Die UN-Behindertenrechtskonvention jährt sich zum zehnten Mal, das Behindertengleichstellungsgesetz bereits zum zwanzigsten. Erreicht ist die Gleichstellung trotzdem nicht. Warum ist das so?
Luana Schena und Roland Studer verhaken ihre Arme ineinander und platzieren die ausgeklappten Langstöcke. Bert Marti zieht die Handschuhe über und gibt seinem Rollstuhl einen ersten Schwung – die meisten Bsetzi-steine hier sind nicht abgeschliffen, sodass die vorderen Räder immer wieder zwischen den Steinen hängen bleiben. Und das ist erst der Weg zum eigentlichen Irrgarten. Denn wer im Moment die Bachstrasse entlanggehen will, findet sich vor einer lang gezogenen Baustelle wieder. Die drei steuern also einmal nach links, einmal nach rechts, zwei Mal über die befahrene Strasse, über Rampen, an Coiffeurschildern mitten auf dem Trottoir vorbei. Einmal kommt eine Frau mit Hund entgegen, ein andermal ein Velofahrer, der absteigt und zuwartet.
Die Baustelle an der Bachstrasse ist eine Extremsituation: laut, chaotisch und verwirrend. Normalerweise wisse er im Alltag genau, wo er sich wie bewegen könne, sagt Bert Marti. Oft seien es kleine, physische Barrieren, die ihn behindern. «Eine Baustelle wie diese wäre kein Hindernis, wenn der Langsamverkehr klug umgeleitet würde.» Insofern könnte die Baustelle kaum sinnbildlicher sein, nicht nur für den Alltag, sondern viel mehr noch für die Arbeit von Schena, Studer und Marti. Denn sie verantworten – als Teil einer interdisziplinären Projektgruppe – die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, kurz UN-BRK, in Schaffhausen. Im Auftrag des Kantonalen Sozialamtes ist die Gruppe seit Herbst 2023 daran, den Handlungsbedarf in Schaffhausen zu ermitteln und Zielzustände zu formulieren; dies stets in Zusammenarbeit mit Selbstvertreterinnen und -vertretern, also Menschen mit verschiedenen Behinderungen.
Was erstaunt: Die UN-BRK ist in der Schweiz schon seit 2014 ratifiziert und in Kraft. Sie deckt sich inhaltlich zu grossen Teilen mit dem Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das bereits seit 20 Jahren in Kraft ist. Grundziel beider Normen: Menschen mit und ohne Behinderungen sollen ihre Rechte in gleichem Mass ausüben können. Was abstrakt klingen mag, hat Folgen auf allen föderalistischen Ebenen. Inklusiv gestaltete Gesetze, politische Teilhabe bei Wahlen und Abstimmungen, barrierefreie Bushaltestellen und öffentliche Gebäude, integrative Schulung oder die freie Wahl des Wohnortes und der Wohnform sind nur einige Beispiele.
Steiniger Weg
Die seit 20 respektive zehn Jahren angestrebte Gleichstellung ist bis heute nicht erreicht. Auch in Schaffhausen nicht. Dies, obwohl es immer wieder Initiativen gab: 2012 segnete der Regierungsrat ein kantonales Leitbild «Leben mit Behinderung» ab, welches Menschen mit und ohne Behinderung «die gleichen Rechte und Pflichten» versprach und eine Gesellschaft anstrebte, die niemanden in der Autonomie behindere. 2018 reichte dann die Behindertenkonferenz des Kantons eine Petition mitsamt einer ganzen Liste an Massnahmenforderungen ein, und verlangte, der Kanton möge endlich den dringenden Handlungsbedarf erkennen. Das damalige Resultat: Der Regierungsrat würde in den nächsten zwei Jahren das weitere Vorgehen evaluieren. Denn «es stellte sich die Frage nach Effektivität und Effizienz.»
Warum dauert das nur so lange?
Vor dem Baustellenrundgang treffen wir Luana Schena, Roland Studer und Bert Marti im Kronenhof – einer der wenigen öffentlichen und beinahe barrierefreien Orte, an denen es am Montag in der Stadt Kaffee gibt. Nicht einmal das Sozialamt, für das Schena arbeitet, ist barrierefrei zugänglich. Sie ist seit Juni dieses Jahres Fachverantwortliche Inklusion und Umsetzung UN-BRK des Kantons, sie ist also am Strategieplan beteiligt und begleitet zudem die Dienststellen in der Umsetzung der Konvention. Daneben studiert sie Politikwissenschaft in Zürich. Sie und Roland Studer kennen sich auch aus dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV), den Studer seit 2021 präsidiert. Studer ist zudem Vorstandsmitglied der Europäischen Blindenunion und arbeitet beim Schaffhauser Faust Laborbedarf. Bert Marti wiederum ist bei der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung angestellt, Sekretär für die European Spinal Cord Injury Federation und im Vorstand der Behindertenkonferenz Schaffhausen.
Nach dem ersten Schluck Cappuccino schnaubt Roland Studer; für ihn ist klar, warum es in der Gleichstellungspolitik nicht vorwärts geht. «Die Antwort ist einfach: Es gibt keine Sanktionen. Es gibt Rechte, die nicht justiziabel sind. Ein Beispiel: Das Recht auf autonomes, anonymes Stimm- und Wahlrecht gilt für alle. Aber wie soll ich ohne Assistenz panaschieren und kumulieren, wenn die Unterlagen der Parlamentswahlen auf Papier sind? Das einzuklagen wäre chancenlos.»
Ein anderes Beispiel ist das barrierefreie Reisen. Bis Ende 2023 hätten sämtliche Bushaltestellen im Kanton behindertengerecht umgebaut werden müssen. Der Regierungsrat wusste aber schon Anfang Jahr, dass er dies nicht würde erreichen können, waren doch da gerade ein Viertel der Bushaltestellen umgebaut; dies aufgrund von mangelnden personellen Ressourcen, Einsprachen, fehlendem Platz für Umbau und so weiter. Auch das ist nicht einklagbar. «Geht es um konkrete Massnahmen, kommt immer die grosse Frage, was das denn koste – aber nie die Frage, was es denn kostet, wenn man nichts tut», sagt Roland Studer.
«Ständiges Beiseiteschieben»
Die juristische Ebene ist die eine. Oftmals seien die Barrieren aber nicht nur gesetzlich, sondern gesellschaftlich verankert – oder eben: in den Köpfen. «Noch heute kommt es vor», beginnt Bert Marti, «dass ich mit Problemhinweisen auf Menschen zugehe und sie nur Ausreden bringen, warum es nicht anders gehe. Klar ist das manchmal verständlich, aber dieses ständige Beiseiteschieben und Vergessen wollen, das kommt zu oft vor. Die Schweiz hat keine Behindertenkultur.»
Schena hat als Kantonsangestellte eine andere Rolle als die beiden Vertreter der Behindertenverbände – und anderen Einblick in die Vorgänge. Sie sagt: «Wir sind einerseits darauf angewiesen, dass direkt Betroffene uns Hinweise zu Problemen im Alltag geben. Wir können nicht jede Perspektive einnehmen, das ist klar. Gleichzeitig darf es nicht sein, dass Betroffene sich alles allein erkämpfen müssen. Von den Angestellten in der Verwaltung spüre ich hier zum Glück eine hohe Motivation, vorwärts zu machen.»
Welche Massnahmen es für ein inklusives Schaffhausen konkret braucht, ist Stand jetzt noch nicht ganz klar. Fakt ist aber beispielsweise, dass der Kanton bei der schulischen Inklusion schweizweit das Schlusslicht bildet; nirgends sonst besuchen so viele Kinder mit einer Behinderung eine Sonderschule. Fakt ist auch, dass die mit dem Blindenstock erfassbaren Leitlinien beim Bahnhof Schaffhausen genau da enden, wo das Areal der Stadt beginnt – schon zur öffentlichen Toilette schafft man es mit den Leitlinien allein also nicht. Und Fakt ist, dass die Lichtsignalanlage an der Bachstrasse gelb blinkt und auf Rot-Grün umgestellt wird, sobald der Verkehr vom Fäsenstaub durch die Stadt geleitet werden muss – dass die Anlage aber nicht vibriert und Menschen mit Sehbeeinträchtigung den Wechsel nicht mitbekommen. Nicht zuletzt ist Schaffhausen durch die BRK dazu verpflichtet, Menschen mit Beeinträchtigung die Wahl zu geben, alleine zu wohnen (siehe auch «Wohnen im Kollektiv», AZ vom 4. Juli 2019, epaper.shaz.ch).
Aufs Kämpfen eingestellt
Erste Vorstellungen gibt es also. Am Samstag, 2. November, lud die Behindertenkonferenz Schaffhausen zudem zum World Café, wo weitere Ideen für einen inklusiven Kanton gesammelt und diskutiert wurden; es geht um Fragen zu Arbeit, Bildung, Gesundheit, Freizeit, Kultur, Politik, Wohnen und mehr. Daraus wird die Projektgruppe bis im Frühling 2025 einen Massnahmenplan erstellen und dem Regierungsrat vorlegen. Dann wird die Sache also nochmals politisch, denn es wird um Geld und Personal gehen. Die meisten Massnahmen werden über das ordentliche Budget oder über Nachtragskredite abgewickelt, sie sind also in der Hand des Regierungsrates – wo es jüngst mit Marcel Montanari einen neuen Vorsteher des Departements des Innern gab – und des Kantonsparlaments.
«Für die Strategiegruppe ist die Arbeit dann zu Ende. Politisch geht sie für uns aber weiter», sagt Roland Studer. Er stellt sich auf einen harten Kampf ein. «Wenn es um Geld geht, hat niemand Freude. Die Knochenarbeit braucht es.»