Die Männer und das Holz

10. Oktober 2024, Kevin Brühlmann
Das Bild zeigt einen Einblick in die Werkstatt: Holz und Sägeblätter, zufällig, aber sehr ästhetisch angeordnet.

Ein paar Hippies eröffneten eine Holzwerkstatt auf dem Land namens Rote Fabrik, um den Chefs zu entkommen. Im Dorf schloss man Wetten auf ihren Konkurs ab. Dabei waren sie ihrer Zeit voraus. Heute, nach 35 Jahren, suchen sie nach einer Nachfolge.

Christian Bührer rieb sich das rechte Knie, das ihn die über vierzig Jahre als Zimmermann spüren liess. An diesem warmen Tag Anfang August 2024 sass er in der Rhybadi in Schaffhausen und beobachtete eine Frau, die Schlagzeug spielte und Parolen wie aus einem politischen Manifest sang. «Keine Spekulation mit Land und Wasser!», wiederholte die Frau wieder und wieder auf französisch.

Es war kein Konzert zum Schwelgen. Es war ein Konzert zum Sachen-Kaputt-Machen. Aber sowas ist Christian Bührer, einem kräftig wirkenden Mann, fremd. Erstens ist er zu bescheiden, um einen Aufruhr um seine Person zu veranstalten. Zweitens bevorzugt er es, Dinge zu reparieren.

Nach dem Konzert kam er auf seine Arbeit zu sprechen. Er war nun 65 Jahre alt, und die Zukunft machte ihm Sorgen. Seit einiger Zeit suchten er und seine Arbeitskollegen jemanden, der ihre Werkstatt übernehmen würde. Eine schwierige Sache. Christian Bührer kannte viele Handwerker, die gescheitert waren, ihren Betrieb jemand Jüngerem zu übergeben. Die irgendwann den Schlüssel zum letzten Mal umdrehten und eine tote Halle hinterliessen. «Es wäre schön, wenn unsere Geschichte weitergehen würde», sagte er hoffnungsvoll.

Der Geist der Roten Fabrik

Im Jahr 1989 zogen ein paar junge Männer in eine stillgelegte Fabrik in Neunkirch, um eine Holzwerkstatt zu eröffnen. Das Gebäude war rot gestrichen, und als die Männer während der Arbeit ein Konzert hörten, das ein Radiosender live aus der Roten Fabrik in Zürich übertrug, dem Zentrum der Jugendunruhen, Opernhauskrawalle und Drogenexperimente, nannten sie ihren Betrieb «Rote Fabrik Neunkirch». Sie sprachen von Selbstverwaltung, Gemeinschaft, ökologischer Verantwortung. Beim Feierabendbier schlossen die übrigen Handwerker in Neunkirch Wetten ab: Wann gehen die Hippies pleite? Nächsten Monat oder erst übernächsten?

«Früher belächelte man uns», sagt Chris­tian Bührer, als er durch die Werkstatt schreitet. Ein paar Wochen sind seit dem Konzert vergangen. Regen macht das erste Laub schwer. Als er an seiner Werkbank vorbeikommt, sagt er, dass er endlich einmal aufräumen müsse. Er sagt das schon seit Jahren, als sei es ein Ritual, das ihn beruhigt: Es gibt immer etwas zu tun. In einem Zeitungsständer stecken zahlreiche Ausgaben des Magazins Spiegel. Nirgends hängt ein Kalender mit nackten Frauen.

Ein grosser Mann mit hagerem Gesicht betritt die Werkstatt. Urs Erb, Schreiner und Mitgründer der Roten Fabrik Neunkirch. Erb und Bührer müssen sich nicht die Hand reichen, um sich zu begrüssen, ein Kopfnicken genügt. Sie steigen die Treppe zum Pausenraum hoch und werfen die Kaffeemaschine an.

«Anscheinend waren wir die Kiffer», sagt Urs Erb, als er auf die Anfänge der Werkstatt zu sprechen kommt. «Auch wenn gar niemand wusste, was Kiffen überhaupt ist. Auf dem Land fielen wir halt auf.»

Urs Erb war als Kind nach Neunkirch gezogen. Er blieb. Mit Freunden der Pfadigruppe «The Clochards» hatte er 1978 ein Musikfestival im Ort gegründet. Langhaarige, BH-Befreite, Freaks, Familien reisten nach Neunkirch, für das angebotene Essen musste man sein eigenes Geschirr mitbringen. Es war die Zeit, als Urs Erb manchmal die Augen schminkte, wenn er auf die Gasse ging. Wenn die meisten sagten, eine Sache habe so und so zu sein, war das für ihn immer auch Anreiz, es anders zu machen.

Auf der Gasse, meistens im Umfeld der Genossenschaft «Fass», traf er auf Christian Bührer, damals noch Kunstturner, der bald einmal dem Grünen Bündnis beitrat, einem Zusammenschluss von ehemaligen Kommunistinnen und Kommunisten. Mit Gleichgesinnten brach Christian Bührer in Häuser in der Schaffhauser Altstadt ein, die gerade aufwendig renoviert wurden, damit sie später teuer vermietet werden konnten. Sie hängten schwarze Fahnen über die Fassade, als Zeichen der Trauer. «Alles völlig harmlos», sagt Bührer. «Aber die Polizei war etwas nervös.»

Auch die Achtzigerjahre: die letzten Atemzüge der Kalten-Krieg-Paranoia. Hinter jeder Telefonzelle ein Agent versteckt. Böden aus Kunststoff, Möbel aus mit Formaldehyd verhärteten Spanplatten, Küchen aus synthetisch hergestelltem Harz, Spannteppiche. Die Handwerker in der Roten Fabrik waren der Meinung, dass all diese künstlichen Materialien früher oder später im Sondermüll landen würden. Sie verfolgten ihre eigenen Pläne. Urs Erb spezialisierte sich auf massgefertigte Küchen und Möbel aus Massivholz, das aus einem Stamm in Bretter gesägt und getrocknet wird. Das Holz besorgte er sich in der Gegend. Um die Oberflächen zu behandeln, verwendete Urs Erb Öl aus Leinsamen und Bienenwachs. Auf Chemikalien verzichtete er. Mit diesem umweltfreundlichen Vorgehen war er seiner Zeit voraus. Bei Zimmermannsarbeiten setzten die Rote-Fabrik-Handwerker auf rezikliertes Altpapier, ein neues Produkt namens Isofloc, um Gebäude zu isolieren. Diese Technik ist heute Standard in der Wärmedämmung.

«Wir waren stolz, dass wir als Exoten wahrgenommen wurden», sagt Christian Bührer.

«Das zelebrierten wir», sagt Urs Erb.

«Das war Protest», meint Bührer.

Protest wogegen?

«Das wussten wir selbst nicht so recht», erwidert Bührer nachdenklich. Dann fällt ihm eine Geschichte ein. Vor vielen Jahren wurde er für den Umbau eines alten Hauses in einem Aussenquartier der Stadt Schaffhausen engagiert. Er fand einen Parkettboden aus massiver Tanne vor. Der Boden war über hundert Jahre alt, und weil Wasser ins Gebäude gedrungen war, hatten sich die Holzteile stark verformt. Bührer baute den Boden sorgfältig ab, schliff und behandelte die Teile vor Ort und baute sie anschliessend wieder ein. Handwerker, die ihn dabei beobachteten, hätten ihn ausgelacht, sagt Bührer. Sie hätten gesagt: Was machst du dir eine Mühe mit diesem alten Zeug? An deiner Stelle würde ich den Schrott entsorgen und einen neuen Boden reinmachen. Natürlich hörte Bührer nicht auf sie. Die Renovation von alten Parkettböden wurde zu seiner Spezialität.

Die Gründer der Roten Fabrik Urs Erb (2. v. r.) und Christian Bührer (mit Mütze) finden mit Daniel Meyer (rechts) Zuwachs. Links: Daniel Brunner, der im Jahr 2000 dazukam. © Robin Kohler
Die Gründer der Roten Fabrik Urs Erb (2. v. r.) und Christian Bührer (mit Mütze) finden mit Daniel Meyer (rechts) Zuwachs. Links: Daniel Brunner, der im Jahr 2000 dazukam. © Robin Kohler

«Unser Protest war unterschwellig», sagt Urs Erb. «Wir gaben den anderen, den Bürgerlichen, den Konventionellen zu verstehen: Wir beherrschen unser Handwerk. Wir sind gut. Gut auf unsere Art.»

Christian Bührer nickt.

«Langsam sind wir so weit, dass man uns ernst nimmt», sagt Urs Erb. Das war eine Pointe. Man muss genau hinhören, wie Urs Erb etwas sagt. Meistens schwingt Selbstironie mit.

Die Gemeinschaft (und der Rücken)

Wenn man etwas nachdenkt, ist es merkwürdig, dass die Handwerker der Roten Fabrik Neunkirch von ihren Berufskollegen als schräge Vögel wahrgenommen wurden. Die Werkstatt ist ihrer Umgebung ähnlicher, als man denkt. Rundherum gibt es landwirtschaftliche Genossenschaften. Der ganze Klettgau ist davon geprägt. Im Grunde funktionieren die Genossenschaften gleich wie die Rote Fabrik.

Ein einzelner Bauer oder Schreiner kann sich unmöglich alle Maschinen leisten, die er benötigt, Mähdrescher, Bandsäge, Gabelstapler, Kantenschleifer. Aber gemeinsam sind die Investitionen zu verkraften. Die Maschinen werden geteilt, und wenn einer Hilfe braucht, weiss er, wen er fragen kann.

Eine Zeit lang war der Zimmermann Peter Wanner Teil der Werkstattgemeinschaft. Er baute Stachelweidlinge, fester Bestandteil der alternativen Szene Schaffhausens. Irgendwann wanderte Peter Wanner nach Thailand aus. Dann war auch mal ein Maschinenmechaniker da, der wegen seiner politischen Einstellung keinen Job in der Industrie bekommen hatte, und ein Töpfer fand hier ebenfalls Arbeit. Im Jahr 2000 stiess der Schreiner Daniel Brunner dazu.

Manche kamen und gingen in den vergangenen 35 Jahren. Urs Erb und Christian Bührer blieben, und man braucht sie nicht zu fragen, warum sie die Arbeit mit Holz nach all den Jahren noch immer so mögen. «Jetzt bist du durch die Werkstatt gelaufen und stellst trotzdem diese Frage?», sagt Urs Erb mehr überrascht als vorwurfsvoll.

Dann beginnen er und Christian Bührer dennoch zu erzählen.

Der Geruch nach frisch gesägtem Holz. Die gewundene Faserung im Brett. Das Weiche in der Form, das Biegsame, das Harte im Material, das Schimmern einer polierten Oberfläche, und jeder Stamm, jeder Ast sieht wieder anders aus. Die beiden erzählen fast zärtlich davon, obschon die Arbeit Spuren an ihren Körpern hinterlassen hat.

«Als Junger machst du dir keine Gedanken darüber», sagt Erb, heute 64 Jahre alt. Die schweren Holzteile hievten sie von Hand an den richtigen Ort. Er nennt es: «hochwürgen». Heute benutzen sie Gabelstapler und Kran.

«Könnte schlimmer sein», sagt der ein Jahr ältere Bührer. Er benötigt ein künstliches Gelenk im rechten Knie. Im linken hat er schon eines. Und seine Schulter schmerzt auch.

«Noch schlimmer?», fragt Erb. Sein Rücken ist blockiert. Zwei Bandscheibenvorfälle. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass er Anfang Jahr erfahren hatte, dass er an Blutkrebs leidet. Darum schaute er sich nach einer Nachfolge um. Der letzte Versuch war gescheitert. Seine Tochter, eine Schreinerin Mitte zwanzig, hatte zwei Jahre mit ihm gearbeitet. Sie entschied sich aber gegen die Übernahme und wechselte zu einer anderen Schreinerei. Die allgemeinen Aussichten in Sachen Übernahme wurden auch nicht besser. «Fachkräfte dringend gesucht», kann man seit Jahren in Fachzeitschriften lesen. Als er dachte, er finde niemanden mehr, meldete sich ein Mann namens Daniel Meyer.

Scholle, der Nachfolger

Daniel Meyer sitzt im Coop-Restaurant in Schaffhausen und isst einen Salatteller. Seine Hände sehen so aus, als könnten sie Steine zermalmen. Die letzten Tage müssen merkwürdig gewesen sein für ihn. Am Freitag unterzeichnete er die Papiere zur Übernahme eines Teils der Roten Fabrik Neunkirch per 1. Januar 2025. Am Sonntag, bei den Wahlen, verlor er sein Amt als Kantonsrat. Niemand hatte damit gerechnet.

Daniel Meyer ist zwar erst 39 Jahre alt, hat aber schon zwanzig Jahre Erfahrung in der Politik. Er war Gründungsmitglied der Alternativen Liste, und im Alter von 27 Jahren wurde er in den Gemeinderat von Hallau gewählt. Die Leute mochten seine unkomplizierte, direkte Art. Einige Jahre lang war er auch Präsident der Schaffhauser SP-Sektion gewesen.

«Ich freue mich wie ein Spitzbub», sagt er als Erstes. Er kann es kaum erwarten, seine Arbeit in der Roten Fabrik aufzunehmen. In der Kantonsschul-Verbindung Scaphusia erhielt er den Namen «Scholle», was Ackerland oder Heimat bedeutet. Daniel Meyer schätzte immer, was er um sich hatte, und nach dem Zufall der Geburt war das für ihn der Klettgau. Nach der Kantonsschule studierte er Maschinenbau. Anschliessend arbeitete er als Ingenieur, lange für die SBB, dann kurz für den Energiekonzern Alpiq.

2020, im neunten Jahr als Ingenieur, merkte er allerdings, dass er die Arbeit im Büro nicht mehr ertrug. Achteinhalb Stunden täglich Dateien und Zahlen im Computer zu sortieren, schien ihm zu eintönig. Er musste raus. Also fing er eine Schreinerlehre an, die er im Sommer 2023 abschloss. Danach suchte er nach einer eigenen Werkstatt. Als er vom Nachfolgeproblem der Roten Fabrik hörte, brauchte er nicht lange, um zuzusagen. Zumal auch die Bedingungen sehr gut sind. Die Maschinen seines Vorgängers Urs Erb kann er für 25 000 bis 30 000 Franken kaufen. Anderswo wäre eine Übernahme um ein Vielfaches teurer geworden.

Ausserdem gefällt Daniel Meyer der Geist der Roten Fabrik, und er möchte weiterhin mit Massivholz arbeiten. Allerdings nicht nur. Seine Arbeit macht er von den Wünschen der Kundinnen und Kunden abhängig. «Nur Idealist zu sein, nährt nicht», sagt er. Er bevorzugt es, die Dinge pragmatisch anzugehen.

«Ich will der Dorfschreiner sein», sagt Daniel Meyer. «Wenn jemand eine neue Tür oder eine Küche braucht, soll er wissen, dass er zu mir kommen kann.»

Das Aufhören

Die Kaffeetassen sind schon lange leer. Draussen setzt die Dämmerung ein. Urs Erb und Christian Bührer reden übers Aufhören. Erb hätte gern noch ein, zwei Jahre weitergemacht, aber der Körper zwingt ihn, früher zurückzufahren. Er ist gerade daran, seinen Teil der Werkstatt zu räumen, damit Daniel Meyer sich einrichten kann. Aber einige Werkzeuge zügelt er in eine andere Ecke der Werkstatt, um weiterhin kleinere Arbeiten zu übernehmen.

«Du kannst nicht plötzlich von 150 auf null runter», sagt Urs Erb.

«Die Arbeit tut auch deiner mentalen Gesundheit gut», sagt Christian Bührer.

«Vielleicht können Daniel und ich mal etwas zusammen machen», sagt Erb. «Er ist voller Power und Tatendrang, er ist der richtige Mann … Suchst du eigentlich auch mal jemanden?»

«Jaa …», sagt Christian Bührer.

«Ich meine: ernsthaft suchen.»

«Jaa … Vielleicht gehts dann zu schnell.»

«Wenn wir aufhören, muss die Welt stehen bleiben», sagt Urs Erb. Er setzt wieder zu einer Pointe an. «Dann weiss ja niemand mehr, wie man all die Dinge richtig macht.»