
«Lachen Sie mich aus?», fragt Urs Tanner.
Der Bienenstock (mit Hummeln)
Push umfasst acht Männer. Neben Tanner, dem 57 Jahre alten Juristen und Berufsschullehrer, gibt es zwei weitere mit politischer Erfahrung: Shendrit Sadiku, 23, Betriebsökonomiestudent und aus der Juso ausgetretener Grossstadtrat, sowie Urs Capaul, 70, pensionierter Ökologe, seit über zwanzig Jahren Kantonsrat, erst für die Ökoliberale Bewegung ÖBS, nun für die Grünen.
Weiter auf der Liste stehen: Amedeo Mattoscio, 57, Polizist und Präsident des Quartiervereins Sommerwies; Martin Ulmer, 44, Fotograf; Cyrille Huber, 40, Busfahrer und Rapper (alias C-Real), der mit SP-Politiker Patrick Portmann in einer WG wohnt; Nikola Mršić, 40, Inhaber eines Schmuck- und Uhrengeschäfts; schliesslich Meriton Ibishi, 28, Versicherungs- und Vorsorgeberater.
Nicht mehr Teil der Liste ist Irina Zehnder, die zwar auf den offiziellen Wahlunterlagen aufgeführt ist, ihre Kandidatur aber zurückgezogen hat, weil sie aus Schaffhausen wegzieht.
«Wir sind keine Emmersberg-Sozialistinnen», sagt Urs Tanner. «Ist aber schon ziemlich peinlich, dass wir keine Frau auf der Liste haben. Wir sind wie die SP aus den Achtzigerjahren.»
«Haben Sie viele Frauen angefragt?»
«Geht so», sagt Tanner. «Wir warteten auf Nachrichten. Aber es kamen nicht so viele.»
«Warum sollte man eine alte Kopie der SP wählen, wenn es das moderne Original gibt?»
«Mit uns wählt man einen Bienenstock», sagt Tanner. «Jeder kann anarchomässig Ideen reinschiessen. Wir sind völlig unabhängig.» Tanner selbst politisiert linksaussen. Wobei er sich in einem Punkt verändert hat: Verbote. «Ich musste meine grünen Verbotsfantasien aufgeben», sagt er. «Die Leute ändern sich nicht. Ich muss sie mit Anreizen und Kohle dazu bringen, sich grüner zu verhalten. Schütte sie mit Geld zu. Der Besuch der alten Dame. Oder eben Anreize: Lass das Auto während eines Monats stehen, dann bekommst du ein GA.»
Jedenfalls: Ein Parteiprogramm hat Push nicht. Man muss sich die Kandidaten einzeln anschauen.
Shendrit Sadiku: Ehrlich gesagt
Shendrit Sadiku ist ein sehr zurückhaltender, sehr höflicher Mensch, der trotz seiner 23 Jahre gern Krawatte trägt. Vor Kurzem begann er eine neue Stelle bei der Migros-Bank, wo er für die Vergabe von Privatkrediten zuständig ist. Daneben studiert er Betriebsökonomie an einer Höheren Fachschule. Oft beginnt er Sätze mit: «Ich sage Ihnen ehrlich …»
Die Frage, wo genau er politisch steht, ist schwer zu beantworten. «Ich sage Ihnen ehrlich», sagt er. «Ich bin ein Liberaler, dem das Soziale sehr wichtig ist.»
Vor vier Jahren kandidierte er für die Juso als einer von drei Spitzenkandidierenden. Gewählt wurde er nicht, aber 2022 rutschte er in den Rat nach. Schon nach einem Jahr trat er aus der Juso aus. Die SP befasse sich zu stark mit den Themen «LGBTQ, Geschlechterfrage, Wokeness, Veganismus etc.», sagte er damals.
Juso und Junge Grüne forderten ihn auf, sein Amt im Grossen Stadtrat abzugeben. Sadiku weigerte sich und politisierte fortan als Parteiloser weiter, ohne einer Fraktion anzugehören. Damit war er auch nicht Teil einer Kommission, wo Entscheide abseits des Rednerpults gefällt werden. Als Redner ist Sadiku auch nicht aufgefallen. In den zwei Jahren im Parlament reichte er vier Kleine Anfragen ein. Einmal wollte er vom Stadtrat wissen, warum Schülerinnen und Schüler für Dinge wie Taschenrechner, die Miete eines Spinds oder die Verpflegung im Klassenlager bezahlen müssen. Noch heute ist er der Meinung, dass man den Eltern keine zusätzlichen Kosten für die Volksschule aufbürden dürfe. Ein anderes Mal hatte er beobachtet, dass viele Minderjährige in der Stadt Einweg-Elektrozigaretten rauchten, sogenannte Vapes, die erst ab achtzehn erlaubt sind. Ein Vape enthält ungefähr so viel Nikotin wie zwei Schachteln Zigaretten. Sadiku sprach ein paar Jugendliche an, die ihm erzählten, dass sie sich die Geräte in bestimmten Geschäften ohne Probleme beschaffen konnten. Also wollte er vom Stadtrat wissen, ob er Massnahmen gegen den Verkauf an Minderjährige ergriffen habe (das sei Sache des Kantons, hiess es in der Antwort).
Sadiku sieht sich als Vertreter der Jungen. «Wir sind eine Stadt, keine Bibliothek», sagt er. «Junge müssen Orte haben, wo sie ein wenig lärmen dürfen.»
Kann er ein konkretes Anliegen nennen? «Nein», sagt Shendrit Sadiku. «Aber mich nervt, wie die Themen Auto, Velo, Parkplätze behandelt werden. Links ist man voll pro Velo, rechts voll pro Auto. Man argumentiert nur auf Parteilinie. Man schaut nicht, was sinnvoll ist.» Er findet es zum Beispiel schade, dass der Kirchhofplatz «mit dem historischen Monument St. Johann» mit Autos zugestellt ist. Aber den Ort ganz von den Autos zu befreien, wie das die Linke fordert, geht ihm zu weit. Er bevorzugt ein unterirdisches Parkhaus mit viel Grün an der Oberfläche.
Auch sonst pendelt er zwischen links und rechts. Einerseits hat er nichts gegen Steuersenkungen. Bei der demnächst anstehenden Budgetdebatte wird er für eine Senkung stimmen, weil die Stadt finanziell so gut dasteht. Ob um drei oder gar zehn Prozentpunkte, weiss er noch nicht. Gleichzeitig, sagt er, unterstütze er einen intakten Sozialstaat. Er ist für die Erhöhung von Prämienverbilligungen und für höhere Subventionen an Kinderkrippen.
«Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie», sagt Sadiku. Seine Eltern kamen vor dreissig Jahren aus dem Kosovo nach Schaffhausen, wo sie sich mit harter Arbeit eine Existenz aufbauten. «Ich sage Ihnen ehrlich: Ich will nicht das Arschloch sein, das bei sozialen Themen immer nur von Eigenverantwortung redet. Es gibt nun mal Leute, die auf Hilfe angewiesen sind.» Aus diesem Grund sei es für ihn kein Thema, der FDP beizutreten.
Sadiku, der zurückhaltende 23-Jährige, der zum Gruppenführer in der Schweizer Armee aufgestiegen ist, der Auto fährt und flächendeckenden Tempo-30-Zonen skeptisch gegenübersteht, und der extrovertierte Urs Tanner, der kein Auto besitzt und als Pazifist einmal von der Armee desertierte und unter Arrest gestellt wurde: Nur einige der Gegensätze, die bei Push zusammenfinden.
Urs Capaul: Fledermäuse
Während Shendrit Sadiku hofft, dass man den Jungen mehr Freiraum gewährt, dass sie Musik hören und feiern dürfen, gerade beim Lindli am Rheinufer, sorgt sich Urs Capaul um das Wohl der Fledermäuse, die nachts vom Buchthaler Wald hinab zum Lindli fliegen, um Insekten zu jagen.
Urs Capaul ist Co-Präsident des Umweltschutzverbands Pro Natura. Fast dreissig Jahre lang war er Stadtökologe in Schaffhausen. 2019 ging er in Pension. Ende Jahr hört er auch als Kantonsrat auf, nach über zwanzig Jahren. Er politisierte für die Grünen, doch vor zwei Jahren verliess er die Partei. Wegen «persönlicher Differenzen», wie Capaul sagt. Aber nicht nur.
«Die Grünen sind mir zu monothematisch geworden», erklärt er. Es sei nur noch um Energie und Klimaschutz gegangen und kaum noch um die Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt, um die Trinkwasserqualität oder um Pestizide. Alles Dinge, die Capaul unter dem Begriff Ökologie zusammenfasst.
Seine Kandidatur für Push sieht er auch in diesem Zusammenhang. «So, wie es jetzt in der Stadt läuft, gerät die Ökologie dauernd unter die Räder», sagt er. «Hier will ich Inputs geben.» Er schätze es, dass bei Push unterschiedliche Meinungen Platz haben. «Aber», sagt er, «ich reisse mich nicht um einen Sitz.»
Die Macht des Zentrums
Mit Tanner, Capaul und Sadiku stehen die Spitzenkandidaten weit links, ziemlich links oder mittig. Und das dürfte der SP und den Grünen Sorge bereiten.
In einem Newsletter an Sympathisantinnen und Gönner schrieb die SP-Parteileitung Anfang Oktober, sie sei «zugegebenermassen etwas nervös». Bei den letzten Wahlen holten SP und Juso neun Sitze, hinzu kamen vier von der inzwischen aufgelösten Alternativen Liste. Diese dreizehn Sitze sind auf nur noch neun geschrumpft. Neben Urs Tanner und Shendrit Sadiku verliess auch Marco Planas die Partei.
usserdem schloss die SP Ibrahim Tas aus, nachdem er wegen versuchter einfacher Körperverletzung verurteilt worden war. Tas trat aber nicht aus dem Grossen Stadtrat zurück, sondern wechselte zur FDP.
«Nervös sind wir nicht», sagt Livia Munz, Co-Präsidentin der städtischen SP. «Wir wollen die vier Sitze zurückholen.» Sie rechnet damit, dass Push sicher einen, maximal zwei Sitze gewinnt. «Hoffentlich nicht auf unsere Kosten», sagt Munz.
Je nach Ausgang der Wahl könnte Urs Tanners Liste relativ mächtig werden. Tanner ist Teil der Zentrumsfraktion, der neun weitere Mitglieder von Grüne Partei, GLP, EVP und Mitte angehören. Das Zentrum ist die mächtigste Kraft im Stadtparlament. Es entscheidet, ob ein Beschluss zugunsten der bürgerlichen oder der rotgrünen Seite ausfällt, ob es nun Steuersenkungen und Parkplätze oder subventionierte Krippenplätze und Parkanlagen gibt. Das Zünglein an der Waage zu sein: Das ist das Ziel von Push.
Amedeo Mattoscio: Müll im Boden
Als wir mit den Männern von Push reden, sind Nikola Mršić, der Juwelier, und Meriton Ibishi, der Versicherungsberater, in den Ferien. Beide sind Freunde von Shendrit Sadiku, der sagt, die beiden hätten keinen politischen Hintergrund. Fotograf Martin Ulmer steht politisch links der Mitte, und Cyrille Huber – Rapper C-Real – hatte die SP bei den letzten Kantonsratswahlen unterstützt. Nummer acht ist Amedeo Mattoscio, der Polizist. Der 57-Jährige ist politisch interessiert, schaut seit Jahren die «Arena» im Schweizer Fernsehen, «mal auf Seite der SP, mal auf Seite der SVP», war aber noch nie Teil einer politischen Bewegung.
«Wenn es niemanden gibt, der sich für einen einsetzt, kommt es genauso heraus, wie es jetzt ist», sagt Mattoscio. Er spricht von seinem Quartier Sommerwies am Stadtrand, das im Hauental liegt. «In den dreissig Jahren, die ich hier lebe», sagt er, «hat es die Stadt nicht fertiggebracht, einen anständigen Spielplatz im unteren Hauental zu bauen. Das macht mich traurig.» Jedes Kind habe doch das Anrecht, Fussball zu spielen oder zu klettern, ohne dafür kilometerweit reisen zu müssen. Erst jetzt, nach seiner Intervention beim Stadtrat, ist ein Spielplatz in Planung. «Ich frage mich: Ist jedes Quartier gleichgestellt? Buchthalen und Birch? Emmersberg und Hauental?» Es ist eine rhetorische Frage. Und darum kandidiert Amedeo Mattoscio nun. Und auch wegen der 80 000 Kubikmeter Müll im Boden unweit seines Hauses, Erbe einer früheren Deponie. Oder wegen der Notschlafstelle mit Werkstätten für sozial ausgegrenzte oder benachteiligte Menschen, die Institution Soziales Wohnen «Summerwis», die der Stadtrat über der Deponie bauen will. Über hundert Anwohnerinnen und Anwohner hatten eine Petition dagegen unterzeichnet, weil sie Bedenken wegen der Sicherheit hätten. Sie verlangten, den Bau anderswo hinzustellen. Amedeo Mattoscio sieht die Sache entspannter.
«Sie können das Soziale Wohnen schon hier bauen», sagt er. «Aber zuerst sollen sie den Dreck im Boden wegschaffen. Jeden Tag laufen Giftstoffe aus.»
Tanners Grenztest
Urs Tanner sitzt in seinem Büro und druckt einen neuen Vorstoss aus. Es geht um eine Sitzbank in Konstanz, auf der man sich Witze erzählen soll. Wie so oft ist Tanner bei der täglichen Zeitungslektüre auf die Idee gekommen. Wie so oft springt er thematisch: von der Witzebank zu den Bänkli, die mehrere Mitglieder des Stadtrats für ein 100 000 Franken teures Kunstprojekt öffentlichkeitswirksam mit einer Kettensäge halbierten. Und wie so oft macht Tanner ein bisschen Getöse um die Sache.
Früher, als SP-Fraktionschef, hätte er sich gehütet, seine Parteikollegen in der Stadtregierung anzugreifen (wovon es aktuell zwei gibt). Jetzt sieht die Sache anders aus. In der Kleinen Anfrage will Tanner wissen, warum der Stadtrat das Kunstprojekt nicht schon vor den Stadtratswahlen im August angekündigt habe. Er fragt, ob sich der Stadtrat überlegt habe, sich aus dem eigenen «Lohnbeutelchen» am Projekt zu beteiligen. Und ob man Ideen habe, wie man «das Thema Einsamkeit seriös angehen könnte». Tanner freut sich diebisch, den Vorstoss dem Stadtrat zu übergeben.
Man fragt sich: Macht er Politik? Macht er Unterhaltung? Testet er mit Push ein Limit aus, die Grenze zwischen Politik und Unterhaltung?
«Ich geniesse es, frei zu sein», sagt er.
