MS Krisensicher

23. September 2024, Kevin Brühlmann
Gäste aus Wirtschaft und Politik an Deck der MS Arenenberg, 28. August 2024. Foto: Noëlle Schönauer

Grössen aus Politik und Wirtschaft steigen auf ein Schiff, um über echte Probleme zu reden. Bruchstücke aus einem liberalen Traum.

Der Asphalt schluckt so viel Sonnenenergie, dass er im nächsten Moment schmelzen muss. Gut besohlte Lederschuhe stehen in einer Reihe, da und dort von einem Paar Turnschuhe unterbrochen, alles recht unauffällige, aber sicher nicht billige Ware, ein Ausdruck der Erlösung des Einzelnen durch individuelle Freiheit. Zum Beispiel die Freiheit, dass der Preis einer Flasche Wein oder eines E-Bikes keine Rolle im Leben spielt.

Die Grössen der Schaffhauser Gesellschaft warten, um an Bord des Kursschiffs MS Arenenberg zu gehen. Fast alle, die in Schaffhausen etwas zu sagen haben, sind erschienen. So, wie immer, wenn die Wirtschaftskammer IVS einlädt. Die Industrie- und Wirtschaftsvereinigung ist die einflussreichste Lobbyorganisation der Region.

Einmal im Jahr versammelt man sich auf einem Schiff und fährt von Schaffhausen nach Stein am Rhein. Früher mussten die anwesenden Journalistinnen und Journalisten in Stein am Rhein von Bord, damit die Politiker, Bankiers, Chefbeamten, Zeitungsverleger, Immobilienunternehmer, Patrons von Handwerkerbuden, Anwälte und Briefkastenfirmenbetreuer unbeobachtet zurück nach Schaffhausen fahren konnten. Doch dieses Jahr ist es anders. Dieses Jahr dürfen Journalisten auch auf der Rückfahrt dabei sein, aus einem nicht näher erläuterten Grund, und ich bin am Begginger Tisch gelandet, einer sonderbaren, Linkedin-freien Exklave in dieser Gesellschaft oben an Deck, wo sich die Hitze an diesem Mittwochabend Ende August staut. Begginger Tisch, weil Erich Schudel, der Präsident des Kantonsrates, hier sitzt und neben ihm Regierungsrat Walter Vogelsanger und ein Inhaber einer kleinen Firma, alle drei aus Beggingen, was Erich Schudel genügt, um den acht Leute umfassenden Tisch als Kolonie zu begreifen.

Eine durch Lautsprecher verstärkte Stimme unterbricht die Begginger Zeremonie. Sie gehört Bernhard Klauser, Co-Präsident der IVS. Ein Treuhänder, der sich mit seiner Firma neben dem Prüfen von Geschäftsbüchern auch auf Beratungen spezialisiert hat für irgendwelche Weltgesellschaften, die ein paar hundert Millionen durch Schaffhauser Briefkästen schleusen, vermutlich ziemlich steuersparend. Bernhard Klauser trägt keine Krawatte. Seinen Sakko hat er abgelegt. Als Erstes begrüsst er alle fünf Mitglieder der Regierung, die sich an Deck gesetzt haben. «In welchem anderen Kanton ist es möglich, dass der gesamte Regierungsrat vor Ort ist?», fragt er.

«Musst es nur gratis machen», sagt der SVP-Politiker Peter Scheck und zieht an seiner Elektrozigarette.

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Der Erfinder dieses Anlasses ist Giorgio Behr, ein 76 Jahre alter Unternehmer und Handballmäzen, Vermögen laut dem Magazin Bilanz: 425 Millionen Franken. Er war Klausers Vorgänger als IVS-Präsident. Während fast zwanzig Jahren war es Behr gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass alle wichtigen Leute aus Politik und Wirtschaft an Bord kamen. Die Schiffsfahrt liess alle wissen, wer hier das Sagen hat, sie war ein Ausdruck eines Geltungs- und Gestaltungsdrangs, und Behr war besonders darauf bedacht, dass Mitglieder der Regierung so lange wie möglich anwesend blieben.

«Es geht darum, die richtigen Leute kennenzulernen», hatte Giorgio Behr vor ein paar Jahren erklärt. «Ich sage allen, geh zu dem und dem, und im Nachhinein bedanken sich die Leute bei mir. Das ist weit weg von Korruption. Aber du weisst, mit wem du telefonieren musst. Es macht vieles einfacher.»

 «Giorgio, gute Innovation!», lobt Bernhard Klauser und sucht den Patron unter den 150 Anwesenden, auf deren Hemden sich die ersten dunklen Flecken abzeichnen. «Aber eigentlich ist es keine gute Idee», er baut Spannung auf, um auf eine Pointe hinzuweisen, «so viele Entscheidungsträger von Politik und Wirtschaft auf einem Boot zu versammeln.»

Eine schlechte Nachricht hat Klauser noch: Das Schiff kann nicht bis nach Stein am Rhein fahren. Wir müssen vorher, nach drei Vierteln der Strecke, umkehren, weil der Fluss zu wenig tief ist.

Eine gewaltige Masse von Sand und Muscheln, ein bis eineinhalb Meter hoch und zweihundert Meter lang, liegt im Rhein. Viele der Muscheln sind abgestorbene Quagga, eine invasive, sehr anpassungsfähige Art, die wegen der Erderwärmung die einheimischen Muscheln verdrängt. Die Quagga hat den Grund des Bodensees inzwischen beinahe verstopft. Sie frisst den Fischen die Nahrung weg, und es ist laut Fachleuten nur eine Frage der Zeit, bis das Ökosystem des Sees aus dem Gleichgewicht gerät. Das Hochwasser im Frühling schwemmte riesige Lawinen von Muscheln flussabwärts, was die Fahrrinne für die Schiffe verstopfte.

Der Chef des Schifffahrtsunternehmens sagte in einem Beitrag des Schweizer Fernsehens, man verliere deswegen jeden Tag 10 000 Franken.

Was der Chef nicht sagte: Es ist der zweitwärmste August seit Beginn der Messungen im Jahr 1871, wie auch der ganze Sommer zu den zehn wärmsten überhaupt gehört. Die Hochwasser werden in den nächsten Jahren zunehmen, die Wucherungen von Muscheln auch, und dann wiederum wird der Wasserstand sinken, die Hitze brennender werden, eine kontinuierliche Zunahme von klimatischen Extremen. An Bord der MS Arenenberg sind die Temperaturen ins Unerträgliche gestiegen, und es geht jetzt um das Thema «Umgang mit Risiken – Last oder auch Chance?». Drei Redner sind angekündigt.

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Bernhard Klauser bittet die Gäste nach unten, in den Bauch des Schiffs. Durch eine breite Fensterfront brennt die Sonne wie eine unendlich grosse Schweissanlage. Vereinzelte Versuche, nur knapp auf dem Stuhl zu sitzen, den Rücken weg von der Lehne, um die Schweisszone möglichst klein zu halten. Die Vorträge beginnen.

Dr. Aldo Schellenberg, ehem. stv. Chef der Schweizer Armee, erzählt vom 1. Juli 2002, als zwei Flugzeuge bei Überlingen in der Nähe des Bodensees zusammenstiessen. 71 Menschen starben. Schuld am Unglück waren Angestellte der Flugsicherheitsfirma Skyguide. Dort hat Ex-Kommandant Schellenberg jetzt einen Posten als Verwaltungsrat, und er rapportiert, wie Skyguide nach dem Unglück die ganze Firma total reformierte. Man habe eine Kultur geschaffen, die Angestellte dazu anrege, Fehler zu melden. «Denn», so geht die Kernaussage von Ex-Kommandant Schellenberg, «den Umgang mit Risiken kann man trainieren!» Der Schweiss tropft den Gästen von der Stirn. Die Hemden kleben wie Neoprenanzüge am Rücken. «Wei chi», sagt Ex-Kommandant Schellenberg weiter, «so lautet das chinesische Schriftzeichen für Risiko. Wei bedeutet Gefahr, und Chi bedeutet Chance.» Er macht eine Pause, damit wir das Offensichtliche begreifen. Und dann noch eine letzte Lehre: «Im Ereignisfall muss klar sein, wer führt.»

Dr. Aldo Schellenberg weist den weg. Foto: Noëlle Schönauer

Ein zweiter Mann tritt vor die Gäste. Ein Deutscher namens Christoph Wegener. Er arbeitet bei der SIG, nicht bei der Produktion von Schusswaffen oder Zugwaggons, sondern bei der Verpackung von Getränken. Als Marktverantwortlicher für «Middle East/Africa» sei er zur Erkenntnis gelangt, dass die Konsumenten auch in Krisenzeiten – Krieg, Ölpreisabsacken und so weiter – Milch kaufen würden und keinen juice, das sei ein luxury good, weshalb man auf Milch setzen müsse, und zwar mit den grössten counter parts, grossen etablierten Firmen, als Partner. «Winning with winners» nennt er diese Strategie. Einige Gäste klatschen matt, andere verlassen den Saal Richtung Deck, um ihre klebenden Hemden und Hosen zu lüften. Eine Frau verteilt Flugblätter dieses Anlasses, die nun als Fächer benutzt werden.

Der dritte Redner – Stefan Mettler, Cryptron Security – bezeichnet sich als Penetration Tester, englisch ausgesprochen, PT, das heisst, er schaut, ob er in der Informatik eines Unternehmens Schwachstellen findet und dringt dort ein. Natürlich nur mit Erlaubnis und gegen Bezahlung. Nachdem der PT ein paar gross angelegte Cyberattacken auf Unternehmen aufgezählt hat – Stichwort volkswirtschaftlicher Schaden in Milliardenhöhe –, rät er abschliessend: «Definieren Sie die Rolle im Unternehmen, die zuständig ist für die Gesamtsicherheit. Trennen Sie den Empfangs-PC vom Maschinenpark oder vom Netzwerk mit den Kundendaten oder vom System, das die Brennstäbe im Atomreaktor reguliert. Haben wir alles schon gesehen.»

Aus dem Publikum kommt kaum eine Frage. Nach ein paar weiteren quälenden, tropfenden Minuten werden die Gäste aus dem Schiffsbauch entlassen.


Im Bauch des Schiffs, wo drei Redner übers Thema «Risiken» sprechen. Foto: Noëlle Schönauer

«Ich komme mir wie ein Zopf vor, den man gerade aus dem Backofen gezogen hat», sagt Peter Scheck, der SVP-Politiker mit der Elektrozigarette, als er die Treppe nach oben nimmt. Alle flüchten nach draussen. Auf dem Deck werden Getränke und Essen serviert.

In der Nähe des Hecks unterhält sich Regierungspräsident Patrick Strasser mit ein paar Beamten. Ich frage ihn: Was passiert eigentlich, wenn eine Cyberattacke alle Systeme in Schaffhausen lahmlegt? Wer führt?

«Da müssen Sie den Vogelsanger fragen», sagt Regierungspräsident Strasser abwehrend. «Der ist für Krisen zuständig.»

Regierungsrat Walter Vogelsanger steht ein paar Meter neben uns, und wir bitten ihn, Stellung zu nehmen. «Wir sollten lieber über eine gute Fehlerkultur reden», sagt er, und er sagt es mit der tiefsten Gelassenheit, zu der ein Politiker gemäss Politikerkodex überhaupt befähigt ist, als Amtsträger nämlich, der nicht mehr zu den Wahlen angetreten ist und nun seine letzten Monate im Amt verbringt.

«Er gibt wenigstens zu, wenn ein Fehler passiert ist!», ruft ein hochrangiger Beamter dazwischen.

«Schreiben Sie was über Fehlerkultur», wiederholt Vogelsanger.

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Die Sonne senkt sich über den Wäldern am Flussufer. Kühle Luft weht über die aufgeheizten Körper. Die Gesellschaft entspannt sich und holt die nächsten Gläser Wein oder Bier. Dann, kurz vor der Hemishofer Brücke, einige Kilometer vor Stein am Rhein, muss das Schiff wenden. Einige Meter flussaufwärts steht ein Bagger auf einem ankernden Transportschiff. Mit grossen Armzügen hebt er die Masse an Muscheln aus, die dem Schiff den Weg versperrt.

Es entspricht wohl den gesellschaftlichen Gepflogenheiten unserer Zeit, ganze Staaten wie ein Unternehmen führen zu wollen, echte Probleme an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik zu lösen, damit man ein paar Deregulierungen in die Programme der Regierung schreiben kann und sich nicht mit Fantasieproblemen wie der Umwelt befassen muss.

Die MS Arenenberg transportiert eine Gesellschaft, die sich nur für echte Probleme interessiert – Fantasieprobleme gibt es vielleicht in der Sahelzone oder im indonesischen Regenwald, aber hier stellen wir einen Bagger in die Flussmitte. Die einzige Unvollständigkeit liegt darin, dass wir die ausgehobene Masse nicht ins Ausland verkaufen.

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Giorgio Behr, der wachsame, schnauztragende Erfinder dieser Schiffsfahrt, geht übers Deck, seine nächsten Gesprächspartner ins Visier nehmend, in der Hand eine Glasschüssel mit Teigwaren. Sein Kontrollblick erwischt mich, und er stellt ein paar Fragen zur Arbeit, ohne eine wirkliche Antwort zu erwarten. Bald berichtet er von seinem Handballklub, von seinen Schweizermeistertiteln, vom Wirtschaftsverband, vom Bundesamt für Umweltschutz, dessen Beamte völlig falsche Annahmen von der lokalen Tierwelt machten, vom Schaffhauser Spital, dessen Neubau sich seit Jahren verzögert und der verkleinert gehört, aufs Wesentliche reduziert, und von seinem Sohn, der jetzt auf der Liste der FDP für den Kantonsrat kandidiert. Fliessend geht es von einem Thema zum nächsten, ohne unnötig Zeit zu verlieren.

«Warum sind Sie eigentlich nie in die Politik eingestiegen?», frage ich.

«Vor Jahrzehnten fragte mich die SP an, ob ich für den Ständerat kandidieren wolle», erwidert Giorgio Behr. Er geniesst die Disruption, die seine Worte unter den Männern auslöst, die sich um uns gruppiert haben. «Meine Tessiner Mutter hätte sich im Grab umgedreht», fährt er fort. Seine Mutter sei eine Liberale gewesen, Liberali Radicali!, wiederholt Behr auf italienisch, und folglich habe er der SP abgesagt. In den Achtzigern sei die FDP auf ihn zugekommen. Er habe gesagt: In Ordnung, schickt mir die Beitrittsunterlagen, aber weil er die Dokumente nie erhalten habe, sei er auch nie Parteimitglied geworden.

«In der Politik geht es Ihnen einfach zu langsam», sage ich.

«Hier haben Sie Ihre Antwort», sagt Giorgio Behr zufrieden, als habe er seinem Schüler alles beigebracht, was er beizubringen weiss.   «So», sagt er und schaut um sich, über die MS Arenenberg und ihre langsam abkühlenden Passagiere, «kannst du viel besser Einfluss nehmen.» Er wirkt nicht so, als habe er geschwitzt. Er wirkt so, als schwitze er nur, wenn er das auch will.