Neue Dokumente zeigen, wie die Bundespolizei Osamah M. in den Irak abschieben will – obwohl ihm dort der Tod droht. Und erstmals spricht der bekannteste Dschihadist der Schweiz mit einem Journalisten.
«Ich wollte nie mit Medien reden», sagt Osamah M. im kargen Besucherraum des Sittener Ausschaffungsgefängnisses und nimmt einen Schluck Wasser aus seinem lila Plastikbecher. «Medien sind Terroristen. Sie haben mein Leben kaputt gemacht.»
Dass der bekannteste Dschihadist der Schweiz trotzdem zum ersten Mal überhaupt mit einem Journalisten spricht, hat einen Grund. Kürzlich hat die Bundespolizei Fedpol entschieden, dass Osamah M. in sein Heimatland Irak ausgeschafft werden soll. Nach einer jahrelangen Odyssee durch die Gerichtssäle der Schweiz geht es für den 38-Jährigen plötzlich um alles. Er muss nach jedem Strohhalm greifen – und sieht einen solchen jetzt auch in den verhassten Medien.
Die Schweiz will den verurteilten IS-Anhänger seit 2017 loswerden, weil er mutmasslich die öffentliche Sicherheit bedroht. Doch eine Ausschaffung war bis anhin wegen des völkerrechtlichen Non-Refoulment-Prinzips nicht möglich, weil also davon auszugehen war, dass Osamah M. in seiner Heimat Irak Folter oder Tod droht.
Heute aber verstösst eine Rückschaffung nicht mehr gegen das Völkerrecht – so zumindest sieht es das Fedpol.
Am 4. September 2024 wurde Osamah M. unter dem Vorwand, seine Fussfessel müsse kontrolliert werden, aufs Schaffhauser Polizeihauptquartier bestellt. Dort eröffneten ihm Beamte der Bundespolizei, dass er ausgeschafft werde. Wenige Stunden später wurde er mit einem Helikopter über die Alpen geflogen und in eine Einzelzelle des frisch eröffneten Ausschaffungsgefängnisses in Sitten gesperrt. Seither sitzt Osamah M. – abgesehen von einer kurzen Gerichtsverhandlung in Schaffhausen, zu der er erneut mit dem Helikopter geflogen wurde – im Wallis in Ausschaffungshaft.
Der Termin für den Sonderflug, mit dem er in den Irak ausgeschafft werden sollte, stand bereits fest: der 19. September 2024. Doch der Anwalt von Osamah M. reichte Beschwerde ein. Nun muss das Bundesverwaltungsgericht darüber entscheiden, ob der als «Rollstuhl-Dschihadist» bekannt gewordene Iraker ausgeschafft werden darf oder nicht. Gut möglich, dass er seine heutige Heimat Schaffhausen nie mehr sehen wird.
Das Ausschaffungsgefängnis ist ein dystopisch anmutender Betonbau. Hier, an der Peripherie von Sitten, demonstriert die Schweiz asylpolitische Härte. Der Mann, der an einem Mittwochnachmittag in den Besucherraum geschoben wird, scheint sich davon wenig beirren zu lassen. Osamah M. hat ein argloses Gesicht, einen langen Bart, gepflegte Hände und eine elegante Armbanduhr. Der verurteilte Gotteskrieger ist ein charismatischer Bildungsbürger, der strukturiert durch das Gespräch führt. Die zwei Stunden im Besucherraum unter Aufsicht von Vollzugsbeamten sind mehr Audienz als Interviewtermin. Osamah M. spricht sehr gutes Deutsch und bemüht sich, komplexe juristische Sachverhalte so herunterzubrechen, dass sein Gegenüber versteht, welches die Knackpunkte sind. Kein Wunder, wird dieser Mann in den Medien seit Jahren als geistiger Führer der Schaffhauser IS-Zelle gehandelt.
Genau darüber will er heute reden: über die Medien, die ihn vorverurteilt und sein Leben kaputt gemacht hätten. Die mediale Berichterstattung und ihre Folgen sind sein Kernargument im Kampf gegen die drohende Ausschaffung. Im Grunde sagt Osamah M., die Schweizer Medien hätten nicht nur durch immer neue Lügen seine Integration in der Schweiz verunmöglicht. Sie hätten aus ihm auch in aller Öffentlichkeit ein Monster konstruiert. Wegen ihnen stehe er auch im Irak unter Beobachtung, wegen ihnen drohe ihm bei einer Ausschaffung der Tod.
Die Bundespolizei sieht das anders. In einer 37-seitigen Verfügung vom 2. September 2024, die der AZ exklusiv vorliegt, argumentiert das Fedpol, warum die 2017 beschlossene und bis heute aufgeschobene Ausweisung nun vollzogen und Osamah M. in den Irak ausgeschafft werden könne.
Droht eine konkrete Gefahr?
Das Fedpol schreibt, eine rechtskräftige Ausschaffung dürfe gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nur dann nicht durchgeführt werden, wenn ein sogenanntes «real risk» vorliege, wenn also eine «reale Gefahr» bestehe, dass die betreffende Person im Heimatland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird. Die «blosse Möglichkeit» einer schwerwiegenden Misshandlung reiche nicht aus, um auf eine Ausschaffung zu verzichten. Die Messlatte für eine «reale Gefahr» sei hoch.
2017, als die Ausweisung von Osamah M. beschlossen wurde, studierte das Staatssekretariat für Migration (SEM) verschiedene Risikoeinschätzungen und Situationsberichte aus dem Irak – und erkannte eine solche Gefahr.
Nun aber, so die Bundespolizei in ihrer Verfügung, habe sich die Situation geändert.
Zuerst argumentiert das Fedpol mit der allgemeinen Lage. Im Umland der Stadt Kirkuk im Nordirak, wo Osamah M. aufgewachsen ist und wo heute noch seine Familie lebt, habe sich die politische Situation in den letzten Jahren verändert. Der Islamische Staat, der für grosse Unsicherheit und Gewalt gesorgt hatte, sei weitgehend vernichtet worden. Daraufhin habe sich die allgemeine Lage stabilisiert. Laut verschiedenen aktuellen sicherheitspolitischen Analysen bestehe heute «keine Extremsituation allgemeiner Gewalt» mehr.
Das Fedpol räumt zwar ein, dass Personen wie Osamah M, die Verbindungen zum IS gepflegt und in der Vergangenheit im Irak an Kämpfen teilgenommen hätten, «im Fokus der Sicherheitskräfte» geblieben und weiterhin «Stigmatisierungen sowie Aggressionen der lokalen Bevölkerung» ausgesetzt seien. Insgesamt, so Fedpol, gebe es heute aber auch für solche Personen «keine Anhaltspunkte für eine höchst prekäre Sicherheitslage». Und solche Anhaltspunkte seien gemäss EGMR nötig, damit Ausschaffungen ausgesetzt werden müssen.
Doch das Fedpol argumentiert nicht nur mit der allgemeinen Lage im Irak, sondern auch mit der persönlichen Geschichte von Osamah M. Die Bundespolizei schreibt, der Iraker habe 2012 nach der Einreise in die Schweiz in mehreren Befragungen angegeben, er habe in seiner Heimat in einer Einheit gegen die Vorgängerorganisation des IS gekämpft. Bei diesen Kämpfen sei er nicht nur angeschossen, sondern auch vom irakischen Regime festgenommen worden. Die Repression durch beide Seiten – Staat und Terroristen – sei das Resultat der Kriegswirren gewesen. Die Schweizer Behörden zweifelten später stark an dieser Darstellung und waren der Ansicht, er habe die Geschichte konstruiert, um in der Schweiz Asyl zu erhalten. Gemäss Fedpol zeigt die Episode, dass die Vergangenheit des verurteilten Dschihadisten im Argen liegt.
Die diffuse Ausgangslage bringt aber auch Osamah M. selber in eine Zwickmühle: Einerseits hatte er über die Jahre in verschiedenen Gerichtsverfahren stets behauptet, er sei kein IS-Terrorist. Noch Anfang 2024 hatte er in einer Befragung im Rahmen einer polizeilichen Überwachungsmassnahme explizit angegeben, im Irak werde nicht offiziell nach ihm gefahndet. Damals ging es darum, seine Ungefährlichkeit zu untermauern. Nun, da er in den Irak ausgeschafft werden soll, argumentiert er gegenüber dem Fedpol hingegen, als angeblicher IS-Terrorist drohe ihm im Irak eine grosse Gefahr.
Diese Unsicherheit spielt dem Fedpol in die Karten. In ihrer Verfügung schreibt es etwa, in der Befragung Anfang 2024 habe Osamah M. angegeben, es gebe «mehrere Gründe», warum er nicht in den Irak zurückkehren könne. Er habe unter anderem von einem Onkel gesprochen, der für die Militärpolizei arbeite und es auf ihn abgesehen habe. Konkreten Nachfragen nach einer angeblichen Gefahr weiche Osamah M. aber aus: «Es fällt auf, dass er bezogen auf mögliche Risikofaktoren keine konkreten Namen, keine konkreten Örtlichkeiten und keine konkreten und detaillierten Umstände benennt, welche […] von Fedpol zumindest potenziell oder teilweise überprüft werden könnten. […] Es wird nicht plausibel, wer, wann, wo und weshalb ihn heute ins Visier nehmen soll.» Naheliegender sei, dass Osamah M. die Schweizer Behörden ein weiteres Mal täuschen wolle.
Osamah M. wird nicht gesucht
Im Besucherraum des Ausschaffungsgefängnisses in Sitten wehrt sich Osamah M. gegen die Argumentation der Bundespolizei. Seine Gleichung ist simpler: «Im Irak werden IS-Mitglieder getötet. Ich wurde in der Schweiz rechtskräftig als IS-Mitglied verurteilt. Und jetzt sagen sie, ich sei nicht in Gefahr?!»
An diesem Punkt kommen die Medien ins Spiel.
Am 29. Mai 2024 schrieb der Anwalt von Osamah M. in einer Stellungnahme an das Fedpol, in den Medien sei von einer «Schweizer IS-Zelle» die Rede gewesen, sein Klient sei in der medialen Berichterstattung mitunter mit vollem Namen genannt worden, und auch dass er im Rollstuhl sitze, sei stets erwähnt worden: «Es ist daher davon auszugehen, dass mein Klient bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits am Flughafen oder kurz danach festgenommen und den zuständigen irakischen Strafverfolgungsbehörden unterstellt wird.» Die irakischen Behörden hätten ein hohes Interesse, Personen aus dem mutmasslichen IS-Umfeld zu verfolgen. Es sei zu befürchten, dass Osamah M. «im Rahmen seiner Inhaftierung misshandelt wird und keinesfalls mit einem fairen Gerichtsverfahren rechnen kann.»
Die Bundespolizei Fedpol kontert. Die Bundeskriminalpolizei BKP habe abgeklärt, wie die mediale Berichterstattung im Iran verlaufen sei und ob Osamah M. dort strafrechtlich verfolgt werde. Die BKP sei zum Schluss gekommen, dass kein Strafverfahren hängig sei. Wegen der Medienberichte könne zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die irakischen Behörden um seine Identität wüssten, die «Möglichkeit einer Identifizierung» von Osamah M. durch irakische Behörden allein sei jedoch «kein stichhaltiger Grund für die Annahme einer künftigen Misshandlung durch Folter». Insgesamt, so das Fedpol, sei kein «real risk» anzunehmen. Folglich müsse Osamah M. «sofort» ausgeschafft werden.
Ob die Argumentation des Fedpol vom Bundesverwaltungsgericht (und danach unter Umständen vom Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg) gestützt wird und Osamah M. tatsächlich ausgeschafft werden kann, bleibt abzuwarten. Offensichtlich erscheint hingegen, dass die Bundespolizei mit dieser Argumentation auch schon vor einigen Jahren auf einen sofortige Ausschaffung von Osamah M. hätte drängen können.
Wieso tut sie es gerade jetzt?
Der Fall Osamah M. ist in mehrerlei Hinsicht ein Musterfall. Das zeigt sich auch in einem Satz aus der Fedpol-Verfügung über Osamah M.: «Würde ein generelles Risiko für die Annahme von «real risks» ausreichen, dürfte im Umkehrschluss per se kein Iraker in den Irak ausgeschafft werden, der in der Schweiz Delikte im Zusammenhang mit Terrorismus begeht und über den in den Medien berichtet wird. Das wäre sinnwidrig: Es würde [solche Iraker] geradezu ermutigen, die Medien darüber berichten zu lassen, um in der Schweiz ein Bleiberecht auf unbestimmte Zeit zu erhalten.»
Die Geschichte des Schaffhauser Dschihadisten ist schon lang hochpolitisch. An ihm lässt sich ablesen, wie der Druck des Gesetzgebers und der Öffentlichkeit auf mutmassliche Terroristen in den vergangenen Jahren zugenommen hat (siehe Box unten). Und auch seine bevorstehende Abschiebung lässt sich in einen grösseren politischen Kontext einbetten. Der Zeitpunkt scheint nicht zufällig gewählt.
Es geht nicht nur um Osamah M.
Vorgestern, Dienstag, informierte der Nachrichtendienst des Bundes, dass sich die Terrorbedrohung in Europa im vergangenen Jahr «zusätzlich akzentuiert» habe. Vor zwei Wochen wurde bekannt, dass die Schweiz zum ersten Mal seit der Machtübernahme der Taliban wieder schwerkriminelle Afghanen nach Kabul abschiebt, obwohl die Menschenrechtslage in Afghanistan als prekär gilt. Es scheint, als wolle das Justizdepartement von SP-Bundesrat Beat Jans Druck aus dem angespannten Asyl-Dossier nehmen.
Das Online-Magazin Republik hat unlängst geschrieben, dass die geplante Abschiebung von Osamah M. in den Irak damit zu tun haben könnte, dass die Schweiz engere Beziehungen zum Irak geknüpft und ein Abkommen für eine freiwillige Rückkehr von Irakern in ihre Heimat verhandelt hatte. Das Staatssekretariat für Migration gab gegenüber der AZ zwar an, dieses Abkommen habe «keinen Einfluss auf die bestehende Asyl- und Wegweisungspraxis der Schweiz» und damit auch nicht auf den Fall Osamah M. Fakt ist jedoch, dass die Schweiz erst im September ihre seit 1991 geschlossene Botschaft im Irak wiedereröffnet hat. Die Beziehung der beiden Länder wird also gerade enger.
Ausserdem weiss die AZ aus zuverlässiger Quelle, dass auf dem geplanten Sonderflug vom 19. September nicht nur Osamah M. in den Irak hätte ausgeschafft werden sollen – sondern noch weitere irakische Staatsbürger, die mit dem IS in Verbindung gebracht worden waren. Mindestens einer von ihnen hat ebenfalls Beschwerde gegen seine drohende Ausschaffung eingelegt. Das Staatssekretariat für Migration äussert sich auf Anfrage der AZ nicht zu Einzelfällen und kann einen geplanten Sonderflug vom 19. September «weder bestätigen noch dementieren».
Bis die Gerichte endgültig über das Schicksal von Osamah M. entschieden haben, bleibt er im Ausschaffungsgefängnis in Sitten in Einzelhaft, vier Autostunden von seiner Verlobten entfernt. Die Haft kann auf insgesamt 18 Monate verlängert werden. Gut möglich, dass die Behörden Osamah M. damit auch mürbe machen wollen. Er aber will sich nicht beeindrucken lassen. Zum Abschied sagt er, er bleibe lieber jahrelang hier sitzen, als zurück in den Irak zu gehen: «Bitte, überbringen Sie den Leuten, die über meine Ausweisung entscheiden, eine Botschaft: Ich bin ein Mensch! Ich will nicht sterben!»
Der Rechtsstaat zog alle Register
In den vergangenen zehn Jahren stellte Osamah M. die Schweizer Behörden mehrmals vor Probleme, die sie bis anhin nicht kannten.
Obwohl ihm der Nachrichtendienst des Bundes 2014 nach einer Verhaftung trotz intensiver Bemühungen nicht nachweisen konnte, dass er den ersten IS-Terroranschlag in Europa organisieren wollte, verurteilten die Gerichte Osamah M. zu einer jahrelangen Haftstrafe. Sie mussten sich dabei mit dem neuen Straftatbestand «Beteiligung an der kriminellen Organisation Islamischer Staat» behelfen, der Handlungen kriminalisiert, die weit vor einer schweren Straftat stehen.
Nach seiner Freilassung hatten die Behörden bald Angst, er radikalisiere als spiritueller Führer der Schaffhauser IS-Zelle andere Moschee-Besucher, die weitere Attentate planen könnten. Weil sie Osamah M. nicht ausschaffen konnten, versuchten sie verzweifelt, ihn mit Eingrenzungen und Deradikalisierungs-Programmen in Schach zu halten. Doch seine blosse Existenz in der Schweiz wurde – auch befeuert durch die intensive mediale Berichterstattung – immer mehr zur öffentlichen Demütigung für den Rechtsstaat.
Schliesslich wurde im November 2023 über Osamah M. die ersten PMT-Massnahme überhaupt verhängt. Das 2022 in Kraft getretene Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) erlaubte es, ihn ein halbes Jahr lang engmaschig zu überwachen (siehe AZ vom 16. Mai 2024). Da er in dieser Zeit mehrmals in Kontakt war mit angeblich radikalen Personen, die er nicht hätte treffen dürfen, wurde die Massnahme um sechs Monate verlängert und verschärft. Unterbrochen wurde sie am 4. September 2024 durch den Helikopterflug in die Ausschaffungshaft in Sitten.