Die Kita in Büsingen wird von einer Gruppe von Eltern kritisiert. Die Rede ist von einem Klima der Angst. Die Gemeinde ist überrascht. Haben vielleicht beide Seiten recht? Einblick in ein Spiegelkabinett.
Der Weg, der zur Kindertagesstätte Rheinwiese in Büsingen führt, ist eine Stolperfalle. Vor zwölf Jahren pflanzte der damalige Bürgermeister Gunnar Lang vor den Haupteingang der Kindertagesstätte eine «Bürgermeistereiche», ganz traditionsgemäss. Nun haben sich die Wurzeln unter die Oberfläche des Plattenbelags gedrängt und diesen aufgewölbt, so dass Kinder und Eltern leicht stolpern könnten. Der Gemeinderat entschied vergangene Woche, dass – statt den stattlichen Bürgermeisterbaum zu fällen – der Weg nun um die Eiche herum gebaut werden soll.
So einfach dürfte ein weiteres Problem, das im Umfeld der Kindertagesstätte Rheinwiese rumort, nicht zu lösen sein. Ein Konflikt zwischen einer Gruppe Eltern und der Kita-Leitung führt zu Ärger im Dorf. Viele klagen über Dinge, mit denen derzeit viele Eltern in Deutschland zu kämpfen haben, die ihre Kinder in eine Kita geben: eingeschränkte Betreuung, Schliesstage, unflexible Strukturen.
In die strukturelle Krise mischt sich in der deutschen Exklave aber auch ein weiteres Problem: Das Vertrauensverhältnis zwischen Teilen der Elternschaft und der Kita-Leiterin S. ist stark zerrüttet. Mehrere, mit denen die AZ gesprochen hat, sprechen von einem «Klima der Angst». Weil sie teilweise noch Kinder in der Kita haben, wollen die meisten nur anonym in diesem Bericht erscheinen. «Wir leben in der ständigen Angst, unseren Kita-Platz zu verlieren», fasst ein Vater die Gefühlslage zusammen.
«Kita-Krise»
Vor etwas mehr als zehn Jahren führte Deutschland ein Recht ein, das für Schweizer Ohren paradiesisch klingt: Jedes Kind, das älter als ein Jahr ist, hat ein Recht auf einen Kita-Platz. Im selben Jahr scheiterte in der Schweiz der sogenannte Familienartikel, der die Kantone dazu verpflichten wollte, mehr Plätze für die familienergänzende Kinderbetreuung zu schaffen, an der Urne. Das Gegenkomitee aus SVP und FDP warnte, schreiende Babys mit Barcodes auf den Plakatwänden, vor «Staatskindern».
Als die Gemeinde Büsingen zwei Jahre später die sanierte und vergrösserte Kindertagesstätte Rheinwiese eröffnete, verkündete der damalige Bürgermeister Markus Möll: «Ich sehe nur Glück, Zufriedenheit und Freude.»
Seither haben sich die Aussichten verdunkelt. Der deutsche Staat konnte sein Versprechen, das er mit der Einführung des Rechtseinspruchs gemacht hat, bisher nicht einlösen. Bundesweit fehlen über 400 000 Betreuungsplätze. Weil zudem über Hunderttausend Erzieherinnen und Erzieher zusätzlich benötigt werden, müssen Betreuungszeiten verkürzt werden, was insbesondere Frauen dazu zwingt, von ihrer Arbeit fern zu bleiben und zu Hause einzuspringen. Deutsche Topmanager, Kita-Verbände und Entwicklungspsychologinnen reden von einer veritablen «Kita-Krise».
In Büsingen wird diese strukturelle Krise derweil durch einen Knatsch zwischen einer Gruppe von Eltern und der Gemeinde noch verschärft. Die AZ hat über die vergangenen Monate mit insgesamt acht Elternteilen gesprochen. Die meisten haben Kinder, die aktuell die Kindertagesstätte besuchen, andere solche, die die Kita bereits Richtung Grundschule verlassen haben. Im Zentrum der Kritik steht dabei vor allem die Kita-Leiterin S. Aber auch die Gemeinde als Trägerin der Kindertagesstätte: Sie nehme die Leiterin in Schutz und arbeite gegen die Eltern.
Der Hauptkritikpunkt der Eltern: Wer sich kritisch gegenüber der Kita-Leiterin S. äussere, müsse sich um seinen Kita-Platz sorgen. Dieser Eindruck entstehe, weil die Kita-Leiterin bei Kritik sofort auf die sogenannte Benutzerordnung verweist, ein 24-seitiges Regelwerk, das die Rechte und Pflichten der Eltern und der Kindertagesstätte festlegt. Im längsten Abschnitt listet die Benutzerordnung mögliche Kündigungsgründe durch die Gemeinde auf. Die Gemeinde darf laut dem Regelwerk Eltern kündigen, wenn «nicht ausgeräumte erhebliche Auffassungsunterschiede» bestehen oder ein «nachhaltig belastetes Vertrauensverhältnis» zwischen den Eltern und der Einrichtung. Nur: Ab wann das Vertrauensverhältnis zur Einrichtung belastet sei und Eltern als unkooperativ gelten, wird von den Eltern als willkürlich wahrgenommen.
Carolin Vallo, die bis August 2023 noch einen Sohn in der Kindertagesstätte Rheinwiese hatte, erinnert sich: «Wenn man sich kritisch äusserte, wurde sofort die Vertrauensfrage gestellt.» Sie hatte sich an einem Belohnungssystem gestört, das die Kita für ihren Sohn entwickelt hatte. Wenn sich der Bub zehn Mal «gut» verhielt, durfte er in die Turnhalle. «Ich fand das für einen Vierjährigen völlig unangemessen», sagt CarolinVallo. «Das habe ich der Erzieherin auch gesagt und sie darum gebeten, dass sie meinen Sohn doch jeden Morgen eine halbe Stunde in die Turnhalle schicken solle, damit er für den Rest des Tages ausgepowert ist.» Kritik dieser Art sei ihr von der Kita-Leitung übel genommen worden, sagt Vallo. Auch andere Eltern, die heute noch Kinder in der Kindertagesstätte Rheinwiese haben, bestätigen, dass die Kita-Leiterin S. bei Kritik schnell dicht mache; Eltern, die sich in der Kita mit Projekten engagieren wollen, würden zurückgewiesen. «Als Elternteil wurde einem abgesprochen, dass man weiss, was gut für seine Kinder ist. Das Vertrauen, das die Gemeinde einforderte, erwiderte sie nicht», sagt Carolin Vallo.
In einigen Fällen gipfelte die Auseinandersetzung zwischen der Kita-Leitung und den Eltern in einer Sitzung im Bürgerhaus, welche die Eltern auch als «Tribunal» bezeichnen. Die Eltern wurden dann in das Bürgerhaus vorgeladen und sassen dort der Kita-Leitung, der Bürgermeisterin und wahllos weiteren Verwaltungsangestellten gegenüber. Dort, so erzählen es die Eltern, werde man nochmals eindringlich an die 24-seitige Benutzerordnung erinnert. Einige müssen am Schluss auch ein eigens aufgesetztes Dokument unterzeichnen.
Der AZ liegt eine solche Vereinbarung vor. Darin rollt die Gemeinde den Konflikt nochmals auf. Ein Gemeindevertreter und die Kita-Leitung stellen fest, dass die Eltern die Benutzerordnung «in Frage gestellt» und die Einrichtung «persönlich und öffentlich kritisiert» hätten. Anschliessend müssen sich die Eltern erneut verpflichten, die Benutzerordnung anzuerkennen und einen respektvollen Umgang mit den Kita-Angestellten zu pflegen. Bei Nichteinhaltung, so steht ganz am Schluss, kann das Vertragsverhältnis beendet werden.
Vorwurf «unverständlich»
Ein Teil der Büsinger Eltern ist also unzufrieden mit der Kindertagesstätte Rheinwiese und insbesondere der Arbeit der Kita-Leiterin S. Weil es für viele keine Option ist, ihre Kinder ausserhalb von Büsingen in die Kita zu bringen – die Kinderbetreuung in der Schweiz ist deutlich teurer und die naheliegenden Deutschen Gemeinden leiden selbst unter Platzmangel – kuschen viele.
Was sagt die Gemeinde Büsingen, die Trägerin der Kindertagesstätte, zu den Vorwürfen?
An einem grauen Montagnachmittag empfängt Bürgermeisterin Vera Schraner im Bürgerhaus. Schraner ist seit vier Jahren im Amt, sie zog in jungen Jahren aus Büsingen weg und kehrte 2017 mit Mann und Kindern wieder zurück.
Eigentlich hat die Verwaltung am Montagnachmittag geschlossen, aber die Stühle um den langen ovalen Tisch in Schraners Büro sind alle besetzt. Für das Gespräch mit der AZ hat die 51-jährige Bürgermeisterin aufgeboten: Sandra Wacker, stellvertretende Bürgermeisterin und Mitglied des Kindergartenausschusses im Gemeinderat; Marc Erny, Vorsitzender des Elternbeirats; und Kita-Leiterin S., seit zwölf Jahren Leiterin der Kindertagesstätte Rheinwiese. S. ist es, die im Zentrum der Kritik einzelner Eltern steht.
Alle am Tisch sagen: Die Kritik überrasche sie. Wie bei jeder Institution gebe es Kleinigkeiten, die Eltern kritisieren würden: eingeschränkte Öffnungszeiten oder Kinder, die bei Krankheitssymptomen wieder nach Hause geschickt werden, was für die berufstätigen Eltern eine Belastung darstellt. «Es gab in der Vergangenheit immer mal verschiedene Punkte, die wir aber immer klären konnten», sagt Marc Erny, der Elternbeiratsvorsitzende. Von Eltern, die sagen, dass es «gravierende Missstände» gebe oder gar ein «Klima der Angst» herrsche, habe er noch nie gehört. Die Bürgermeisterin ergänzt: «Wir bieten eine qualitativ hochwertige und im Verhältnis günstige Kinderbetreuung an. Wir gehen, wo möglich, auf die Bedürfnisse der Eltern ein, aber im Zentrum stehen die Kinder. Manchmal warne ich: Wir dürfen uns nicht zu fest für einzelne Bedürfnisse der Eltern verbiegen.»
Schraner bleibt während des Treffens stets diplomatisch, wiegelt ab, schaut immer wieder zu Kita-Leiterin S. Man merkt der Bürgermeisterin an, dass sie Verständnis für die Kritik der Eltern ausdrücken und sich gleichzeitig schützend vor die Kita-Angestellten stellen will, die gemäss Kita-Leiterin S. bereits heute arbeiten, «bis sie nicht mehr können». «Wenn eine Erzieherin krank ausfällt », sagt S., «und wir nur eine eingeschränkte Betreuung anbieten können: Glauben Sie, dass die Eltern dann fragen, wie es dem erkrankten Personal geht?» Es komme auch immer wieder vor, so die Kita-Leiterin, dass sich Eltern gegenüber den Erzieherinnen im Ton vergreifen würden. «Da ziehe ich eine rote Linie.»
Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, hat die Gemeinde erst kürzlich einen Spotify-Werbespot produziert und eine Social-Media-Kampagne gestartet. Eine Lohnerhöhung für die Erzieherinnen, die von einer Elterninitiative angestossen wurde, hat der Gemeinderat zwar Anfang Jahr abgelehnt, aber nur, weil ein Vorstoss zum selben Thema noch im Gemeinderat hängig ist.
Vera Schraner setzt gerne auf Strukturen, klare Vorgaben und Regeln. Diese liefert die 2022 überarbeitete Benutzerordnung. Zu dieser müssen alle Eltern zu Beginn ihre Einwilligung erteilen. S., das betonen alle am Tisch, vertrete diese und weitere gesetzliche Vorgaben lediglich gegenüber den Eltern.
Darüber hinaus bestehe ein Leitfaden, wie die Kindertagesstätte Rheinwiese mit Kritik umgeht. Erst wenn Eltern, Erzieherinnen und Kita-Leitung keine Lösung finden, wird der Gemeinderatsausschuss und, in letzter Instanz, die Bürgermeisterin eingeschaltet. Es habe einzelne Fälle in der Vergangenheit gegeben, sagt Vera Schraner, bei denen das Vertrauensverhältnis so im Argen gelegen sei, dass man gemeinsam eine Vereinbarung unterschrieben habe; wenn sich jemand auch mit dieser nicht arrangieren kann, könne die Zusammenarbeit gekündigt werden. «Das war aber in den vergangenen drei, vier Jahren nie der Fall», sagt Kita-Leiterin S. Den Vorwurf, dass es sich bei diesen gemeinsamen Gesprächen um «Tribunale» handle, bei denen kritische Eltern «mundtot» gemacht werden sollen, sei deswegen völlig unverständlich, sagt Sandra Wacker, die im Kita-Ausschuss des Gemeinderats sitzt.
«Wir sind stets gesprächsbereit und wollen Brücken bauen», versichert S., stellt aber auch klar: Es stehe den Eltern frei, ihr Kind in einer anderen Einrichtung betreuen zu lassen.
System oder Struktur?
Es scheint fast so, als seien Gemeinde, Kita-Leiterin und besorgte Eltern in einem Spiegelkabinett gefangen. Was das Gegenüber tut, wird nur verzerrt wahrgenommen, als bedrohliche Projektion. Wo die Bürgermeisterin Strukturen und klare Abläufe sieht, die Verantwortlichkeiten festlegen, sehen die Eltern, mit denen die AZ gesprochen hat, ein System, das sie gängelt. Wenn die Eltern sich stärker in die Betreuung der Kinder einbringen wollen, wittert die Kita-Leiterin Einmischung. Ein runder Tisch fühlt sich plötzlich an wie ein Tribunal.
Verkompliziert wird das Ganze durch die strukturellen Probleme, die alle deutschen Kommunen plagen. Die Lage hat sich für Kitas und Erzieherinnen und Erzieher inzwischen so zugespitzt, dass der Verband Kita-Fachkräfte Baden-Württemberg vergangenes Jahr forderte, den Rechtsanspruch, dieser vor einem Jahrzehnt vollzogene sozialpolitische Kraftakt, wieder fallen zu lassen: «Wir können den nicht erfüllen.»
Und wie in jedem Dorf gibt es ein Grundrauschen aus Geschichten und Gerüchten, neue und alte, die in einer Situation, wo das Vertrauensverhältnis derart zerrüttet ist, ein Eigenleben entwickeln können. Eine Mutter beschreibt die Situation so: «Ein Teil der Eltern sitzt im Sumpf. Sie haben mit der Kindertagesstätte etwas gefunden, worüber sie ständig reden und der sie die Schuld geben können, wenn es ihnen schlecht geht.» Dass die Kommune auf Kritik empfindlich reagiert und mit Vereinbarungen Kooperation erzwingen will, schürt wiederum das Gefühl, die Eltern müssten entweder mitziehen – oder die Kinder aus der Kita nehmen. «Es gibt kein Miteinander, kein Verständnis», sagt die Mutter Carolin Vallo.