Weil eine Kantonsangestellte das Telefon nicht richtig auflegte, steht sie jetzt vor Bundesgericht. Eine Justizposse um Rassismus, Sexismus und die eifrige Schaffhauser Staatsanwaltschaft.
Als eine Frau an einem Donnerstagmorgen im Sommer 2019 in ihrem Büro sitzt und die Nummer eines Mannes wählt, weiss sie noch nicht, dass sie diesen gleich rassistisch beleidigen und damit eine absurde Gerichtsposse auslösen wird. Die Frau arbeitet als juristische Mitarbeiterin bei einer kantonalen Behörde, und als sie den Mann nicht erreichen kann, ist sie offensichtlich genervt. Sie hinterlässt eine Nachricht auf seiner Combox, legt auf und schimpft dann «lüt zrugg du N****» hinterher.
Die Sache könnte ein Fall von verstecktem Alltagsrassismus sein, wie er in der Schweiz heute noch jeden Tag vorkommt. Doch dieser Fall ist anders. Denn als die Frau entnervt das N-Wort sagt, glaubt sie nur, aufgelegt zu haben. Die Combox des Mannes aber zeichnet weiter auf. Und damit kommt ein Fall ins Rollen, der heute, fünf Jahre später, das Schweizerische Bundesgericht beschäftigt.
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Nachdem der Mann die Beleidigung auf seiner Combox hört, erstattet er Anzeige wegen Beschimpfung. Im Grunde ist die Sache ziemlich simpel: Die Aussage der Frau wurde aufgezeichnet. Und spätestens als die Staatsanwaltschaft einen Mitarbeiter der Frau befragt, der mit ihr damals, im Sommer 2019, im selben Büro sass und hörte, wie sie das N-Wort sagte, scheint der Fall klar. Doch als es im Frühling 2023 schliesslich zu einem Verfahren vor dem Schaffhauser Kantonsgericht kommt, wehrt sich die Frau.
Sie argumentiert formaljuristisch, die Aufzeichnung sei ein «rechtswidrig erlangtes Beweisstück», da sie den entscheidenden Satz unabsichtlich auf die Combox gesprochen und der Mann deshalb keine Einwilligung zur Aufnahme gehabt habe.
Sie argumentiert aber auch, dass der Mitarbeiter, der mit ihr damals im selben Büro sass und hörte, was sie sagte, von der Staatsanwaltschaft suggestiv befragt worden sei. Ausserdem sei er nicht sicher gewesen sei, ob er «dummer N****» oder «Idiotenn****» gehört habe. Ein ihrer Meinung nach zweifelhafter Zeuge also.
Ausserdem führt die Frau an, dass die Combox-Aufnahme nicht zweifelsfrei belegen könne, dass sie tatsächlich das N-Wort gesagt habe. Ein Gutachten der Aufzeichnung, das die Staatsanwaltschaft beim Forensischen Institut Zürich in Auftrag gegeben hatte, ging zwar davon aus, dass die Frau das N-Wort sagte, räumte aber auch ein, klar zu verstehen sei lediglich «Ne–er». Die Beschuldigte argumentiert, die Interpretation als N-Wort sei auf die Erwartungshaltung der Gutachterin zurückzuführen. Der Satz hätte auch «lüt zrugg du Nepper» lauten können.
Doch es nützt nichts. Am 25. April 2023 spricht das Kantonsgericht die Frau der Beschimpfung schuldig und verurteilt sie zu einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 150 Franken bei einer Probezeit von zwei Jahren.
Die Frau aber will das Urteil nicht akzeptieren, sie geht in Berufung und so beschäftigt sich ein Jahr später das Obergericht mit dem Fall – und stösst das Urteil der Vorinstanz am 7. Mai 2024 mit einem interessanten Entscheid teilweise um.
Der zentrale juristische Begriff: Retorsion.
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Gleich vorweg: Das Obergericht verurteilt die Frau wie schon das Kantonsgericht wegen Beschimpfung. Jedoch nicht, wie man vermuten könnte, weil diese Beschimpfung auf der Combox-Aufnahme zu hören ist. Eine Beschimpfung kann von Gesetzes wegen nur vorsätzlich oder eventualvorsätzlich begangen werden; wenn die Täterin also zumindest damit rechnen muss, dass sie die Tat begehen könnte. Was ein wenig technisch und konstruiert klingt, illustriert das vorliegende Beispiel schön: Da die Frau nicht davon ausgehen konnte, dass der Mann, den sie einen N**** nannte, diese Beleidigung auch zu hören bekommt – weil sie glaubte, dass die Combox-Aufzeichnung bereits beendet war –, musste sie auch nicht davon ausgehen, dass er sich beschimpft fühlen könnte.
Dass die Beschuldigte trotzdem wegen Beschimpfung verurteilt wird, liegt an ihrem Arbeitskollegen, der damals, im Sommer 2019, im selben Büro sass und hörte, dass sie den Mann einen N**** nannte. Die Frau wusste, dass ihr Arbeitskollege im Büro sass und möglicherweise hören konnte, was sie sagt, ergo: Eventualvorsatz.
Das Obergericht verurteilt die Frau also wegen Beschimpfung. Doch anders als das Kantonsgericht sieht das Obergericht von einer Strafe ab. Es bezieht sich dabei auf Art. 177 Abs. 3 des Strafgesetzbuches: Wenn eine Beleidigung oder Tätlichkeit unmittelbar erwidert wird, kann das Gericht von einer Strafe absehen. Diese Strafbefreiung wegen sogenannter «Retorsion» wurde von der Beschuldigten nicht beantragt, das Obergericht hat das Argument selbstständig eingebracht. Im Grunde hat gar das Hauptbeweisstück selber das Argument eingebracht: Denn die Aufnahme enthält nicht nur eine Beleidigung, sondern gleich zwei.
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Als die Schaffhauser Polizei nach der Strafanzeige 2019 die Combox-Aufnahme sichern will, befindet sich der Mann, der rassistisch beleidigt wurde, gerade in Untersuchungshaft. Also händigt seine damalige Partnerin eine Kopie der Aufnahme aus, die er angefertigt hat. Doch darauf ist mehr zu hören als die Combox-Nachricht der Frau selbst. Vor dem Signalton hört man den Mann zu jemandem, vermutlich seiner damaligen Partnerin, sagen: «J’m porte plainte à cette pute» – ich beschwere mich bei dieser Hure.
Ein Fall von Retorsion, wenn auch ein ungewöhnlicher. Ein klassischer Retorsionsfall wäre, wenn ein Mann einen anderen am Stammtisch als Arschloch beschimpft und der sogleich zurückgibt: selber Arschloch. Der eine könnte dem anderen auch eine Ohrfeige geben und der andere gibt umgehend eine zurück. Die beiden sind quitt, es braucht keine strafenden Gerichte. Es ist im Grunde eine legale Form der Selbstjustiz, zulässig in Bagatellfällen.
Eine Voraussetzung für eine Strafbefreiung wegen Retorsion ist eigentlich, dass die Erwiderung der Beleidigung oder Tätlichkeit «unmittelbar» geschieht. Im vorliegenden Fall argumentiert das Obergericht aber, dass der Mann die Frau nach dem Abhören seiner Combox durchaus aus einer Gefühlsregung heraus und somit unmittelbar zurückbeleidigt habe.
«Ein öffentliches Interesse an der Bestrafung der Beschuldigten besteht nicht mehr», schlussfolgert der vorsitzende Oberrichter Kilian Meyer.
Es ist ein elegantes Urteil. Da trotz Schuldspruch keine Strafe ausgesprochen wird, erscheint die Verurteilung nicht im Strafregister der Frau, was für ihre Karriere in der Justiz fatal hätte sein können. Gleichzeitig legt ihr das Obergericht eine Staatsgebühr von 2700 Franken und Entschädigungszahlungen von 2285 Franken auf. Dazu kommen die Kosten für ihre eigene Verteidigung. Insofern muss die Frau ihren Alltagsrassismus im Amt durchaus teuer bezahlen.
Zwischen den Zeilen sagt das Urteil aber auch: Der Staat und vor allem die überlastete Justiz haben besseres zu tun, als sich mit derartigen Bagatellfällen zu beschäftigen. Nicht das Strafrecht sollte sich um Alltagsrassismus in kantonalen Ämtern kümmern, sondern die Behörden selber – im Rahmen von Disziplinarmassnahmen.
Die Schaffhauser Staatsanwaltschaft sieht das offenbar anders. Sie hat sich entschieden, das Urteil ans Bundesgericht weiterzuziehen.